Wer sind die Heiligen? Vor allem sind sie keine Superhelden, worauf Papst Franziskus uns oft hinweist. Und doch ist im kollektiven Bewusstsein auch derjenigen, die nicht glauben, Heiligkeit Synonym von Au-ßergewöhnlichkeit. Wenn dein Name im Heiligenkalender steht, so könnte man salopp sagen, dann ist der Grund sicher ein außergewöhnliches Leben. Doch Franziskus hat – in einem Apostolischen Schreiben, das eine vertiefte Lektüre verdienen würde – betont, dass alle Getauften zur Heiligkeit berufen sind, dazu, die »Heiligen von nebenan« zu sein, die wesentlich zahlreicher sind als die im Kalender genannten. Heiligkeit, so schreibt der Papst in Gaudete et exsultate, sieht man »im geduldigen Volk Gottes: in den Eltern, die ihre Kinder mit so viel Liebe erziehen, in den Männern und Frauen, die arbeiten, um das tägliche Brot nach Hause zu bringen, in den Kranken, in den älteren Ordensfrauen, die weiter lächeln«.
Von dieser Heiligkeit des Gottesvolkes – des geduldigen Volkes, dass sich Gott, dem Vater, anzuvertrauen weiß und sich von ihm führen lässt – waren Johannes XXIII. und
Johannes Paul II. fest überzeugt, die am
27. April vor 10 Jahren auf einem überfüllten Petersplatz heiliggesprochen wurden. Angelo Roncalli und Karol Wojtyła – zunächst in Venedig beziehungsweise Krakau und dann im Petrusamt in Rom – waren »Hirten mit dem Geruch der Schafe«, wie Jorge Mario Bergoglio heute sagen würde. Sie haben als Hirten mitten unter dem Volk gelebt, ohne davor zurückzuschrecken, die Wunden Christi zu be-rühren, sichtbare Wunden im Leiden der Schwestern und Brüder, die jenen Leib bilden, der die Kirche ist. Dieses Bild von der Kirche als Leib wurde vom Zweiten Vatikanischen Konzil wieder in den
Mittelpunkt des kirchlichen Lebens gerückt und verbunden mit der Ursprungserfahrung der ers-ten christlichen Gemeinde, von der die Apostelgeschichte spricht. Auch hier waren beide Hirten beteiligt: die Idee des Konzils entsprang dem fügsamen und mutigen Herzen von Papst Johannes XXIII. und hatte in dem jungen Bischof Wojtyła einen seiner leidenschaftlichsten Verfechter.
Wir leben in einer Zeit großer Umwälzungen: In den letzten Jahren waren es zuerst die Pandemie, dann der Krieg in der Ukraine und schließlich der Krieg im Nahen Osten, die Leid, Angst und ein beunruhigendes Gefühl verursacht haben, das aufgrund der Globalisierung heute eine bestimmende Dimension der gesamten Menschheit zu sein scheint. Doch die Zeit, in der Roncalli und Wojtyla lebten, war nicht weniger komplex, nicht weniger geprägt von der Angst vor der Auslöschung der Menschheit. Johannes XXIII., von Alter und Krankheit gezeichnet, wurde gerade in den Tagen der Konzilseröffnung mit der Kubakrise konfrontiert. Johannes Paul II., der in seiner Heimat Polen als Priester die Gräueltaten der Nationalsozialisten und als Bischof die erdrückende kommunistische Diktatur erlebt hatte, setzte sich als Papst, beseelt von prophetischer Beharrlichkeit, mit der Konfrontation zwischen den beiden Blöcken des Kalten Krieges auseinander, bis zur dramatischen Auflösung der Sowjetunion und der damit verbundenen Illusion vom »Ende der Geschichte«.
Diese beiden Päpste des 20. Jahrhunderts antworteten auf die Tragödien ihrer Zeit nicht mit Resignation und Pessimismus. Sie stimmten nicht in die Litaneien der »Unglückspropheten« ein, die sich heute wie damals lieber über das beklagen, was schiefläuft, als aktiv zu einer Verbesserung beizutragen. So hat Franziskus in der Predigt bei der Messe zur Heiligsprechung unterstrichen, dass bei Johannes XXIII. und Johannes Paul II. »der Glaube an Jesus Christus, den Erlöser des Menschen und Herrn der Geschichte, stärker war«, ein Glaube, der in der Freude und Hoffnung zum Ausdruck kam, die nur derjenige bezeugen kann, der in seinem Leben Christus begegnet ist. Und er sagte in der Predigt auch: »Das sind die Hoffnung und die Freude, mit denen die beiden heiligen Päpste vom auferstandenen Herrn beschenkt wurden und die sie ihrerseits in Fülle an das Volk Gottes verschenkt haben, wofür sie ewigen Dank empfangen.« Eine Dankbarkeit gegenüber den beiden Heiligen, die mit den Jahren nicht verblasst, sondern vielmehr wächst, verbunden mit der Überzeugung, dass sie nun vom Himmel aus Fürsprache halten können für die Kirche, für das Volk Gottes, dem sie in ihrem irdischen Leben mit Liebe und Hingabe gedient haben.
Von Alessandro Gisotti