An den lieben Bruder
Kardinal José Tolentino de Mendonça,
Präfekt des Dikasteriums für die Kultur
und die Bildung
Es ist mir eine Freude, aus Anlass der Preisverleihung der Päpstlichen Akademien eine Botschaft an Sie zu richten. Wir würdigen so die Forschung, die Leidenschaft und das Engagement junger Wissenschaftler, die sich entschieden haben, ihre intellektuellen Anstrengungen und ihre Liebe zum Wissen der Interpretation eines linguistischen und kulturellen Erbes von unermesslichem Wert zu widmen: dem Lateinischen. Heute verleiht die Pontificia Academia Latinitatis [Päpstliche Akademie für die lateinische Sprache] zwei wichtige Preise zu zwei anspruchsvollen Themen: De rerum natura, über Latein und die Wissenschaften, und De re publica, über Latein und Politik.
Zunächst möchte ich die Preisträger be-glückwünschen zu ihrem Engagement für die lateinische Sprache und deren Bedeutung in der zeitgenössischen Welt, wie dies die Forschung von Professor Enrico Piergiacomi vom »Department of Humanities and Arts« des »Israel Institute of Technology – Technion« in Haifa bezeugt, welche die Schnittstellen zwischen dem klassischen Denken und den modernen Wissenschaften in den Blick nimmt. Insbesondere die Gruppe von Wissenschaftlern, die an der nationalen Ausgabe der Opera Mathematica von Francesco Maurolico mitarbeitet, leistet wertvolle Arbeit im Hinblick auf die Erschließung der Werke dieses großen Gelehrten des 16. Jahrhunderts aus Messina, der nicht nur Mathematiker war, sondern vor allem Priester und Humanist.
Die lateinische Sprache ist ein Schatz des Wissens und Denkens, ein Schlüssel für den Zugang zu den klassischen Texten, die unsere Welt gestaltet haben. In ihr liegen die Wurzeln der westlichen Zivilisation und in vielerlei Hinsicht auch unsere eigene Identität. Es handelt sich um eine Sprache, die Philosophie, Wissenschaft, Kunst und Politik einschließt, und so stellt sie deren intrinsischen Wert als Mittel der Reflexion und des Dialogs unter Beweis, die in einer so zersplitterten Welt wie der unseren notwendiger denn je sind. In diesem Zusammenhang bieten uns die Preisträger eine zeitgenössische, frische Sicht darauf, wie dieses antike Idiom uns auch heute noch ansprechen und unsere Reflexion anregen kann. Ihre Untersuchungen erforschen nicht nur das Denken der großen Meister der Vergangenheit, sondern integrieren das Wissen in einen modernen Kontext und bringen es so in Verbindung mit den Herausforderungen unserer Zeit. Das Werk derer, die an der Preisausschreibung teilgenommen haben, fordert uns auf, den Zusammenhang zwischen wissenschaftlichem Wissen und politischem Wissen zu erkunden, unter der Führung einer Sprache, die sich einer jahrtausendealten Geschichte rühmen kann.
Das Thema De rerum natura lässt uns an die Wunder der Schöpfung denken. In einer Zeit, in der wir uns immer mehr der Fragilität der Umwelt bewusst werden, ist die Reflexion über die Welt der Natur von entscheidender Bedeutung. Die Wissenschaft bietet uns Mittel, um die Naturgesetze zu verstehen, um das Geheimnis des Lebens zu erforschen und die ökologischen Herausforderungen in Angriff zu nehmen. Dennoch können wir nur durch eine ethische, kulturelle und spirituelle Interpretation wahrhaft die tiefe Bedeutung des Kosmos erahnen, der uns umgibt und dessen Teil wir sind.
Die Sichtweise der Natur in ihrer Ganzheit als Geschenk Gottes fordert uns auf, über unsere Verantwortung gegenüber dem gemeinsamen Haus nachzudenken. Wissenschaft und Glauben können und müssen in Dialog treten, denn beide sind aufgerufen, unser Verständnis von der Welt zu leiten. Insbesondere erinnert uns der von Ihnen verliehene Preis daran, dass die Wissenschaft nicht auf eine bloße Ansammlung von Daten reduziert werden darf, sondern eine Hilfe sein muss, um die Komplexität und Schönheit der Schöpfung zu erkennen.
Das Thema De re publica spornt uns an, die Grundlagen und Strukturen der Politik zu erkunden, indem wir über das Gemeinwohl und die Gerechtigkeit nachdenken. In Zeiten sozialer Instabilität hat die lateinische Tradition einen Wert, weil sie eine enge Verbindung zwischen der »öffentlichen Sache« und den Grundprinzipien der Reflexion fördert. Wenn Politik mit Ehrlichkeit und Integrität betrieben wird, dann ist sie eine edle Kunst, eine Berufung zum Dienst an der Gemeinschaft und steht niemals im Dienst privater Interessen.
Der Entwurf eines in den humanistischen Werten verankerten Ethos ist daher ein Aufruf zu verantwortlichem Handeln in einem Klima des Dialogs, des Respekts und der Inklusion. Die Politik muss die Ungleichheiten überwinden und das Wohl aller fördern, insbesondere der Schutzlosesten. Menschliche und kulturelle Formung spielt hier eine wesentliche Rolle: nur gut gebildete und verantwortungsbewusste Bürger können Akteure eines gesunden Wandels in der Gesellschaft sein.
Schließlich sehen wir bei der Reflexion über diese beiden Studiengebiete, De rerum natura und De re publica, dass das Latein der Untersuchung und Synthese zwischen Wissenschaft, Kultur und Politik ein fruchtbares Terrain bereitet. Die sorgfältige und systematische Forschung der beiden Preisträger ist demnach nicht nur ein akademischer Beitrag, sondern ein an uns alle gerichteter Aufruf. Aus diesem Grund beschränkt sich das heutige Treffen nicht nur drauf, die Forschung zu ehren, sondern lädt uns ein, unseren Einsatz für eine Kultur des ganzheitlichen Wachstums des Menschen zu bekräftigen (vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et spes, 40).
Fragen wir uns also: Wie können wir die Entdeckungen, die wir heute mit einem Preis auszeichnen, ins tägliche Leben umsetzen? Wie können wir die jungen Generationen ermutigen, Wege der Forschung einzuschlagen, sich Fragen zu stellen und keine Angst vor der Erkundung des Neuen zu haben? Wie können wir den jungen Menschen Geschmack an Kultur und Wissenschaft vermitteln?
Das Engagement des Denkens und die Kreativität, die der Kirche sehr am Herzen liegen, entspringen der Wiederentdeckung der Schönheit eines Wissens, das in der Lage ist, Herz und Geist zu formen, Brücken zu bauen und Mauern niederzureißen. In diesem Sinne kann die lateinische Sprache und damit das intellektuelle Erbe der Menschheit zu einem Instrument der Harmonie zwischen den Völkern werden sowie zur Förderung der gegenseitigen Achtung und der Menschenwürde beitragen. Ich hoffe daher, dass die heute verliehene Auszeichnung zu einem Zeichen der Hoffnung wird und dass die Leidenschaft der Preisträger andere zu demselben Engagement inspirieren kann. Ich danke ihnen für ihre Hingabe und ihre Arbeit, wie ich auch den Mitgliedern der Pontificia Academia Latinitatis und allen Anwesenden danke.
Eminenz, verbunden mit dem Ausdruck meiner Freude über diese Initiative erteile ich den Apostolischen Segen, in den ich alle Mitarbeiter und Mitglieder der Päpstlichen Akademien einschließe. Möge der Herr Ihre Bemühungen und Ihr Engagement immer fruchtbarer werden lassen.
Aus dem Vatikan, am 23. Oktober 2024
(Orig. ital. in O.R. 24.10.2024)