
Mit der Resolution 60/7, die am
1. November 2005 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde, wurde der 27. Januar zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocausts erklärt. Dieses Datum wurde gewählt, um an die Befreiung von Auschwitz im Jahr 1945 zu erinnern und die Menschheit zum Nachdenken über die Gräueltaten der Vergangenheit aufzurufen, und Auschwitz wurde gewählt, weil es das größte der von den Nazis errichtete Konzentrations- und Vernichtungslager war. Mehr als 1,1 Millionen Menschen, vor allem Juden, wurden dort ermordet und ihre Leichen eingeäschert. Das Nachdenken über diese schrecklichen Ereignisse soll die Erinnerung an die Vergangenheit wachhalten und als Warnung für die Zukunft dienen.
Paradigma des Bösen
Der von den Nationalsozialisten verübte Völkermord am jüdischen Volk wird aufgrund seines Ausmaßes und seiner Brutalität als ultimatives Paradigma des Bösen angesehen. Es stellt in der bekannten Geschichte den umfangreichsten und schrecklichsten Versuch dar, ein Volk zu vernichten. Die Nazis zerstörten jüdische Friedhöfe, um ihre Geschichte auszulöschen, schlachteten Erwachsene ab, um ihre Gegenwart zu eliminieren, und nahmen Kindern das Leben, um jede Möglichkeit einer Zukunft zu vernichten. Dieser Völkermord war der Punkt, wo zum ersten Mal industrieartige Fabriken mit dem einzigen Ziel gebaut wurden, den Tod von Menschen zu produzieren.
Im Jahr 2010 traf ich mich mehrmals im Monat mit dem damaligen Erzbischof von Bue-nos Aires, dem späteren Papst Franziskus, um ein Buch mit Gesprächen über Themen zu schreiben, die uns am meisten Sorge bereiteten. Als wir über den Holocaust sprachen, sagte Bergoglio: »Die Shoah ist ein Völkermord wie die anderen aus dem 20. Jahrhundert, jedoch mit einer Besonderheit. Ich möchte nicht sagen, dass er in der Bedeutung an erster Stelle steht und die anderen zweitrangig sind, aber es gibt eine Besonderheit, eine götzendienerische Konstruktion gegen das jüdische Volk. Die reine Rasse, der Übermensch, das sie sind Götzen, auf deren Grundlage sich der Nationalsozialismus herausbildete. Das ist nicht nur ein geopolitisches Problem, es ist auch eine religiös-kulturelle Frage. Und jeder getötete Jude war eine Ohrfeige für den lebendigen Gott im Namen der Götzen« (Über Himmel und Erde, Jorge Bergoglio im Gespräch mit dem Rabbiner Abraham Skorka, München 2014, Wilhelm Goldmann Verlag, S. 188).
In den Jahrzehnten nach der Shoah wurde der nationalsozialistische Völkermord sehr, sehr oft von Tyrannen und skrupellosen Führern, auch von Menschen unterschiedlichen Glaubens, trivialisiert. Einige stellten die Zahl von sechs Millionen Opfern in Frage, als ob fünf Millionen oder eine Million nicht auch eine schreckliche Tragödie wären. Andere versuchten, Opfer in Täter zu verwandeln, indem sie Geschichten erzählten, die die Fakten verzerrten, um zu verwirren und zu verschleiern. Wieder andere sympathisierten mit dem Nationalsozialismus und seiner Ideologie des Todes.
Um die Abgründe der Niedertracht der
Shoah zu ergründen, muss man den Zeugnissen und Überlegungen derer zuhören, die in dieser Hölle waren, insbesondere der Dichter. Jizchak Katzenelson (geb. 1886 in der Nähe von Minsk; gest. 1944 in Auschwitz) war ein Dichter, der auf Neuhebräisch und Jiddisch schrieb. Im »Lid funm Ojsgehargetn Jidischn Folk« (»Das Lied vom ausgemordeten jüdischen Volk«) heißt es: »Sie, die jüdischen Kinder, waren die ersten, die umkamen, sie alle, / Fast alle ohne Vater und Mutter, zerfressen von Kälte, Hunger und Ungeziefer / Heilige Messiasse, geheiligt durch den Schmerz … Ach, warum eine solche Strafe? / Warum waren sie die ersten, die in den Tagen des Gemetzels einen so hohen Preis für das Böse zahlten?« (2.-4. November 1943).
Katzenelson und viele andere gehören zu den Stimmen derer, die dort waren, das Grauen sahen und erlitten, die ihre Familien und ihr eigenes Leben in den Gaskammern von Treblinka und Auschwitz verloren.
In diesem Jahr jährt sich die Befreiung der Lager und das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 80. Mal. Diejenigen, die überlebten, wurden physisch befreit, aber ihr Geist blieb ein Gefangener der erlebten Gräueltaten. In den vergangenen acht Jahrzehnten haben ihre Berichte Zeugnis abgelegt von den stummen Schreien der Ermordeten. Es ist nicht sicher, ob die Menschheit sie hören wird.
Flamme der Hoffnung
Der Nationalsozialismus erweckte alte, von Menschen erdachte Göttergestalten, die den Kult durch Menschenopfer forderten – das Opfer von Millionen. Dies ist ein Grund, warum dieser Gräuel als Holocaust bekannt ist, ein Begriff, der sich auf ein Opfer bezieht, das in biblischen Zeiten durch die vollständige Verbrennung eines Gott geweihten Tieres dargebracht wurde. Es ist bedauerlich, dass das Wort zum Inbegriff für den Völkermord der Nazis geworden ist, denn die Vorstellung, dass Gott an solchen Opfern Gefallen findet, ist abstoßend. Obwohl die Bibel Richtlinien für das ursprüngliche rituelle Tieropfer enthält, verabscheut sie Menschenopfer und verbietet sie ausdrücklich (Jeremia 7,31; 32,35). Der Gott der Bibel ist ein lebendiger Gott (Deuteronomium 5,22; Jeremia 10,10), der möchte, dass die Menschheit die göttlichen Maßstäbe der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit hochhält (Deuteronomium 30,20).
In den letzten 80 Jahren hat ein Großteil der Menschheit Götzen Tribut gezollt, die sich zwar von denen der Nazis unterscheiden, aber auch diese Götzen sind nur oberflächliche Projektionen des Strebens nach Macht, Reichtum, Selbstverherrlichung und andere Ambitionen, die das Leben nicht fördern. Sie sind leblose »Gottheiten«, an die Gebete der Gier und des Ehrgeizes gerichtet werden.
Nichtsdestotrotz sind in diesen 80 Jahren auch andere Gebete geflüstert worden. Trotz all der Turbulenzen haben sie es ermöglicht, dass die Flamme der Hoffnung weiter brennt und Licht bringt, um unsere Herzen zu trösten.
Chanah Szenez (oder Hannah Senesh, 1921–1944) war eine Dichterin, die auf Hebräisch schrieb. Angesichts des aufziehenden Tsunami des Antisemitismus in ihrer Heimat Ungarn beschloss sie 1939 in das Mandatsgebiet Palästina zu ziehen. Sie wurde Mitglied des Kibbuz Sdot Yam und meldete sich freiwillig als Fallschirmjägerin, um die britischen Streitkräfte und den jüdischen Widerstand im besetzten Europa zu unterstützen. Von den ungarischen Streitkräften verhaftet wurde sie zu Tode gefoltert. Eines ihrer berühmtesten Gedichte, »Ein Spaziergang nach Cä-sarea«, geschrieben am 24. November 1942, kann ein kraftvolles und betendes Licht auf unsere Gedanken an diesem Tag werfen: »Mein Gott, mein Gott, / lass niemals enden, / den Sand und das Meer, /das Rauschen des Wassers, / das Leuchten des Himmels / und das Beten des Menschen.«
Von Abraham Skorka, Georgetown Universität, Washington, D.C.