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Interview mit Kurienmitarbeiterin Gabriella Gambino zum 30. Jahrestag der Enzyklika »Evangelium vitae«

Die weitsichtige Intuition von Johannes Paul II.

 Die weitsichtige Intuition von Johannes Paul II.  TED-013
04. April 2025

Johannes Paul II. habe vorausgesehen, dass die schwersten Verstöße gegen das Lebensrecht der Schwächsten letztlich der Ausdruck einer pervertierten Vorstellung von Freiheit seien, die das Verbrechen zum Recht mache, sagt Gabriella Gambino, Untersekretärin des Dikasteriums für die Laien, die Familie und das Leben. Im Interview mit Dorota Abdelmoula-Viet, Redakteurin von Vatican News, betont sie, dass die Zeit für die Kirche gekommen sei, eine echte Pastoral zugunsten des menschlichen Lebens aufzubauen:

Dreißig Jahre sind seit der Veröffentlichung der Enzyklika Evangelium vitae, einem Grundpfeiler der Lehre der Kirche über die Heiligkeit des menschlichen Lebens, vergangen. Wie hat dieses Dokument die Kirche beeinflusst und beeinflusst sie weiterhin? Ist es heute noch ein Bezugspunkt?

Evangelium vitae (EV) ist ein Grundpfeiler der christlichen Lehre über den unveräußerlichen Wert jedes menschlichen Lebens. Johannes Paul II. hatte vorausgesehen, dass die schwerwiegenden Verstöße gegen das Lebensrecht der Schwächsten, der Kleinen, der Gebrechlichen, nur der Ausdruck einer pervertierten Vorstellung von Freiheit sind, die das Verbrechen in ein Recht verwandelt und die Fähigkeit des Menschen verdunkelt, zu verstehen, dass wahre Freiheit eine solche ist, wenn sie Verantwortung für das Leben des Bruders oder der Schwester an unserer Seite übernehmen kann.

Es ist kein Zufall, dass die Enzyklika mit der Frage Gottes an Kain beginnt: »Was hast du getan?«

Auch heute noch klingt diese Frage im aktuellen Lehramt an, von Evangelii gaudium bis Dignitas infinita: Die schwerwiegenden Formen der Verletzung des menschlichen Lebens sind nicht weniger geworden, im Gegenteil. Die Kirche will mehr denn je den Wert des Lebens nachdrücklich bekräftigen und die Gewissen im Sinne dieses Wertes formen, der nicht nur »nicht töten« bedeutet. Es geht dabei auch darum, die Bedingungen zu schaffen, damit jeder Mensch die Fülle des Lebens erlangen kann, zu der er durch Gottes Liebe berufen ist.

Deshalb bringt Dignitas infinita die Botschaft von EV auf den neuesten Stand. Sie erklärt nicht nur, warum die Menschenwürde von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod immer geachtet werden muss, sondern hat den Blick auf gesellschaftliche Situationen erweitert, bei denen wir scheinbar nicht mehr in der Lage sind zu sehen, dass es sich dabei um Verletzungen der Menschenwürde handelt: Ich denke an die unfassbaren Kriege um uns herum, an die neuen Formen von Armut, an die unmenschlichen Leiden von Migranten, an die Gewalt gegen Frauen und Kinder, an den sexuellen Missbrauch auch durch die digitale Welt, der das Leben von Tausenden von Familien verwüstet und zerstört. Erinnern wir uns daran, dass der Wert des Lebens nicht nur ein katholischer Wert ist, sondern ein säkularer, universeller, er steht dem Menschen als solchem zu und jeder kann ihn verstehen und teilen. Und er ist unverfügbar, das heißt, niemand kann über ihn verfügen, nicht einmal derjenige, der ihn besitzt. Heute haben wir Mühe, dies in einer Welt voller Relativismus zu verstehen, der sich in oft ungerechten Gesetzen niederschlägt, und uns im Unklaren darüber lässt, ob jedes menschliche Leben wirklich immer ein Gut ist. Und wir wissen inzwischen, dass sich diese Verwirrung auf die eine oder andere Weise in allen Kulturen, in allen Teilen der Welt zeigt.

Gibt es Vorschläge und konkrete Wege, wie die Kirchen die Botschaft von Evangelium vitae wieder aufgreifen können?

Sicherlich. Es geht um eine erneute Lektüre der Enzyklika zusammen mit Dignitas infinita, die EV bekräftigt und weiterhin eine Tür zur Hoffnung, die wir brauchen, eröffnet: Das Leben siegt, das ist es, was uns das Evangelium lehrt. Aber wir müssen die Gewissen formen, damit die Menschen wirklich »Entscheidungen zugunsten des Lebens« treffen können. Abtreibung, Euthanasie, Gewalt, die Kultur des Aussonderns zerstören die Person, die so entscheidet, und nicht nur diejenigen, die davon betroffen werden; sie erzeugen enormes Leid.

Deshalb ist es an der Zeit, in den Diözesen und Pfarreien eine echte Pastoral zugunsten des menschlichen Lebens aufzubauen und Seelsorger, Erzieher, Lehrer, Eltern und Jugendliche darin zu schulen, das Leben zu achten. Wir dürfen keine Normen aufzwingen, sondern müssen Werte vermitteln und wissen, wie man ihre Wahrheit argumentativ vorträgt, aber auch in ihrer überwältigenden Schönheit zeigt. Wie wichtig ist es, dass die jungen Menschen von heute den Dienst am Leben erfahren, das Geschenk ihrer Zeit an die Bedürftigen: nur so fühlen sie sich nützlich, entdecken einen Sinn in ihrem Leben und dann eine Berufung oder einen Ruf zu einem Beruf, der zu einem Dienst am Leben wird. Wir müssen auch künftige Priester ausbilden, in den Seminaren und danach: damit sie wissen, wie sie junge Menschen und Familien zur Wahrheit und zum Guten führen können; diese Ausbildung ist heute unzureichend im Vergleich zu dem Bedarf an Begleitung, der in der Welt besteht.

Deshalb hat unser Dikasterium gestern, am Vorabend des Jahrestages von EV, eine pas-torale Handreichung mit dem Titel »Das Leben ist immer ein Gut« veröffentlicht, mit Anregungen für die Ortskirchen, um Prozesse in Gang zu setzen und in den Bischofskonferenzen und Diözesen, in denen es Abteilungen für Familie und Leben gibt, eine Pas-toral für das menschliche Leben aufzubauen. Es gibt hier und da Initiativen, aber sie sind oft eher zufällig und sporadisch. Es besteht die Notwendigkeit, ständige Arbeitskreise einzurichten, um ein konkretes und kontinuierliches Engagement für die Ausbildung der Gläubigen zum Schutz und zur Förderung des Lebens und der Würde der Person zu planen. Dieser Jahrestag ist für uns, die Kirche, nicht nur ein feierlicher Anlass, sondern muss eine Gelegenheit für ein entschiedenes kirchliches Handeln für das Leben sein.

Wie wird das Dikasterium die Kirchen bei der Umsetzung dieser Handreichung und der Pastoral zugunsten des menschlichen Lebens begleiten?

In den nächsten Monaten werden wir
Online-Treffen mit den Familien- und Lebenskommissionen der Bischofskonferenzen auf der ganzen Welt organisieren, damit sie sich begleitet fühlen, wenn sie in den Diözesen Planungs- und Strukturierungsprozesse für eine Pastoral zugunsten des Lebens in Gang setzen. Mit der Methode der synodalen Unterscheidung wird jeder in der Lage sein, ausgehend von seiner eigenen kulturellen und sozialen Realität zu arbeiten und Prioritäten in Bezug auf Themen, Ausbildungsmethoden und pastorale Maßnahmen zu setzen. Aus diesem Grund befasst sich die von uns vorgeschlagene Handreichung, die auf der Website des Dikasteriums zu finden ist, nicht mit einzelnen Fragen des Lebens, die das Lehramt ausführlich behandelt hat, sondern schlägt diesmal eine synodale Methode der Unterscheidung vor, um sicherzustellen, dass die »Kultur für das Leben« zu einem ständigen Anliegen wird, um das Leben immer willkommen zu heißen und zu begleiten.

Diese Arbeit ist übrigens nur eine weitere Umsetzung des »Family Global Compact«, der eine Zusammenarbeit zwischen den katholischen Universitäten – die über Forschungs- und Ausbildungsinstitute für Familie und Leben verfügen – und den Diözesen vorsieht, mit dem Ziel, Laien entsprechend den Prioritäten und pastoralen Bedürfnissen der Ortskirchen auszubilden.