Die Wirklichkeit ist wichtiger als die Idee: Das ist einer der Grundsätze, die im Laufe der Jahre meine Reflexion und meine Entscheidungen geleitet haben und die ich zu Beginn meines Pontifikats der Reflexion und der Entscheidungsfindung der kirchlichen Gemeinschaften unterbreitet habe (Evangelii gaudium, 231-232). Es ist mir eine Freude zu sehen, dass das von Sr. Linda Pocher vorgeschlagene Programm zur Schulung des Kardinalrats in Bezug auf das Thema der Frauen in der Kirche von eben diesem Grundsatz geleitet wird, auch im Zusammenhang mit einem ebenso wichtigen wie schwierigen Thema wie dem der Ämter in der kirchlichen Gemeinschaft.
Das christliche Denken – in seiner theologischen, rechtlichen, lehramtlichen und kulturellen Dimension, in seinem rechtmäßigen Bemühen, über die Kontingenz der Gegenwart hinauszugehen –, kann sich nie völlig vom Kontext lösen, in dem es formuliert wird. Im Laufe der Moderne, die besonders von der Faszination für »klare und deutliche« Ideen geprägt ist, ist auch die Kirche zuweilen in die Falle getappt, die Treue zu den Ideen für wichtiger zu halten als die Aufmerksamkeit gegenüber der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist jedoch immer größer als die Idee, und wenn unsere Theologie in die Falle der klaren und deutlichen Ideen gerät, dann wird sie unvermeidlich zu einem Prokrustesbett, das die Wirklichkeit oder einen Teil davon auf dem Altar der Idee opfert.
Ein gewisses Leiden der kirchlichen Gemeinschaften hinsichtlich der Art und Weise, wie das Amt verstanden und gelebt wird, ist keine neue Wirklichkeit. Das Drama des Missbrauchs hat uns gezwungen, die Augen zu öffnen für die Geißel des Klerikalismus, der nicht nur die geweihten Amtsträger betrifft, sondern eine verzerrte Machtausübung innerhalb der Kirche ist, die auf alle zutreffen kann: auch auf die Laien, auch auf die Frauen.
Die Leiden und Freuden der Frauen anzuhören ist gewiss ein Weg, uns der Wirklichkeit zu öffnen. Wenn wir ihnen ohne zu urteilen und ohne Vorurteile zuhören, werden wir uns bewusst, dass sie an vielen Orten und in vielen Situationen leiden, gerade aufgrund der mangelnden Anerkennung dessen, was sie sind und was sie tun und auch dessen, was sie tun und sein könnten, wenn sie nur den Raum und die Chancen dafür hätten. Die Frauen, die am meisten leiden, sind oft jene, die der Kirche besonders nahe sind, die zur Verfügung stehen, gut ausgebildet und bereit sind, Gott und seinem Reich zu dienen.
Dieser kleine Band, der die Herausforderungen aufgreift, mit denen drei Frauen den Kardinalsrat im Zusammenhang mit dem Amt und den Ämtern in der Kirche konfrontiert haben, hat den Vorteil, dass er nicht von der Idee ausgeht, sondern vom Hören auf die Wirklichkeit, von der weisheitlichen Auslegung der Erfahrung der Frauen in der Kirche. Und der synodale Prozess als Entscheidungsfindungsprozess geht von der Wirklichkeit und von der Erfahrung aus, im offenen Dialog und in schöpferischer Treue zur großen Überlieferung, die uns vorausgegangen ist und uns begleitet.
Ich möchte die derzeitige Entscheidungsfindung zum Thema des Amtes und der Ämter in der synodalen Kirche der Fürsprache der heiligen Männer und Frauen anvertrauen, die gesehen, gehört, am eigenen Leib erfahren haben, wie Jesus gedient hat, und die mit ihm den kirchlichen Leib in seiner ursprünglichen Gestalt gebildet haben: Maria, Petrus, Johannes, Maria Magdalena, um nur einige zu nennen, zusammen mit ihren Gefährten und Gefährtinnen, deren Geschichten und Namen wir kennen, sowie vielen weiteren namenlosen Jüngern und Jüngerinnen, Missionaren und Missionarinnen des Evangeliums, auf dass sie uns helfen mögen, treue und schöpferische Ausleger dessen zu sein, was der Herr will.
Vatikanstadt,
25. März 2024
(Orig. ital. in O.R. 11.7.2024)