Liebe Brüder und Schwestern,
guten Tag!
Heute sprechen wir über die dritte göttliche Tugend, die Liebe. Die anderen beiden, wir erinnern uns, sind der Glaube und die Hoffnung: Heute sprechen wir über die dritte, die Liebe. Sie ist der Höhepunkt des ganzen Weges, den wir mit den Katechesen über die Tugenden zurückgelegt haben. Wenn wir an die Liebe denken, weitet sich sofort das Herz, weitet sich der Verstand, kommen einem sofort die inspirierten Worte des heiligen Paulus im Ersten Brief an die Korinther in den Sinn. Zum Abschluss jenes wunderschönen Hymnus zitiert der heilige Paulus die Trias der göttlichen Tugenden und sagt: »Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; doch am größten unter ihnen ist die Liebe« (1 Kor 13,13).
Freundschaft und Wohlwollen
Paulus richtet diese Worte an eine Gemeinde, die alles andere als vollkommen ist in der geschwisterlichen Liebe: Die Christen von Korinth waren ziemlich streitsüchtig, es gab innere Spaltungen, einige meinten, immer Recht zu haben, und hörten den anderen nicht zu, betrachteten sie als minderwertig. Diesen ruft Paulus in Erinnerung, dass die Erkenntnis aufgeblasen macht, während die Liebe aufbaut (vgl. 1 Kor 8,1). Außerdem erwähnt der Apostel ein Ärgernis, das sogar den Augenblick höchster Vereinigung einer christlichen Gemeinde betrifft, also das »Herrenmahl«, die Eucharistiefeier: Auch dort gibt es Spaltungen, und einige nutzen es aus, um zu essen und zu trinken, und schließen jene aus, die nichts haben (vgl. 1 Kor 11,18-22). Angesichts dieser Situation hat Paulus ein klares Urteil: »Wenn ihr euch versammelt, ist das kein Essen des Herrenmahls« (V. 20); ihr habt ein anderes Ritual, das heidnisch ist, es ist nicht das Herrenmahl.
Wer weiß, vielleicht glaubte in der Gemeinde von Korinth keiner, eine Sünde begangen zu haben, und diese so harten Worte des Apostels klangen etwas unverständlich für sie. Wahrscheinlich waren alle überzeugt, gute Menschen zu sein, und wenn man sie über die Liebe befragt hätte, hätten sie geantwortet, dass die Liebe für sie gewiss ein sehr wichtiger Wert sei, ebenso wie die Freundschaft und die Familie. Auch in unseren Tagen ist die Liebe in aller Munde, im Mund vieler »Influencer« und in den Refrains vieler Lieder. Man spricht viel von der Liebe, aber was ist die Liebe?
»Aber die andere Liebe?« scheint Paulus seine Christen in Korinth zu fragen. Nicht jene Liebe, die aufsteigt, sondern jene, die absteigt; nicht jene, die nimmt, sondern jene, die gibt; nicht jene, die sich zur Schau stellt, sondern jene, die sich verbirgt. Paulus befürchtet, dass man in Korinth – ebenso wie heute bei uns – etwas durcheinanderbringt und dass von der göttlichen Tugend der Liebe, die nur von Gott kommt, in Wirklichkeit keine Spur vorhanden ist. Und während mit Worten alle versichern, gute Menschen zu sein, die eigene Familie und die eigenen Freunde zu lieben, so wissen sie in Wirklichkeit von der Liebe Gottes ziemlich wenig.
Die Christen der Antike hatten verschiedene griechische Worte zur Verfügung, um die Liebe zu definieren. Schließlich ist der Begriff »Agape« aufgetaucht, den wir gewöhnlich mit »Nächstenliebe« übersetzen. Denn in Wahrheit sind die Christen zu allen Formen der Liebe in der Welt fähig: Auch sie verlieben sich, wie es mehr oder weniger alle tun. Auch sie erfahren das Wohlwollen, das man in der Freundschaft spürt. Auch sie leben die Liebe zur Heimat und die universale Liebe für die ganze Menschheit. Es gibt aber eine größere Liebe, eine Liebe, die von Gott kommt und auf Gott ausgerichtet ist, die uns befähigt, Gott zu lieben, seine Freunde zu werden, die uns befähigt, den Nächsten zu lieben, wie Gott ihn liebt, mit dem Wunsch, die Freundschaft mit Gott zu teilen. Diese Liebe spornt uns um Christi willen an, dorthin zu gehen, wohin wir nach menschlichen Kriterien nicht gehen würden: Es ist die Liebe zum Armen, zu dem, was nicht liebenswert ist, zu dem, der uns nicht liebt und der nicht dankbar ist. Es ist die Liebe zu dem, den niemand lieben würde; auch zum Feind. Auch zum Feind. Das ist »göttlich«, das kommt von Gott, es ist das Wirken des Heiligen Geistes in uns.
Segen und Vergebung
Jesus sagt in der Bergpredigt: »Wenn ihr die liebt, die euch lieben, welchen Dank erwartet ihr dafür? Denn auch die Sünder lieben die, von denen sie geliebt werden. Und wenn ihr denen Gutes tut, die euch Gutes tun, welchen Dank erwartet ihr dafür? Das tun auch die Sünder« (Lk 6,32-33). Und abschließend sagt er: »Doch ihr sollt eure Feinde lieben« – wir reden gewöhnlich schlecht über die Feinde – »ihr sollt eure Feinde lieben und Gutes tun und leihen, wo ihr nichts zurückerhoffen könnt. Dann wird euer Lohn groß sein und ihr werdet Söhne des Höchsten sein; denn auch er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen« (V. 35). Denken wir daran: »Ihr sollt eure Feinde lieben und Gu-tes tun und leihen, wo ihr nichts zurückerhoffen könnt.« Vergessen wir das nicht!
In diesen Worten offenbart sich die Liebe als göttliche Tugend und nimmt den Namen »Nächstenliebe« an. Die Liebe ist Nächstenliebe. Wir merken sofort, dass es eine schwierige, ja sogar unmöglich zu praktizierende Liebe ist, wenn man nicht in Gott lebt. Unsere menschliche Natur lässt uns spontan das Gute und das Schöne lieben. Im Namen eines Ideals oder einer großen Zuneigung können wir auch großherzig sein und heroische Taten vollbringen. Die Liebe Gottes geht jedoch über diese Kriterien hinaus. Die christliche Liebe nimmt das an, was nicht liebenswert ist, sie bietet Vergebung an – wie schwierig ist es zu vergeben! Wie viel Liebe braucht es, um zu vergeben! – die christliche Liebe segnet jene, die fluchen, während wir es gewohnt sind, angesichts einer Beleidigung oder eines Fluchs wieder mit einer Beleidigung, oder mit einem Fluch zu antworten. Es ist eine so anspruchsvolle Liebe, dass sie fast unmöglich erscheint, und dennoch ist sie das Einzige, was von uns bleiben wird. Die Liebe ist das »enge Tor«, durch das man hindurchgeht, um ins Reich Gottes zu gelangen. Denn am Abend des Lebens werden wir nicht allgemein über die Liebe gerichtet werden, wir werden über die Nächstenliebe gerichtet werden, über die Liebe, die wir konkret gehabt haben. Und Jesus sagt uns das so schön: »Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan« (Mt 25,40). Das ist das Schöne, das Große der Liebe. Vorwärts und nur Mut!
(Orig. ital. O.R. 15.5.2024)