»Man könnte sagen, dass ich letztlich mein Herz bin, denn es ist das, was mich ausmacht, was mich in meiner geistigen Identität prägt und mich mit den anderen Menschen verbindet« (14): ein vielsagendes Wort aus der am 24. Oktober veröffentlichten Enzyklika Dilexit nos von Papst Franziskus. Dieses lehramtliche Dokument hat in der Öffentlichkeit nicht dasselbe breite Echo erfahren wie die beiden Sozialenzykliken Laudato si’ und Fratelli tutti, dabei ist es so etwas wie der Schlüssel zum gesamten Pontifikat. Dilexit nos kann auch eine Hilfe sein, um ein Ereignis wie die kürzlich zu Ende gegangene Synode über Synodalität und das in wenigen Wochen beginnende Heilige Jahr besser zu verstehen. Wir haben mit dem philippinischen Kardinal Luis Antonio Tagle, Pro-Präfekt des Dikasteriums für die Evangelisierung, darüber gesprochen. Im Interview mit den Vatikanmedien spricht er auch über die auf den Philippinen sehr verbreitete Herz-Jesu-Verehrung, die ihm selbst von Jugend an vertraut ist.
Die Veröffentlichung von Dilexit nos hat ein gewisses Erstaunen hervorgerufen. Nach den Sozialenzykliken Laudato si’ und Fratelli tutti hat Franziskus eine spirituelle Enzyklika promulgiert. Wie haben Sie dieses Dokument aufgenommen?
Kardinal Tagle: Papst Franziskus ist ein Papst der Überraschungen. Auch wenn die Ankündigung der Enzyklika und die an-schließende Veröffentlichung in gewisser Weise eine Überraschung waren, weil alles auf die Bischofssynode konzentriert war, hat es mich doch nicht vollständig überrascht, dass der Heilige Vater eine Enzyklika über die Liebe Jesu zu uns veröffentlicht, die in seinem Heiligsten Herzen symbolisiert wird. Für mich hat der Papst auf diese Weise die christologischen Grundlagen der Sozialenzykliken Laudato si’ und Fratelli tutti explizit deutlich gemacht. Wenn wir die Liebe Jesu empfangen, erlaubt uns dies, in den anderen Menschen einen Bruder und eine Schwester zu sehen (Fratelli tutti) und aufmerksame, demütige und verantwortungsvolle Hüter unseres gemeinsamen Hauses zu sein (Laudato si’). Ich würde sagen, dass Texte und Ansprachen von Papst Franziskus systematisch auf unseren Glauben an die Person und Sendung Jesu Christi gegründet sind. Ich würde vorschlagen, die beiden Sozialenzykliken erneut zu lesen, um darin die bereits vorhandenen Spuren oder Samen für Dilexit nos zu finden.
Auf den Philippinen ist die Verehrung des Herzens Jesu sehr populär, vor allen bei den einfachen Leuten, dem Volk Gottes. Welche Erfahrung haben Sie mit dieser Frömmigkeitsform in Ihrem Land gemacht?
Kardinal Tagle: Die Herz-Jesu-Verehrung ist auf den Philippinen stark verbreitet. Wir sind den vielen Ordensgemeinschaften dankbar, die den Namen des »Heiligsten Herzens« tragen, der Gesellschaft Jesu und dem Gebetsapostolat, die diese Frömmigkeit in den Diözesen, Pfarreien, Schulen und Familien fördern. Neben den Gebetswachen und Gebeten am ersten Freitag im Monat gibt es auch den Brauch, zu Hause ein Bild mit dem gekrönten Herzen Jesu zu haben. Wir beten zum Herzen Jesu, damit er unsere Familien und unsere Nation mit seiner Barmherzigkeit und seiner Liebe lenken und leiten möge. Dieses Gebet kommt von einem Volk, dessen Herzen Verletzungen erfahren haben aufgrund von Ungerechtigkeit, Gier, Korruption und Gleichgültigkeit. Die Verehrung des Herzens Jesu erinnert uns auch daran, dass wir Jesus beständig bitten müssen, unsere Herzen zu verwandeln, damit sie so werden wie sein Herz. Noch heute singen wir bei bestimmten Anlässen die offizielle Hymne des Internationalen Eucharistischen Kongresses, der 1937 in Manila abgehalten wurde, ein Hymnus an das Heiligste Herz auf Spanisch, in dem die Nation ihr Herz Jesus schenkt: »No más Amor que el tuyo, O Corazon Divino. El Pueblo Filipino te da su corazón.« Dieses Lied bringt dem Herzen immer Trost und füllt die Augen mit Tränen.
In der Enzyklika Dilexit nos sagt der Papst, dass die heutige Menschheit ihr Herz zu verlieren scheint, und fordert uns Christen auf, wiederzuentdecken wie sehr uns das Herz Jesu liebt. Was kann man tun, damit den Menschen wieder stärker bewusst wird, dass alles unserem Herzen entspringt?
Kardinal Tagle: In Dilexit nos beschreibt Papst Franziskus das Phänomen und die Ursachen der Oberflächlichkeit, die sich als Kultur zu verbreiten scheint, die uns daran hindert, Kontakt mit unserem Herzen aufzunehmen, aus dem Liebe, Wahrheit und Mitleid strömen. Ich schlage vor, die Beschreibung der Oberflächlichkeit, die der Heilige Vater vorlegt, als Leitfaden für eine Gewissenserforschung zu lesen. Das Bewusstsein, dass ich langsam den Kontakt zu meiner Innerlichkeit und zu meinem wahrsten Ich verliere, ist der erste Schritt, um das eigene Herz zu wecken. Mir gefällt auch die Auflis-tung der Heiligen, die der Papst macht, oder das, was ich als »Heiligenprozession« bezeichnen würde, die uns ihr Zeugnis schenken in Bezug auf die unergründliche Liebe des Herzens Jesu und wie diese Liebe ihr Leben und ihre Sendung verändert hat. Ich empfehle, sich diesen Festzug anzusehen und sich ihm anzuschließen. Wir können das Bewusstsein für unser Herz neu entfachen, nicht durch Begriffe oder Abstraktionen, sondern indem wir auf Herzen hören, die im liebevollen Herzen Jesu das wahre Leben gefunden haben.
Das Herz lässt an die Person und die Beziehungen denken. Bei der Synode über die Synodalität, an der Sie teilgenommen haben, wurde – auch im Schlussdokument – viel über die Umkehr in den Beziehungen diskutiert. Kann diese Enzyklika als Kompass dienen, um den Weg einer synodalen Kirche zu erleuchten, zu der Papst Franziskus uns ermutigt?
Kardinal Tagle: Dilexit nos hat einer Kirche, die synodal und missionarisch sein will, sehr viel zu sagen. Während der letzten Sitzungsperiode der Bischofssynode wurde wiederholt betont, dass Synodalität letztlich die Beziehungen betrifft: zu Gott, zu allen Getauften, die die Kirche bilden, zur gesamten Menschheit und zur ganzen Schöpfung. Die Erneuerung der Kirche im synodalen Missionarisch-Sein kann nur dann Wirklichkeit werden, wenn unsere Beziehung zum einen und dreifaltigen Gott, der Liebe ist, geprägt wird von Vertrauen, Gehorsam und Demut. Missionarische Synodalität setzt eine Beziehung von Herz zu Herz voraus zwischen Hirten und Gläubigen, zwischen den Ortskirchen und so weiter, wo das Herz aller ge-reinigt ist vom Vorurteil gegenüber den anderen und von stolzer Selbstdarstellung und das so in der Lage ist, einfühlsam zuzuhören. Ohne von der göttlichen Gnade geläuterte menschliche Beziehungen könnte die missionarische Synodalität auf rein bürokratische und legalistische Vorschläge reduziert werden – ohne ein im Heiligen Geist, der Flamme der göttlichen Liebe, brennendes Herz.
Das Heilige Jahr rückt näher: ein Jahr der Gnade, der Versöhnung und Befreiung. Ein Jubiläum, in dessen Mittelpunkt der Papst das Thema der Hoffnung gestellt hat. In wieweit hat die Enzyklika über das Herz Jesu einen Bezug zum bevorstehenden Heiligen Jahr?
Kardinal Tagle: Ich bin der Ansicht, dass die Beziehung zwischen Dilexit nos und dem nächsten Heiligen Jahr sich auf die Pilgerschaft in der Hoffnung konzentriert, auf den missionarischen Aspekt der Verehrung des Herzens Jesu. Zunächst einmal ist das Herz Jesu ein missionarisches Herz, das die überströmende göttliche Liebe durch ein menschliches Herz zu allen Menschen bringt, in alle menschlichen Situationen und in die Schöpfung. Die barmherzige Liebe des Herzens Jesu bietet einer zerbrochenen Welt Hoffnung, insbesondere denjenigen, die in ihrem Leben keine Möglichkeit für Erlösung sehen. Papst Franziskus lädt uns ein, die Liebe Jesu in unserem Herzen zu empfangen und sie strömen zu lassen, ohne diese Liebe Jesu daran zu hindern, zu anderen Menschen und in die Gesellschaft auszuströmen. Dilexit nos ist eine wertvolle geistliche und missionarische Ressource für das Heilige Jahr, um einen jeden von uns darauf vorzubereiten, Pilger zu sein, der die Liebe Jesu mit den anderen teilt, die Liebe, die alle Herzen von Angst, Stolz, Egoismus, Gleichgültigkeit, Rache und Verzweiflung befreit. Er liebt uns, daher haben wir Hoffnung.
Von Alessandro Gisotti