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Der Papst der Barmherzigkeit

 Der Papst der Barmherzigkeit  TED-017
02. Mai 2025

Von Andrea Tornielli,
Chefredakteur der Vatikanmedien

»Die Barmherzigkeit Gottes ist unsere Befreiung und unsere Glückseligkeit. Wir leben von der Barmherzigkeit und dürfen uns nicht erlauben, ohne Barmherzigkeit zu sein: Sie ist die Luft zum Atmen. Wir sind zu arm, um Bedingungen zu stellen, wir müssen vergeben, weil wir Vergebung empfangen müssen.« Wenn es eine Botschaft gibt, die mehr als alle anderen kennzeichnend war für das Pontifikat von Franziskus und die dazu bestimmt ist zu bleiben, dann ist es die Botschaft der Barmherzigkeit. Der Papst ist plötzlich von uns gegangen, nachdem er an Ostern von der Mittelloggia des Petersdoms aus den letzten Segen »Urbi et orbi« erteilt hatte, und auch nach der letzten Fahrt durch die Menge, um zu grüßen und zu segnen.

Sehr viele Themen hat der erste argentinische Papst der Kirchengeschichte behandelt, insbesondere die Aufmerksamkeit für die Armen, die Geschwisterlichkeit, die Sorge für das gemeinsame Haus, das entschiedene, uneingeschränkte Nein zum Krieg. Aber das Herz seiner Botschaft, die Botschaft mit der größten Reichweite, ist sicherlich der vom Evangelium inspirierte Hinweis auf die Barmherzigkeit, auf jene Nähe und Zärtlichkeit Gottes gegenüber denen, die spüren, dass sie seine Hilfe brauchen. Barmherzigkeit als »Luft zum Atmen«, das heißt das, was wir am dringendsten brauchen, ohne die wir nicht leben könnten.

Das gesamte Pontifikat von Jorge Mario Bergoglio stand im Zeichen dieser Botschaft, die das Herz des Christentums ist. Seit dem ersten Angelus am 17. März 2013 am Fens-ter des päpstlichen Appartements, das er nie bewohnen sollte, sprach Franziskus über die zentrale Bedeutung der Barmherzigkeit. Dabei erinnerte er an die Worte einer betagten Frau, die gekommen war, um bei ihm, dem neuen Weihbischof in Buenos Aires, zu beichten: »Der Herr vergibt alles… Wenn der Herr nicht alles vergäbe, gäbe es die Welt nicht.«

Der »vom Ende der Welt« gerufene Papst hat die Lehre der zweitausendjährigen christlichen Tradition nicht geändert, aber indem er die Barmherzigkeit neu in den Mittelpunkt seines Lehramtes stellte, hat der bei vielen die Wahrnehmung der Kirche verändert. Er bezeugte das mütterliche Antlitz einer Kirche, die sich über die Verwundeten beugt, vor allem über die von der Sünde verwundeten Menschen. Eine Kirche, die den ersten Schritt auf den Sünder zugeht, so wie es Jesus in Jericho getan hat, als er beim nicht vorzeigbaren und verhassten Zachäus zu Gast sein wollte, ohne etwas zu fordern, ohne Bedingungen. Und weil Zachäus sich zum ersten Mal auf diese Weise gesehen und geliebt fühlte, erkannte er, dass er ein Sünder war, und fand in jenem Blick des Nazareners den Impuls zur Bekehrung.

Vor 2.000 Jahren nahmen viele Anstoß daran, dass der Meister gerade das Haus des Zöllners von Jericho betrat. Viele haben in diesen Jahren Anstoß genommen an den Ges-ten der Annahme und Nähe des argentinischen Papstes gegenüber allen Personengruppen, besonders gegenüber den »nicht vorzeigbaren« und den Sündern. In einer Predigt hat Franziskus gesagt: »Wie viele von uns würden vielleicht eine Strafe verdienen! Und das zu Recht. Aber er vergibt! Wie? Mit dieser Barmherzigkeit, die die Sünde nicht auslöscht. Es ist die Vergebung Gottes, die sie auslöscht, während die Barmherzigkeit noch darüber hinaus geht. Sie ist wie der Himmel: Wir sehen den Himmel mit vielen Sternen, aber wenn am Morgen die Sonne aufgeht, dann kann man vor lauter Licht die Sterne nicht mehr sehen. So ist die Barmherzigkeit Gottes: ein großes Licht der Liebe, der Zärtlichkeit, weil Gott nicht per Dekret vergibt, sondern mit einer Liebkosung.«

In seinem ganzen Pontifikat hat der 266. Nachfolger des heiligen Petrus das Gesicht einer nahen Kirche gezeigt, die in der Lage ist, Erbarmen und Mitleid zu bezeugen, indem sie alle annimmt und umarmt, auch wenn sie dafür etwas riskiert und ohne sich um die Reaktion der Konformisten zu sorgen. So hatte er in Evangelii gaudium, dem »Leitfaden« seines Pontifikats geschrieben: »Mir ist eine ›verbeulte‹ Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Straßen hinausgegangen ist, lieber, als eine Kirche, die aufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrer Bequemlichkeit, sich an die eigenen Sicherheiten zu klammern, krank ist.« Eine Kirche, die ihr Vertrauen nicht in die menschlichen Möglichkeiten, den Protagonismus selbstbezogener Influencer oder Strategien des religiösen Marketings setzt, sondern die transparent ist, um das barmherzige Antlitz dessen bekannt zu machen, der sie gegründet hat und sie trotz allem seit 2.000 Jahren am Leben erhält.

Dieses Gesicht und diese Umarmung sind es, die so viele im betagten Bischof von Rom, der aus Argentinien gekommen war, wiedererkannt haben, der sein Pontifikat in Lampedusa mit einem Gebet für die ertrunkenen Migranten begonnen hatte und es im Rollstuhl beendete, indem er sich bis zum letzten Augenblick hingab, um der Welt die barmherzige Umarmung eines nahen und treuen Gottes zu bezeugen, der alle seine Geschöpfe liebt.

(Orig. ital. in O.R. 21.4.2025)