Vatikanstadt. Am Freitagabend, 11. Oktober, haben Teilnehmer der Bischofssynode gemeinsam mit Papst Franziskus für die Einheit der Christen gebetet. Die Feier mit rund 400 Teilnehmern fand bei Kerzenschein neben dem Petersdom auf dem »Platz der ersten römischen Märtyrer« im Vatikan statt, an dem laut der Überlieferung unter Kaiser Nero viele Christen hingerichtet wurden. Papst Franziskus hatte den Vorsitz inne, doch verzichtete er auf seine vorbereitete Predigt und betete stattdessen gemeinsam mit den Anwesenden schweigend für die Einheit der Christen. Die Feier wurde von Brüdern der ökumenischen Gemeinschaft von Taizé in Frankreich gestaltet. Neben Bibelstellen wurden auch Zitate aus Texten des Zweiten Vatikanischen Konzils vorgelesen. Diese größte Kirchenversammlung in der Kirchengeschichte hatte vor 60 Jahren mit dem Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio einen Grundlagentext beschlossen, der den Weg zur Überwindung der Spaltung der christlichen Kirchen ebnen sollte. Das Dekret war am 21. November 1964 feierlich verkündet worden. Im Folgenden der Wortlaut der vorbereiteten Predigt des Papstes:
»Ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast« (Joh 17,22). Diese Worte aus dem Gebet, das Jesus vor seinem Leiden sprach, lassen sich insbesondere auf die Märtyrer anwenden, die aufgrund ihres Zeugnisses für Christus verherrlicht wurden. An diesem Ort gedenken wir der ersten Märtyrer der Kirche in Rom: auf ihrem Blut wurde diese Basilika errichtet, auf ihrem Blut wurde die Kirche erbaut. Mögen diese Märtyrer uns in der Gewissheit stärken, dass wir uns, wenn wir uns Christus annähern, auch einander annähern. Wir sind dabei getragen von dem Gebet aller Heiligen unserer Kirchen, die durch ihre Teilnahme am Ostergeheimnis bereits vollkommen vereint sind. Wie das Dekret Unitatis red-integratio, dessen 60. Jahrestag wir begehen, feststellt, sind die Christen einander umso näher, je näher sie Christus sind (vgl. Nr. 7).
An diesem Tag, an dem wir der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils gedenken, das den offiziellen Eintritt der katholischen Kirche in die ökumenische Bewegung markiert, sind wir mit den Brüdern und Schwes-tern Delegaten der anderen Kirchen versammelt. Deshalb mache ich mir die Worte zu eigen, die der heilige Johannes XXIII. bei der Eröffnung des Konzils an die Beobachter richtete: »Eure geschätzte Anwesenheit und die Ergriffenheit, die mein Herz als Priester, als Bischof der Kirche Gottes erfüllt […], bringen mich dazu, euch die Sehnsucht meines Herzens anzuvertrauen, das von dem Wunsch brennt, für das Herannahen der Stunde zu arbeiten und zu leiden, in der sich für alle der Gebetswunsch Christi beim letzten Abendmahl erfüllen wird« (13. Oktober 1962). Begeben wir uns hinein in dieses Gebet Jesu, das begleitet wird vom Gebet der Märtyrer, und machen wir es uns im Heiligen Geist zu eigen.
Einheit der Christen und Synodalität hängen zusammen. Wenn nämlich »der Weg der Synodalität der Weg ist, den Gott von der Kirche des dritten Jahrtausends erwartet« (Ansprache zur 50-Jahr-Feier der Errichtung der Bischofssynode, 17. Oktober 2015), dann muss er mit allen Christen gegangen werden. »Der Weg der Synodalität […] muss ökumenisch sein, so wie der ökumenische Weg syn-odal ist« (Ansprache an Seine Heiligkeit Mar Awa III., 19. November 2022). In beiden Prozessen geht es nicht so sehr darum, etwas zu schaffen, sondern vielmehr darum, das Geschenk, das wir bereits erhalten haben, anzunehmen und fruchtbar zu machen. Und wie sieht das Geschenk der Einheit aus? Die synodale Erfahrung hilft uns, einige Aspekte davon zu entdecken.
Die Einheit ist eine Gnade, ein unvorhersehbares Geschenk. Der wahre Protagonist sind nicht wir, sondern der Heilige Geist, der uns zu einer tieferen Gemeinschaft führt. So wie wir nicht im Voraus wissen, wie das Ergebnis der Synode aussehen wird, wissen wir auch nicht genau, wie die Einheit aussehen wird, zu der wir berufen sind. Das Evangelium berichtet uns, dass Jesus bei seinem hohepries-terlichen Gebet »seine Augen zum Himmel erhob«: Die Einheit ist nicht in erster Linie eine Frucht der Erde, sondern des Himmels. Sie ist eine Gabe, deren Zeitpunkt und Art und Weise wir nicht vorhersehen können; wir müssen sie annehmen, »ohne den Wegen der Vorsehung irgendein Hindernis in den Weg zu legen und ohne den künftigen Anregungen des Heiligen Geistes vorzugreifen«, wie es wiederum im Konzilsdekret (UR, 24) heißt. Pater Paul Couturier pflegte zu sagen, dass man um die Einheit der Christen beten soll »wie Christus sie will« und »mit den Mitteln, die er will«.
Eine weitere Lehre, die sich aus dem synodalen Prozess ergibt, ist, dass die Einheit ein Weg ist: Sie reift in der Bewegung, auf dem Weg. Sie wächst im gegenseitigen Dienst, im Dialog des Lebens, in der Zusammenarbeit aller Christen, welche »das Antlitz Christi, des Gottesknechtes, im helleren Lichte zutage« treten lässt« (UR, 12). Aber wir müssen gemäß dem Geist wandeln (vgl. Gal 5,16-25); oder, wie der heilige Irenäus sagt, als tôn adelphôn synodía, als »eine Karawane von Brüdern und Schwestern«. Die Verbindung zwischen den Christen wächst und reift im gemeinsamen Pilgern »nach dem Rhythmus Gottes«, so wie es bei den Pilgern von Emmaus der Fall war, die mit dem auferstandenen Jesus unterwegs waren.
Eine dritte Lehre lautet: Einheit ist Harmonie. Die Synode hilft uns gerade, die Schönheit der Kirche in der Vielfalt ihrer Gesichter wiederzuentdecken. Auf diese Weise ist Einheit nicht Uniformität, und auch nicht das Ergebnis von Kompromissen oder Balanceakten. Die Einheit der Christen ist Harmonie in der Vielfalt der Charismen, die der Heilige Geist zur Auferbauung aller Christen hervorbringt (vgl. UR, 4). Die Harmonie ist der Weg des Geistes, denn er selbst ist, wie der heilige Basilius sagt, Harmonie (vgl. Homilie über Psalm 29,1). Wir müssen den Weg der Einheit gehen, aus Liebe zu Christus und zu allen Menschen, denen zu dienen wir gerufen sind. Lassen wir uns auf diesem Weg niemals von Schwierigkeiten aufhalten! Vertrauen wir auf den Heiligen Geist, der zu einer Einheit drängt, die eine Harmonie bunter Vielfalt ist.
Und schließlich ist die Einheit der Christen, ebenso wie die Synodalität, notwendig für ihr Zeugnis: Die Einheit dient der Mission. »Alle sollen eins seien … damit die Welt glaubt« (Joh 17,21). Dies war die Überzeugung der Konzilsväter, als sie feststellten, dass unsere Spaltung »ein Ärgernis für die Welt ist und ein Schaden für die heilige Sache der Verkündigung des Evangeliums vor allen Geschöpfen« (UR, 1). Die ökumenische Bewegung entstand aus dem Wunsch heraus, gemeinsam Zeugnis abzulegen, gemeinsam mit den Anderen und nicht getrennt voneinander oder schlimmer noch gegeneinander. An diesem Ort hier erinnern uns die Protomärtyrer daran, dass heute in vielen Teilen der Welt Christen unterschiedlicher Glaubenstraditionen ihr Leben gemeinsam für den Glauben an Jesus Christus hingeben und damit eine Ökumene des Blutes leben. Ihr Zeugnis ist stärker als jedes Wort, denn die Einheit kommt vom Kreuz des Herrn.
Bevor wir diese Versammlung begonnen haben, haben wir eine Bußfeier abgehalten. Heute wollen wir auch unsere Scham für den Skandal der Spaltung der Christen zum Ausdruck bringen, für das Ärgernis, dass wir nicht gemeinsam Zeugnis für Jesus, unseren Herrn, ablegen. Diese Synode ist eine Gelegenheit, das zu verbessern und die Mauern zu überwinden, die noch zwischen uns bestehen. Konzentrieren wir uns auf die gemeinsame Grundlage unserer gemeinsamen Taufe, die uns dazu anspornt, missionarische Jünger Christi zu werden, mit einer gemeinsamen Sendung. Die Welt braucht ein gemeinsames Zeugnis, es ist wichtig für die Welt, dass wir unserer gemeinsamen Sendung treu bleiben.
Liebe Brüder und Schwestern, vor dem Kreuz erging an den heiligen Franz von Assisi der Ruf, die Kirche wiederaufzubauen. Das Kreuz Christi möge auch uns jeden Tag auf unserem Weg zur vollen Einheit leiten, in Harmonie untereinander und mit der ganzen Schöpfung, »denn Gott wollte mit seiner ganzen Fülle in ihm wohnen, um durch ihn alles auf ihn hin zu versöhnen. Alles im Himmel und auf Erden wollte er zu Christus führen, der Frieden gestiftet hat am Kreuz durch sein Blut« (Kol 1,19-20).