»Die Erkenntnis macht aufgeblasen, die Liebe dagegen baut auf« (1 Kor 8,1). Paulus richtet diese Worte an die Brüder und Schwes-tern der christlichen Gemeinde von Korinth: eine Gemeinschaft, die reich ist an vielen Charismen (vgl. 1 Kor 1,4-5) und welcher der Apostel in seinen Briefen oft empfiehlt, die Gemeinschaft in der Liebe zu pflegen.
Wir hören diese Worte und danken dem Herrn gemeinsam für die Kirche in Singapur, die ebenfalls reich an Gaben ist, lebendig, im Wachstum begriffen und in konstruktivem Dialog mit den verschiedenen anderen Konfessionen und Religionen, mit denen sie dieses wunderbare Land teilt.
Genau aus diesem Grund möchte ich diese Worte kommentieren, und dabei ausgehen von der Schönheit dieser Stadt und ihrer großen und kühnen Bauwerke, die sie so berühmt und faszinierend machen, angefangen mit dem beeindruckenden Komplex des National Stadium, in dem wir uns gerade befinden. Und dabei möchte ich daran erinnern, dass auch am Ursprung dieser imposanten Bauwerke, wie bei jedem anderen Unterfangen, das in dieser Welt ein positives Zeichen setzt, nicht, wie viele meinen, in erster Linie Geld, Technik und auch nicht die Ingenieurskunst stehen – die alle nützliche, sehr nützliche Mittel sind –, sondern es steht letztlich die Liebe: »die Liebe, die aufbaut«.
Manch einer mag dies für eine naive Behauptung halten, aber wenn wir genauer nachdenken, ist es nicht so. Es gibt in der Tat kein gutes Werk, hinter dem nicht sehr wahrscheinlich geniale, starke, reiche und kreative Menschen stehen, aber immer auch schwache Frauen und Männer wie wir, für die es ohne die Liebe kein Leben, keinen Antrieb, keinen Grund zum Handeln, keine Kraft zum Aufbauen gibt.
Liebe Brüder und Schwestern, wenn es etwas Gutes gibt und es in dieser Welt bleibt, dann nur, weil in zahllosen und vielfältigen Umständen die Liebe über den Hass gesiegt hat, die Solidarität über die Gleichgültigkeit, die Großherzigkeit über den Egoismus. Ohne dies wäre auch hier niemand in der Lage gewesen, eine so große Metropole zu errichten, hätten die Architekten keine Pläne entworfen, hätten die Arbeiter nicht gearbeitet und hätte man nichts erreichen können.
Das was wir sehen, ist also ein Zeichen, und hinter jedem der Werke, die vor uns stehen, gibt es viele Geschichten der Liebe zu entdecken: von Männern und Frauen, die in einer Gemeinschaft miteinander verbunden sind, von Bürgern, die sich für ihr Land einsetzen, von Müttern und Vätern, die sich um ihre Familien sorgen, von Fachleuten und Arbeitern aller Art und jeden Grades, die sich rechtschaffen in ihren verschiedenen Rollen und Aufgaben einsetzen. Und wir tun gut daran, diese Geschichten, die an den Fassaden unserer Häuser und auf den Wegen unserer Straßen geschrieben stehen, lesen zu lernen und ihr Andenken weiterzugeben, um uns daran zu erinnern, dass nichts Bleibendes ohne die Liebe entsteht und gedeiht.
Manchmal geschieht es, dass uns die Größe und Stattlichkeit unserer Projekte dies vergessen lassen, weil sie uns vorgaukeln, dass wir allein die Urheber unserer selbst, unseres Reichtums, unseres Wohlbefindens und unseres Glücks sein können, aber letztlich verweist uns das Leben immer zurück zu einer einzigen Tatsache: Ohne Liebe sind wir nichts.
Der Glaube bestätigt und erhellt uns dann diese Gewissheit noch mehr, denn er sagt uns, dass der Urgrund unserer Fähigkeit zu lieben und geliebt zu werden Gott selbst ist, der uns mit seinem Vaterherzen gewollt und uns ohne unser Zutun ins Leben gerufen hat (vgl. 1 Kor 8,6) und der uns ebenso ohne unser Verdienst erlöst und von Sünde und Tod befreit hat, durch den Tod und die Auferstehung seines eingeborenen Sohnes. Alles, was wir sind und werden können, hat in ihm, in Jesus, seinen Ursprung und findet in ihm seine Vollendung.
So sehen wir in unserer Liebe einen Abglanz der Liebe Gottes, wie der heilige Johannes Paul II. anlässlich seines Besuchs in diesem Land sagte (vgl. Johannes Paul II., Homilie bei der Heiligen Messe im Nationalstadion von Singapur, 20. November 1986), und er fügte noch einen wichtigen Satz hinzu: »Daher ist die Liebe gekennzeichnet von einem tiefen Respekt vor allen Menschen, unabhängig von ihrer Rasse, ihrem Glauben oder was sie sonst von uns unterscheidet« (ibd.).
Brüder und Schwestern, dieses Wort ist für uns wichtig, weil es uns, über das Staunen angesichts der von Menschenhand geschaffenen Werke hinaus, daran erinnert, dass es ein noch größeres Wunder gibt, dem wir mit noch größerer
Bewunderung und Achtung begegnen sollten: nämlich die Brüder und Schwestern, denen wir jeden Tag auf unserem Weg begegnen, ohne Bevorzugung und ohne Unterschiede, wie es die Gesellschaft und die Kirche Singapurs so schön bezeugen, die ethnisch so verschieden und doch so eins und solidarisch sind!
Das schönste Gebäude, der wertvollste Schatz, die lohnendste Investition in den Augen Gottes, was ist das? Das sind wir, das sind wir alle: geliebte Kinder desselben Vaters (vgl. Lk 6,36), die wir unsererseits gerufen sind, die Liebe weiterzugeben. Davon sprechen in verschiedener Weise die Lesungen dieser heiligen Messe, die aus verschiedenen Perspektiven ein und dieselbe Wirklichkeit beschreiben: die Liebe, die sanftmütig ist, weil sie die Verletzlichkeit der Schwachen berücksichtigt (vgl. 1 Kor 8,13), die fürsorglich ist, weil sie diejenigen kennt und begleitet, die auf ihrem Lebensweg unsicher sind (vgl. Ps 138), die großmütig und wohlwollend ist, weil sie über alle Berechnung und jedes Maß hinaus vergibt (vgl. Lk 6,27-38).
Und so ist die Liebe, die Gott uns zeigt und zu der er uns einlädt: Sie »antwortet hochherzig auf die Nöte der Armen und sie wird gekennzeichnet durch Mitleid für die Leidenden, Liebe bietet schnell Gastfreundschaft an und hält durch bei Belastungen. Sie ist stets bereit zu verzeihen, zu hoffen«, verzeihen und hoffen, bis zu dem Punkt, dass sie bereit ist, »mit Segen auf einen Fluch zu antworten« (Johannes Paul II.,
Homilie bei der Heiligen Messe im Nationalstadion von Singapur, 20. November 1986).
Wir können dies an vielen Heiligengestalten sehen: Männern und Frauen, die vom Gott der Barmherzigkeit so sehr erfüllt wurden, dass sie zu seinem Widerschein, seinem Echo und seinem lebendigen Abbild wurden. Zum Abschluss möchte ich zwei von ihnen in Erinnerung rufen.
Die erste ist Maria, deren heiligsten Namen wir heute feiern. Wie vielen Menschen gab und gibt ihr Beistand und ihre Gegenwart Hoffnung, auf wie vielen Lippen erschien und erscheint ihr Name in Momenten der Freude und auch des Leids! Denn in ihr, in Maria, zeigt sich die Liebe des Vaters auf eine der schönsten und vollkommensten Weisen: in der Zärtlichkeit – vergessen wir nicht die Zärtlichkeit! – die Zärtlichkeit einer Mutter, die alles versteht, die alles verzeiht und die uns nie verlässt. Deshalb wenden wir uns an sie!
Der zweite ist ein Heiliger, der in diesem Land sehr verehrt wird und der hier auf seinen Missionsreisen immer wieder Gastfreundschaft fand. Ich spreche vom heiligen Franz Xaver, der in diesem Land mehrmals aufgenommen wurde, zuletzt am 21. Juli 1552.
Von ihm ist ein schöner Brief an den heiligen Ignatius und seine ersten Gefährten erhalten, in dem er seinen Wunsch zum Ausdruck bringt, alle Universitäten seiner Zeit zu besuchen, »schreiend mit lauter Stimme hier und dort, wie einer, der nicht mehr bei Sinnen ist […] um jene zu erschüttern, die mehr Wissen haben, als Liebe« so dass sie sich veranlasst fühlen, aus Liebe zu ihren Brüdern und Schwestern Missionare zu werden und »aus tiefstem Herzen zu sagen: ›Hier bin ich, Herr. Was willst Du, dass ich tun soll?‹« (Brief aus Cochín, Januar 1544).
Nach seinem und Marias Vorbild könnten auch wir uns diese Worte zu eigen machen, »Herr, hier bin ich; was willst du, dass ich tue?«, damit sie uns nicht nur in diesen Tagen, sondern immer begleiten, damit sie uns dazu anhalten, auf die Einladungen der Liebe und der Gerechtigkeit zu hören, welche weiterhin aus Gottes unendlicher Barmherzigkeit an uns ergehen, und unverzüglich darauf zu antworten.