· Vatikanstadt ·

Audienz für die Mitglieder der Stiftung »Centesimus Annus Pro Pontifice«

Wissenschaft und Gewissen in Dialog bringen

 Wissenschaft und Gewissen in Dialog bringen  TED-021
30. Mai 2025

[Der Heilige Vater begann mit einem Gruß auf Englisch]: Guten Morgen an alle! [und fuhr dann auf Italienisch fort]: Guten Tag!

Liebe Brüder und Schwestern,

herzlich willkommen!

Ich danke dem Präsidenten und den Mitgliedern der Stiftung »Centesimus Annus Pro Pontifice« und begrüße euch alle, die ihr an der jährlichen internationalen Konferenz und Vollversammlung teilnehmt.

Das Thema eurer diesjährigen Konferenz – »Polarisierungen überwinden und globale Governance neu gestalten: Ethische Grund-lagen« – geht mitten hinein in die Bedeutung und die Rolle der Soziallehre der Kirche als Mittel des Friedens und des Dialogs, um Brücken universaler Geschwisterlichkeit zu bauen. Insbesondere jetzt in der Osterzeit erkennen wir, dass der Auferstandene uns auch dorthin vorausgeht, wo es scheint, dass Unrecht und Tod gesiegt haben. Helfen wir einander, wie ich am Abend meiner Wahl gesagt habe, »Brücken zu bauen, durch den Dialog, durch die Begegnung, damit wir alle vereint ein einziges Volk sind, das dauerhaft in Frieden lebt«. Das lässt sich nicht improvisieren: Es ist eine dynamische und ständige Verknüpfung von Gnade und Freiheit, die wir auch jetzt, indem wir einander begegnen, festigen.

Bereits Papst Leo XIII. – der in einer geschichtlichen Zeit epochaler und bahnbrechender Veränderungen gelebt hat – hatte sich zum Ziel gesetzt, zum Frieden beizutragen, indem er den gesellschaftlichen Dialog zwischen Kapital und Arbeit, zwischen den Technologien und der menschlichen Intelligenz, zwischen den verschiedenen politischen Kulturen, zwischen den Nationen angeregt hat. Papst Franziskus hat den Ausdruck »Polykrise« verwendet, um auf die Dramatik der historischen Situation zu verweisen, in der wir uns derzeit befinden und in der Kriege, Klimawandel, zunehmende Ungleichheiten, erzwungene und bekämpfte Migration, stigmatisierte Armut, bahnbrechende technologische Innovationen, prekäre Arbeits- und Rechtslagen zusammentreffen.1 Zu Fragen von so großer Tragweite ist die Soziallehre der Kirche aufgerufen, Interpretationsschlüssel zu liefern, die Wissenschaft und Gewissen in Dialog bringen und so einen grundlegenden Beitrag zur Erkenntnis, zur Hoffnung und zum Frieden leisten.

Denn die Soziallehre erzieht uns dazu zu erkennen, dass wichtiger als die Probleme oder die Antworten darauf die Weise ist, wie wir ihnen begegnen, mit Bewertungskriterien und ethischen Grundsätzen und mit der Offenheit gegenüber der Gnade Gottes.

Ihr habt die Möglichkeit zu zeigen, dass die Soziallehre der Kirche, mit ihrem eigenen anthropologischen Blick, einen wahren Zugang zu den gesellschaftlichen Problemen fördern will: Sie will nicht die Fahne hochhalten, im Besitz der Wahrheit zu sein, weder bezüglich der Untersuchung der Probleme noch ihrer Lösung. Bei diesen Fragen ist es wichtiger, sich annähern zu können als eine übereilte Antwort darauf zu geben, warum etwas geschehen ist oder wie man es überwinden kann. Das Ziel ist zu lernen, sich den Problemen zu stellen, die immer verschieden sind, denn jede Generation ist neu, mit neuen Herausforderungen, neuen Träumen, neuen Fragen.

Wir haben hier einen grundlegenden Aspekt für den Aufbau einer »Kultur der Begegnung« durch den Dialog und die soziale Freundschaft. Für die Sensibilität vieler unserer Zeitgenossen klingen das Wort »Dialog« und das Wort »Lehre« gegensätzlich, unvereinbar. Vielleicht kommt uns, wenn wir das Wort »Lehre« hören, die klassische Definition in den Sinn: eine Gesamtheit der Ideen, die einer Religion zu eigen sind. Und mit dieser Definition fühlen wir uns wenig frei nachzudenken, in Frage zu stellen oder neue Alternativen zu suchen.

Daher wird es zur vordringlichen Aufgabe, durch die Soziallehre der Kirche zu zeigen, dass es eine weitere und vielversprechende Bedeutung des Ausdrucks »Lehre« gibt, ohne die auch der Dialog leer wird. Seine Synonyme können »Wissenschaft«, »Disziplin« oder »Wissen« sein. So verstanden erkennt jede Lehre sich selbst als Frucht der Forschung und daher von Hypothesen, Stimmen, Fortschritten und Misserfolgen, durch die sie versucht,
eine verlässliche, geordnete und systematische Erkenntnis über eine bestimmte Frage weiterzugeben. Auf diese Weise ist eine Lehre nicht gleichbedeutend mit einer Meinung, sondern mit einem gemeinsamen, zusammen beschrittenen und sogar multidisziplinären Weg zur Wahrheit.

Indoktrinierung ist unmoralisch, verhindert das kritische Urteil, greift die heilige Freiheit des eigenen Gewissens an – auch wenn dieses irrt –, und verschließt sich neuen Überlegungen, weil sie die Bewegung, die Veränderung oder die Weiterentwicklung der Ideen angesichts neuer Probleme ablehnt. Die Lehre als ernsthafte, ruhige und strenge Reflexion dagegen soll uns an zunächst einmal lehren, uns den Situationen und in erster Linie den Menschen anzunähern. Außerdem hilft sie uns bei der Formulierung des klugen Urteils. Ernsthaftigkeit, Strenge, Ruhe ist das, was wir von jeder Lehre lernen müssen, auch von der Soziallehre.

Im Kontext der derzeit stattfindenden digitalen Revolution muss der Auftrag, zum kritischen Sinn zu erziehen, neu entdeckt, zum Ausdruck gebracht und gepflegt werden, indem man den entgegengesetzten Versuchungen widersteht, die auch den Leib der Kirche durchdringen können. Es gibt wenig Dialog um uns herum, und es herrschen Worte vor, die geschrien werden, nicht selten die »Fake News« und die irrationalen Thesen einiger weniger rechthaberischer Menschen. Grundlegend sind daher die Vertiefung und das Studium und ebenso die Begegnung und das Hören auf die Armen, den Schatz der Kirche und der Menschheit, Träger ausgesonderter Gesichtspunkte, aber unverzichtbar, um die Welt mit den Augen Gottes zu sehen. Wer weit entfernt von den Machtzentren geboren wird und aufwächst, darf nicht einfach in der Soziallehre der Kirche unterwiesen werden, sondern muss als ihr Fortsetzer und Aktualisierer anerkannt werden: Die Zeugen des sozialen Engagements, die Volksbewegungen und die verschiedenen katholischen Arbeiterorganisationen sind Ausdruck der existenziellen Randgebiete, in denen die Hoffnung widersteht und stets neu aufkeimt. Ich lege euch ans Herz, den Armen das Wort zu geben.

Meine Lieben, wie das Zweite Vatikanische Konzil sagt, »obliegt der Kirche allzeit die Pflicht, nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten. So kann sie dann in einer jeweils einer Generation angemessenen Weise auf die bleibenden Fragen der Menschen nach dem Sinn des gegenwärtigen und des zukünftigen Lebens und nach dem Verhältnis beider zueinander Antwort geben« (Pastorale Konstitution Gaudium et spes, 4).

Ich lade euch daher ein, euch aktiv und kreativ an dieser Übung der Unterscheidung zu beteiligen und dazu beizutragen, die So-ziallehre der Kirche zusammen mit dem Gottesvolk weiterzuentwickeln, in dieser geschichtlichen Periode großer gesellschaftlicher Umwälzungen, indem ihr allen Gehör schenkt und mit ihnen sprecht. Es gibt heute ein weit verbreitetes Bedürfnis nach Gerechtigkeit, eine Nachfrage nach Vaterschaft und nach Mutterschaft, einen tiefen Wunsch nach Spiritualität, vor allem von Seiten der Jugendlichen, der ausgegrenzten Menschen, die nicht immer wirksame Kanäle finden, um sich auszudrücken. Es gibt eine wachsende Nachfrage nach der Soziallehre der Kirche, auf die wir Antwort geben müssen.

Ich danke euch für euren Einsatz und für euer Gebet für meinen Dienst, und ich segne von Herzen euch alle, eure Familien und eure Arbeit. Danke!

Fußnote

 1 Botschaft von Papst Franziskus an die Teilnehmer der Vollversammlung der päpstlichen Akademie für das Leben, 3. März 2025.

(Orig. ital. in O.R. 17.5.2025)