
Frau Präsidentin des Ministerrats und Herr Präsident der Abgeordnetenkammer der Republik Italien, Frau Präsidentin und Herr
Generalsekretär der Interparlamentarischen Union, sehr geehrte Vertreter Akademischer Institutionen und führende Vertreter der Religionen!
Es ist mir eine Freude, dass wir im Kontext der Konferenz der Interparlamentarischen Union während der derzeitigen Heilig-Jahr-Feier der Regierungen zusammentreffen können. Herzlich heiße ich die Mitglieder der Delegationen aus 68 Ländern willkommen und insbesondere die Präsidenten der jeweiligen Parlamentarischen Institutionen.
Politik wurde zu Recht als höchste Form der Nächstenliebe definiert, ich zitiere Papst Pius XI. (Ansprache an die Italienische Föderation Katholischer Universitäten, 18. Dezember 1927). Wenn wir den Dienst bedenken, den das politische Leben der Gesellschaft und dem Gemeinwohl erweist, dann kann es wirklich als Akt christlicher Liebe betrachtet werden, die niemals bloß eine Theorie ist, sondern stets ein konkretes Zeichen und Zeugnis von Gottes beständiger Sorge für das Wohl unserer Menschheitsfamilie (vgl. Franziskus, Enzyklika Fratelli tutti, 176-192).
Diesbezüglich möchte ich am heutigen Vormittag drei Überlegungen mit Ihnen teilen, die mir im aktuellen kulturellen Kontext wichtig zu sein scheinen.
Die erste Überlegung betrifft Ihre Verantwortung, das Wohl der Gemeinschaft, das Gemeinwohl, unabhängig von jeglichem Sonderinteresse zu fördern und zu schützen, insbesondere durch die Verteidigung der Schwachen und Ausgegrenzten. Das würde zum Beispiel bedeuten, sich dafür einzusetzen, das inakzeptable Missverhältnis zwischen dem in der Hand weniger konzentrierten Reichtum und den Armen der Welt zu überwinden (vgl. Leo XIII., Enzyklika Rerum novarum, 15. Mai 1891, 1). Diejenigen, die in Extremsituationen leben, schreien auf, um ihre Stimme zu Gehör zu bringen, aber häufig finden sie niemanden, der bereit wäre, ihre Klage zu hören. Dieses Ungleichgewicht verursacht Situationen anhaltender Ungerechtigkeit, die leicht in Gewalt und früher oder später in die Tragödie des Krieges münden. Gute Politik dagegen kann durch die Unterstützung einer gerechten Verteilung der Ressourcen einen wirksamen Dienst an Harmonie und Frieden anbieten, sowohl innenpolitisch als auch international.
Meine zweite Überlegung bezieht sich auf Religionsfreiheit und interreligiösen Dialog. Dieser Bereich hat in der gegenwärtigen Zeit größere Bedeutung erlangt, und politisches Handeln kann viel erreichen durch den Einsatz für Bedingungen, unter denen echte Religionsfreiheit gegeben ist und sich eine respektvolle und konstruktive Begegnung zwischen verschiedenen Religionsgemeinschaften entwickeln kann. Der Glaube an Gott mit den sich daraus ergebenden positiven Werten ist eine unermessliche Quelle des Guten und der Wahrheit für das Leben der Individuen und Gemeinschaften. Der heilige Augustinus sprach von der Notwendigkeit, von der »amor sui« – der egoistischen, kurzsichtigen und destruktiven Selbstliebe – zur »amor Dei« – der frei geschenkten, großherzigen Liebe, die in Gott gegründet ist und zur Selbsthingabe führt – überzugehen. Dieser Übergang, so lehrte er, ist grundlegend für den Aufbau der »civitas Dei«, einer Gesellschaft deren Grundgesetz die Liebe ist (vgl. De civitate Dei, XIV,28).
Um einen gemeinsamen Bezugspunkt für das politische Handeln zu haben und die Berücksichtigung des Transzendenten in Entscheidungsprozessen nicht von vornherein auszuschließen, wäre es hilfreich, nach einem Element zu suchen, das alle eint. Ein wesentlicher Referenzpunkt ist dabei das Naturrecht, das nicht von Menschenhand geschrieben wurde, sondern zu allen Zeiten und an allen Orten als gültig anerkannt ist und in der Natur selbst sein plausibelstes und überzeugendstes Argument findet. Mit den Worten Ciceros, der schon in der Antike ein maßgeblicher Verfechter dieses Gesetzes war, zitiere ich aus De re publica: »Das wahre Gesetz ist die richtige Vernunft, die mit der Natur im Einklang, universal, beständig und ewig ist, die durch Gebot zur Pflichterfüllung ruft, durch Verbot von Unredlichkeit abschreckt … Diesem Gesetz etwas von seiner Gültigkeit zu nehmen ist Frevel, und es darf ihm nichts abgedungen werden, noch kann es ganz außer Kraft gesetzt werden noch auch können wir durch den Senat oder durch das Volk von diesem Gesetz gelöst werden, noch braucht sein Erklärer und Kommentator gesucht zu werden. Das Gesetz wird nicht anders sein in Rom, anders in Athen, anders jetzt, anders später, sondern alle Völker wird zu aller Zeit das eine Gesetz, ewig und unveränderlich, binden« (III, 22).
Das Naturrecht, das neben und über anderen eher fragwürdigen Überzeugungen universale Gültigkeit hat, bildet den Kompass, an dem wir uns bei der Gesetzgebung und beim Handeln orientieren müssen, insbesondere bei den heiklen und dringenden ethischen Fragen, die heute mehr als früher das persönliche Leben und die Privatsphäre betreffen.
Die am 10. Dezember von den Vereinten Nationen gebilligte und verkündete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte gehört mittlerweile zum kulturellen Erbe der Menschheit. Dieser stets aktuelle Text kann in hohem Maße dazu beitragen, die menschliche Person in ihrer unantastbaren Integrität in den Mittelpunkt der Wahrheitssuche zu stellen und so denjenigen ihre Würde zurückzugeben, die sich in ihrem Innersten und ihren Gewissensentscheidungen nicht respektiert fühlen.
Das führt uns zur dritten Überlegung. Der in unserer Welt erreichte Grad der Zivilisation und die Ihnen gesteckten Ziele werden heute durch die künstliche Intelligenz herausgefordert. Diese Entwicklung wird sicherlich eine große Hilfe für die Gesellschaft sein, vorausgesetzt dass ihr Einsatz nicht die Identität und Würde des Menschen und seine grundlegenden Freiheiten untergräbt. Insbesondere darf nicht vergessen werden, dass künstliche Intelligenz die Funktion eines auf das Wohl der Menschen ausgerichteten Mittels hat und den Menschen weder herabsetzen noch ersetzen soll. Was sich abzeichnet, ist in der Tat eine große Herausforderung, die hohe Aufmerksamkeit und Weitsicht erfordert, um auch im Rahmen neuer Szenarien gesunde, gerechte und gute Lebensstile zu entwickeln, insbesondere zum Wohl der jüngeren Generationen.
Unser persönliches Leben hat einen größeren Wert als jeder Algorithmus und soziale Beziehungen erfordern Entwicklungsräume, die weit über die begrenzten Muster hinausgehen, die eine seelenlose Maschine vorgeben kann. Vergessen wir nicht, dass die künstliche Intelligenz zwar in der Lage ist, Millionen von Datenpunkten zu speichern und viele Fragen in Sekundenschnelle zu beantworten, aber dennoch über ein »statisches Gedächtnis« verfügt, das in keiner Weise mit dem des Menschen vergleichbar ist. Unser Gedächtnis hingegen ist kreativ, dynamisch, generativ und in der Lage, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einer lebendigen und fruchtbaren Sinnsuche zu vereinen, mit allen ethischen und existenziellen Implikationen, die dies mit sich bringt (vgl. Franziskus, Ansprache beim G7-Gipfel über künstliche Intelligenz, 14. Juni 2024).
Die Politik kann eine Herausforderung dieser Größenordnung nicht ignorieren. Sie ist im Gegenteil dazu aufgerufen, den zahlreichen Bürgern Rede und Antwort zu stehen, die zu Recht sowohl mit Vertrauen als auch mit Sorge auf die Fragen blicken, die diese neue digitale Kultur aufwirft.
Zum Großen Jubiläum des Jahres 2000 hat der heilige Johannes Paul II. die politischen Führungspersönlichkeiten auf den heiligen Thomas Morus hingewiesen – als zu verehrenden Zeugen sowie als Fürsprecher, unter dessen Schutz sie ihre Arbeit stellen können. Sir Thomas More war ein Mann, der seine zivilen Verantwortlichkeiten treu erfüllte, ein vollkommener Diener des Staates, gerade aufgrund seines Glaubens, der ihn dazu führte, Politik nicht als Beruf zu sehen, sondern als eine Mission zur Verbreitung der Wahrheit und des Guten. Er stellte »sein öffentliches Wirken in den Dienst der Person, besonders wenn es sich um schwache oder arme Menschen handelte; er führte die sozialen Auseinandersetzungen mit einem besonderen Sinn für Gerechtigkeit; er schützte die Familie und verteidigte sie mit unermüdlichem Einsatz; er förderte die umfassende Erziehung der Jugend« (Apostolisches Schreiben E Sancti Thomae Mori, 31. Oktober 2000, 4). Den Mut, den er in seiner Bereitschaft bewies, eher sein Leben zu opfern als die Wahrheit zu verraten, macht ihn zu einem Märtyrer für die Freiheit und für den Primat des Gewissens, auch für uns heute. Möge sein Vorbild eine Quelle der Inspiration und der Orientierung für einen jeden von Ihnen sein!
Sehr geehrte Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihren Besuch. Ich bete für Sie, wünsche Ihnen alles Gute für Ihre Arbeit und erbitte für Sie und Ihre Lieben Gottes reichen Segen.
Vielen Dank an Sie alle. Gottes Segen für Sie und Ihre Arbeit. Danke.
(Orig. engl.; ital. in O.R. 21.6.2025)