· Vatikanstadt ·

Audienz für die Teilnehmer am Kongress der Vatikanischen Apostolischen Bibliothek »Conservata et perlecta aliis tradere. Bibliotheken im Dialog«

Pflege der Kultur statt Kampf der Kulturen

 Pflege der Kultur statt Kampf der Kulturen   TED-048
29. November 2024

Eure Exzellenz Erzbischof Zani,

Exzellenzen,

meine Damen und Herren,

liebe Brüder und Schwestern,

guten Tag und herzlich willkommen!

Ich freue mich sehr über diese Begegnung, die die Öffnung der Vatikanischen Apostolischen Bibliothek gegenüber der Welt zum Ausdruck bringt. Eine Öffnung, um die ich Erzbischof Zani ausdrücklich gebeten habe, als ich ihn in diesen Dienst berufen habe; ich habe zu ihm gesagt: »Geh und öffne!« Ich begrüße die Leitungsverantwortlichen und die Wohltäter, die großherzig dazu beitragen, die Bedürfnisse dieser Einrichtung zu decken. Und mit Anerkennung begrüße ich die Vertreter von 23 namhaften Bibliotheken in aller Welt, die an der Begegnung »Conservata et perlecta aliis tradere. Bibliotheken im Dialog« teilgenommen haben. Die Vatikanische Bibliothek wollte mit befreundeten, und in einigen wesentlichen Punkten ähnlichen, Einrichtungen einen Dialog führen und Diskussionsrunden in Gang setzen, die, wie ich hoffe, im Zeichen der gegenseitigen Bereicherung fortgesetzt werden können.

Dieser Dialog, konkret geführt über ganz bestimmte Themen, wird allen helfen, in der neuen Zeit, in der wir leben, die formativen und kulturellen Potentiale eurer Bibliotheken so gut wie möglich zu entwickeln. Denn sie sind berufen, das Erbe der Vergangenheit auf eine Weise weiterzugeben, die für die neuen Generationen bedeutsam ist. Diese leben inmitten einer flüssigen Kultur und brauchen daher solide, formative, einladende, inklusive Umfelder, um neue Synthesen erarbeiten zu können, die in der Lage sind, die Gegenwart zu prägen und mit Hoffnung in die Zukunft zu blicken. Eure Sendung ist wirklich begeis-ternd.

In diesem Zusammenhang möchte ich euch als Bezugsgestalt Papst Pius XI., Achille Ratti, vor Augen stellen, den einige Forscher als den »Bibliothekar-Papst« bezeichnen, der auch noch Bergsteiger war. Tatsächlich war er erst Leiter der altehrwürdigen Ambrosianischen Bibliothek in Mailand und dann der Vatikanischen Apostolischen Bibliothek. Als aktiver, praktisch veranlagter, für die Bereiche der Wissenschaft und der Kommunikationsmittel aufgeschlossener Mann förderte er die Bedeutung der Bibliotheken in einem äußerst schwierigen historischen Augenblick, zwischen den beiden Weltkriegen. Während die europäische Kultur in einander entgegen-gesetzte Ideologien abdriftete, stattete der Papst die Vatikanische Bibliothek mit neuen Räumen aus; förderte die systematische Katalogisierung; eröffnete eine praktische Schule für Bibliothekare. Von ihm geschützt, wurde die Bibliothek zu einem sicheren Ort für viele Gelehrte, auch für jene, die von den totalitären Regimen, denen der Papst sich immer standhaft widersetzte, verfolgt wurden. Es war eine Epoche totalitärer Regime.

Pius XI. lässt uns über den Unternehmungsgeist, den Mut und die Konkretheit des Werkes, das er verwirklicht hat, nachdenken. Denn heute stehen wir ebenso entscheidenden kulturellen und gesellschaftlichen Herausforderungen gegenüber, denen wir uns mit der notwendigen Aktualisierung stellen müssen.

Denn die Technologie hat die Arbeit der Bibliothekare merklich verändert, sie vielfältiger und schneller gemacht. Die Kommunikationsmittel und die digitalen Ressourcen haben Wege geöffnet, die noch vor wenige Jahren undenkbar gewesen wären. Die Systeme zum Studium, zur Katalogisierung und Nutzung der bibliothekarischen Ressourcen haben sich vervielfältigt. All das bringt viele Vorteile mit sich, zusammen mit einigen Gefahren: Die großen Datendepots sind sehr reichhaltige, aber in ihrer Qualität schwer kontrollierbare Fundgruben.

Aufgrund der hohen Unterhaltungskosten der Sammlungen in Papierform, insbesondere antiker Papiere, können nur wenige Länder der Welt bestimmte Dienste zur Konsultation und Forschung anbieten. Die schwächeren Nationen sind so außer der materiellen auch der intellektuellen Armut ausgesetzt. Die größ-te Gefahr besteht darin, dass der Weltkrieg in Stücken, den wir derzeit erleben, die Fortschritte, deren Zeugen ihr selbst seid, verlangsamt; es besteht die Gefahr, dass sehr kostspielige Waffen der Kultur die für ihre Verbreitung notwendigen Mittel wegnehmen; dass die Konflikte die Schüler und Studenten am Lernen und Forschen hindern, weil sie Schulen, Universitäten und Bildungsprojekte zerstören. Der Krieg zerstört alles!

Viele Kultureinrichtungen stehen so wehrlos der Gewalt der Kriege und der Plünderung gegenüber. Wie oft ist das in der Vergangenheit schon passiert! Setzen wir uns dafür ein, dass es nicht mehr geschieht: Antworten wir auf den Kampf der Kulturen, auf den ideologischen Kolonialismus und auf die Auslöschung der Erinnerung mit der Pflege der Kultur. Es wäre schlimm, wenn außer den vielen Grenzen zwischen den Staaten auch virtuelle Mauern errichtet würden. In diesem Zusammenhang habt ihr Bibliothekare eine wichtige Rolle nicht nur für die Verteidigung des historischen Erbes, sondern auch für die Förderung des Wissens. Ich ermutige euch, weiterhin dafür zu arbeiten, dass eure Einrichtungen Orte des Friedens, Oasen der Begegnung und der freien Diskussion sein mögen.

Um diese Bemühungen zu unterstützen, möchte ich euch vier Kriterien anvertrauen, die ich im Apostolischen Schreiben Evangelii gaudium vorgeschlagen habe (vgl. Nr. 222-237).

Das erste Kriterium: dass die Zeit mehr wert ist als der Raum. Ihr hütet immense Schätze an Wissen: Mögen sie zu Orten werden, an denen Zeit zum Nachdenken ist, wo man sich der geistlichen und transzendenten Dimension öffnet. Und so solltet ihr langfris-tige Untersuchungen fördern, ohne krampfhaft nach unmittelbaren Resultaten zu suchen, indem ihr durch die Stille und die Betrachtung das Entstehen eines neuen Humanismus fördert.

Zweites Kriterium: Die Einheit muss mehr wiegen als der Konflikt. Die akademische Forschung führt unvermeidlich auch zu Kontroversen, die im Rahmen einer ernsthaften Debatte behandelt werden müssen, um sich nicht mit Gewalt durchzusetzen. Die Bibliotheken müssen offen sein für alle Wissensbereiche und einen gemeinsamen Willen unter verschiedenen Perspektiven bezeugen.

Drittes Kriterium: Die Wirklichkeit muss wichtiger sein als die Idee. Die konkreten Entscheidungen und die Aufmerksamkeit gegenüber der Wirklichkeit sollen in engem Kontakt mit dem kritischen und spekulativen Ansatz wachsen, um jeden falschen Gegensatz zwischen Denken und Erfahrung, zwischen Fakten und Prinzipien, zwischen Praxis und Theorie zu vermeiden. Es gibt einen Primat der Wirklichkeit, den die Reflexion immer hochhalten muss, wenn sie aufrichtig nach der Wahrheit suchen will.

Und das vierte Kriterium: Das Ganze muss dem Teil übergeordnet sein. Wir sind aufgerufen, die Spannung zwischen den örtlichen und den globalen Gegebenheiten in Einklang zu bringen, indem wir daran denken, dass niemand ein isoliertes Individuum ist, sondern jeder eine Person, die von Bindungen und gesellschaftlichen Netzwerken lebt, an denen man sich verantwortungsbewusst beteiligen muss.

Ich wiederhole die vier Prinzipien: die Zeit ist mehr wert als der Raum; die Einheit wiegt mehr als der Konflikt; die Wirklichkeit ist wichtiger als die Idee; das Ganze ist dem Teil übergeordnet. Vergessen wir diese vier Kriterien nicht.

Meine Lieben, fürchtet die Komplexität der Welt nicht, in der wir aufgerufen sind zu arbeiten! Möge das, worüber ihr gesprochen habt, dazu beitragen, in euren Bibliotheken die weisen »Schriftgelehrten« heranwachsen zu lassen, die vom Herrn gelobt werden und die aus ihrem Schatz Neues und Altes hervorzuholen verstehen, zum Wohl aller (vgl. Mt 13,52). Jetzt erteile ich euch allen in der Stille den Segen. Und ich bitte euch, für mich zu beten. Und verliert nicht den Sinn für Humor. Danke!

(Orig. ital. in O.R. 16.11.2024)