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Kardinal Luis Antonio Tagle im Interview mit den Vatikanmedien

Die Gemeinschaft der Herzen und des Geistes ist möglich, wenn wir den wahren Gott anbeten

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23. Mai 2025

In der Sixtinischen Kapelle saßen sie beim Konklave nebeneinander, ein Kardinal mit US-amerikanischem sowie peruanischem Pass und ein Kardinal aus den Philippinen. Am 16. Mai, eine Woche nach dem »Habemus Papam«, haben sie sich erneut getroffen: Papst Leo XIV. empfing den Pro-Präfekten des Dikasteriums für die Evangelisierung im Apostolischen Palast in Audienz. Sie kennen sich seit langem, seit Prevosts Zeit als Generaloberer der Augustiner, und haben in den letzten beiden Jahren als Leiter ihrer jeweiligen Dikasterien, dem Dikasterium für die Bischöfe und dem für die Evangelisierung, eng zusammengearbeitet. Kardinal Luis Antonio Tagle spricht im Interview mit den Vatikanmedien über seine Erfahrungen beim Konklave und denkt über die ersten Schritte des neuen Papstes nach. Außerdem widmet er Papst Franziskus, knapp einen Monat nach seinem Tod, ein bewegtes Gedenken.

Von Alessandro Gisotti

Kardinal Tagle, Leo XIV. beginnt sein Pontifikat nach einem schnell abgeschlossenen Konklave. Was beeindruckt Sie an diesem Papst, den wir alle jetzt kennenlernen?

Kardinal Tagle: Ich bin Papst Leo XIV. zum ersten Mal in Manila begegnet und in Rom, als er noch Generaloberer des Augustinerordens war. Seit 2023 arbeiten wir gemeinsam an der Römischen Kurie. Er hat die Gabe des tiefen und geduldigen Zuhörens. Bevor er eine Entscheidung trifft, widmet er sich einem aufmerksamen Studium und Nachdenken über die Frage. Er bringt seine Haltung und Meinung zum Ausdruck, ohne sie aufzwingen zu wollen. Er bringt eine hohe intellektuelle und kulturelle Bildung mit, ohne sie zur Schau zu stellen. In die Beziehungen bringt er eine freundliche Wärme ein, verfeinert durch das Gebet und missionarische Erfahrung.

Im Vorfeld des Konklaves sprachen viele von einer gespaltenen Kirche, von Kardinälen, die hinsichtlich der Wahl des neuen Papstes keine klaren Vorstellungen gehabt hätten. Und doch geschah die Wahl bereits am zweiten Tag. Wie haben Sie das Konklave erlebt, Ihr zweites nach dem von 2013?

Kardinal Tagle: Vor großen Ereignissen mit globalen Auswirkungen gibt es immer unterschiedliche Spekulationen, Analysen und Vorhersagen. Das Konklave wird davon nicht verschont. Es ist wahr, dass ich an zwei Konklaven teilgenommen habe, was ich als echte Gnade empfinde. Beim Konklave im Jahr 2013 war Benedikt XVI. noch am Leben, während beim Konklave 2025 Papst Franziskus bereits in das ewige Leben eingegangen war. Wir müssen den unterschiedlichen Kontext und eine andere Atmosphäre berücksichtigen. Jedes der beiden Konklave war eine einzigartige, unwiederholbare Erfahrung, aber ich würde hinzufügen, dass es einige konstante Aspekte gab. 2013 fragte ich mich, warum wir während des Konklaves das Chorgewand tragen sollten. Dann habe ich gelernt und selbst erfahren, dass das Konklave ein liturgisches Ereignis ist, eine Zeit und ein Ort des Gebets, des Hörens auf das Wort Gottes, auf die Impulse des Heiligen Geistes, auf das Seufzen der Kirche, der Menschheit und der Schöpfung, eine Zeit persönlicher und gemeinschaftlicher Läuterung der Motivation sowie des Gottesdienstes und der Anbetung Gottes, dessen Wille über allem herrschen muss. Sowohl Papst Franziskus als auch Papst Leo wurden am zweiten Tag gewählt. Das Konklave lehrt uns, und auch unsere Familien, Pfarreien, Diözesen und Nationen, dass die Gemeinschaft der Herzen und des Geis-tes möglich ist, wenn wir den wahren Gott anbeten.

In der Sixtinischen Kapelle saßen Sie neben Kardinal Prevost. Wie hat der zukünftige Papst reagiert, als das Quorum der Zweidrittelmehrheit erreicht war?

Kardinal Tagle: Seine Reaktion bestand abwechselnd aus Lächeln und tiefen Atemzügen. Es war heilige Annahme und heilige Furcht zugleich. Ich habe still für ihn gebetet. In dem Augenblick, als die notwendige Stimmenzahl erreicht war, gab es stürmischen Applaus, ähnlich wie bei der Wahl von Papst Franziskus. Die Kardinäle haben ihrem Mitbruder Kardinal Prevost ihre Freude und Dankbarkeit zum Ausdruck gebracht. Aber es war auch ein sehr vertrauter Moment zwischen ihm und Jesus, in den wir nicht eindringen konnten und den wir nicht stören durften. Ich habe zu mir selbst gesagt: »Lassen wir zu, dass heilige Stille Jesus und Petrus umfängt.«

Nach einem Sohn des heiligen Ignatius ein Sohn des heiligen Augustinus. Was bedeutet es Ihrer Meinung nach, dass zwei Päpste aufeinanderfolgen, die bedeutenden Orden angehören, nach einem Jesuiten ein Augus-tiner?

Kardinal Tagle: Der heilige Augustinus und der heilige Ignatius hatten viele Gemeinsamkeiten. Beide hatte eine weltliche Karriere und haben die Unruhe erlebt, die sie zu einer abenteuerlichen Suche drängte. Dann, in der von Gott bestimmten Zeit, haben sie in Jesus das gefunden, wonach sich ihr Herz sehnte. »Schönheit, so alt und doch immer neu.« »Ewiger Herr aller Dinge.« Die augustinische und die ignatianische »Schule« entstehen auf derselben Grundlage der Gnade und Barmherzigkeit Gottes, der das Herz frei macht für die Liebe, das Dienen und die Mission. Papst Leo wird seinen augustinischen Geist beibehalten, aber er wird auch den ignatianischen Geist von Papst Franziskus anklingen lassen. Ich denke, dass die gesamte Kirche und auch die ganze Menschheit von ihren Gaben profitieren kann. Schließlich sind der heilige Augustinus und der heilige Ignatius (und alle Heiligen) der Schatz der ganzen Kirche.

Prevost war ein Missionsbischof, der in den Vereinigten Staaten geboren wurde und aufgewachsen ist. Aber seine Formung als Pries-ter und Hirte hat er in Peru erhalten. Jemand hat gesagt, dass er ein »Papst zweier Welten« ist. Wie sehen die Menschen in Asien, wo Sie herkommen, eine solchen Papst?

Kardinal Tagle: Ohne den Vorrang der Gnade im Amt von Papst Leo zu vernachlässigen, glaube ich, dass seine menschliche, kulturelle, religiöse und missionarische Ausbildung seinem Amt ein einzigartiges Gesicht geben kann. Aber das gilt für alle Päpste. Das Petrusamt, das darin besteht, die Brüder und Schwestern im Glauben an Jesus, den Sohn des lebendigen Gottes, zu bestärken, bleibt konstant, wird aber von jedem Papst in seiner einzigartigen Menschlichkeit gelebt und ausgeübt. Die multikontinentale und multikulturelle Erfahrung von Papst Leo wird ihm in seinem Amt sicherlich helfen und der Kirche zugute kommen. Die Menschen in Asien lieben den Papst als Papst, unabhängig davon, aus welchem Land er kommt. Er wird nicht nur von Katholiken geliebt, sondern auch von anderen Christen und Anhängern nichtchristlicher Religionen.

Viele haben für Sie »geworben« und gehofft, dass Sie Papst werden würden. Wie haben Sie das erlebt? War es Ihnen bewusst, dass Sie, wie man auf Italienisch sagt, einer der »papabili« waren, einer der Spitzenkandidaten für das Papstamt?

Kardinal Tagle: Da ich nicht gerne im Rampenlicht stehe, fand ich die Aufmerksamkeit, die meiner Person zuteil wurde, eher beunruhigend. Ich habe mich bemüht, meine geistigen und menschlichen Kräfte zu sammeln, um mich da nicht hineinziehen zu lassen. Ich habe viel über die Worte der Apos-tolischen Konstitution Universi Dominici gregis nachgedacht, wo von der »schwerwiegende Aufgabe« die Rede ist, »die ihnen [den Kardinälen] obliegt«, und von der »Notwendigkeit, mit rechter Gesinnung zum Wohl der universalen Kirche zu handeln, solum Deum prae oculis habentes«. Bei der Abgabe des Stimmzettels sagt jeder Kardinal: »Ich rufe Christus, der mein Richter sein wird, zum Zeugen an, dass ich den gewählt habe, von dem ich glaube, dass er nach Got-tes Willen gewählt werden sollte.« Es ist klar, dass es keine Kandidaten im »weltlichen Sinne« politischer Wahlen gibt, bei denen die Stimme für einen Kandidaten eine Stimme gegen einen anderen Kandidaten ist. Wenn man das Wohl der Weltkirche anstrebt, sucht man nicht nach Gewinnern und Verlierern. Dieses Leitprinzip läutert den Geist und verleiht Gelassenheit.

Bald wird seit dem Tod von Papst Franziskus ein Monat vergangen sein. Was wird Ihrer Meinung nach das tiefgreifende und dauerhafte Vermächtnis sein, dass dieser Papst der Kirche und der Menschheit hinterlassen hat?

Kardinal Tagle: Mein Herz freut sich über die vielen Zeugnisse, die katholische Gläubige, nichtkatholische christliche Gemeinschaften und Angehörige nichtchristlicher Religionen in Bezug auf die Lehre und das Vermächtnis von Papst Franziskus geben. Ich hoffe, dass diese Zeugnisse zunehmen und »gesammelt« werden können, als Teil unseres Verständnisses nicht nur von Papst Franziskus, sondern auch des Petrusamtes. Ich für meinen Teil möchte das Geschenk der Menschlichkeit, des Anderen gegenüber Menschlich-Seins hervorheben, das das Pontifikat von Papst Franziskus ausgezeichnet hat. Wenn ihr eine persönliche Geschichte über ihn zu erzählen habt, dann tut es. Unsere Welt muss die Schönheit und den Wert des authentischen Menschseins wiederentdecken und kultivieren. Papst Franziskus hat durch seine einfache und sogar gebrechliche Menschlichkeit einen immensen Beitrag zu diesem Bemühen geleistet, nicht zu seinem eigenen Ruhm, sondern zum größeren Ruhm Gottes, der in Jesus ganz Mensch geworden ist.