Liebe Brüder, willkommen!
Ich begrüße den Bischof von Arezzo-Cortina-Sansepolcro, der euch begleitet, und euch alle. Ich freue mich über die Begegnung mit euch in diesem Jahr, in dem des 800. Jahrestages der Gabe der Stigmata gedacht wird, die der heilige Franziskus am 14. September 1224 in La Verna empfangen hat, zwei Jahre vor seinem Tod. Danke, dass ihr die Reliquie seines Blutes mitgebracht habt, die eine lange Pilgerreise durch verschiedene Gemeinschaften angetreten hat, um an die Bedeutung der Gleichgestaltung mit dem »armen und gekreuzigten Christus« (Thomas von Celano, Vita secunda, Nr. 105) zu erinnern.
Gerade für diese Gleichgestaltung sind die Wundmale eine der ausdrucksvollsten Zeichen, die der Herr im Laufe der Jahrhunderte den Brüdern und Schwestern im Glauben in unterschiedlichen Situationen, verschiedenen Standes und verschiedener Herkunft gewährt hat. Alle im heiligen Gottesvolk erinnern sie an den Schmerz, den Jesus aus Liebe zu uns und zu unserem Heil in seinem Fleisch erlitten hat. Aber sie sind auch ein Zeichen des österlichen Sieges, denn genau diese Wunden sind es, durch die die Barmherzigkeit des Gekreuzigten und Auferstandenen wie durch Kanäle zu uns strömt. Wir wollen innehalten und über die Bedeutung der Stigmata nachdenken, zuerst für das Leben des Christen und dann für das Leben des Franziskaners.
Die Wundmale im Leben des Christen. Der Jünger Jesu findet im stigmatisierten heiligen Franziskus einen Spiegel seiner Identität. Denn der glaubende Mensch gehört nicht zu einer Gruppe des Denkens und Tuns, die nur von menschlichen Kräften zusammengehalten wird, sondern zu einem lebendigen Leib, dem Leib Christi: der Kirche. Und diese Zugehörigkeit ist nicht nominell, sondern real: Sie wurde dem Christen durch die Taufe eingeprägt, die uns gezeichnet hat mit dem Pascha des Herrn. So entdeckt jeder von uns in der Liebesgemeinschaft der Kirche, wer er ist: ein geliebtes, gesegnetes, versöhntes Kind Gottes, ausgesandt die Wunder der Gnade zu bezeugen und Geschwisterlichkeit zu leben und zu fördern. Daher ist der Christ aufgerufen, besonders auf die »Stigmatisierten« zuzugehen, denen er begegnet: die vom Leben »Gezeichneten«, die die Narben des ihnen zugefügten Leids und Unrechts oder eigener Fehler tragen. Und bei dieser Sendung ist der Heilige von La Verna ein Weggefährte, der unterstützt und hilft, sich von den Schwierigkeiten, Ängsten und Widersprüchen nicht erdrücken zu lassen, den eigenen und denen der anderen. Und das ist es, was Franziskus jeden Tag getan hat, von der Begegnung mit dem Leprakranken angefangen, indem er sich selbst vergessen hat in Hingabe und Dienen, wobei er in den letzten Jahren sogar soweit gelangte, auch das, was er ins Leben gerufen hatte, in gewisser Weise loszulassen – das ist ein Schlüsselwort: loslassen – und mit Mut und Demut offen zu sein für neue Wege, fügsam gegenüber dem Herrn und den Brüdern. In seiner Armut im Geiste – unterstreichen wir dies: Franziskus, die Armut im Geiste – und in seiner vertrauensvollen Hingabe an Gottvater hat er allen ein stets aktuelles Zeugnis für das Evangelium hinterlassen. Wenn du den schmerzensreichen Christus besser kennenlernen willst, dann suche einen Franziskaner. Und ihr: Denkt darüber nach, ob ihr dessen Zeugen seid …
Und kommen wir nun zum zweiten Punkt: die Wundmale im Leben des Franziskaners. Euer heiliger Gründer bietet euch einen machtvollen Aufruf, in euch selbst und in eurer Geschichte Einheit herzustellen. Denn der Gekreuzigte, der ihm in La Verna erscheint und seinen Leib zeichnet, ist derselbe, der sich ihm am Anfang seiner Bekehrung in sein Herz eingeprägt und ihm den Auftrag gegeben hat, seine Kirche wiederherzustellen.
Zu diesem Punkt des »Wiederherstellens« möchte ich die Fähigkeit der Vergebung hinzufügen. Ihr seid gute Beichtväter: die Franziskaner sind berühmt dafür. Vergebt alles, vergebt immer! Gott wird nicht müde zu vergeben; wir sind es, die müde werden, um Vergebung zu bitten. Vergebt immer. Nachsichtig sein, ja, aber vergebt immer.
Bei Franziskus, dem Mann des Friedens im Zeichen des Kreuzes, mit dem er die Brüder segnete, sind die Stigmata das Siegel des Wesentlichen. Das ruft auch euch auf, in den verschiedenen Aspekten eures Lebens zum Wesentlichen zurückzukehren – auf den Wegen der Ausbildung, in der Arbeit des Apostolats und bei der Anwesenheit inmitten der Menschen – und Vergebung zu bringen als Menschen, denen vergeben worden ist; Heilung zu bringen, als Menschen, die geheilt worden sind; froh und einfach in der Geschwisterlichkeit, mit der Kraft der Liebe, die der geöffneten Seite Christi entspringt und die genährt wird in eurer persönlichen Begegnung mit Ihm, die jeden Tag erneuert werden muss mit dem seraphischen Eifer eines brennenden Herzens.
Es ist schön, liebe franziskanische Brüder, dass ihr in diesem Jubiläumsjahr von hier neu aufbrecht. Ihr brecht von hier aus auf, insbesondere ihr, die ihr die Hüter des Heiligtums von La Verna seid. Fühlt euch berufen, in eure Gemeinschaften und Fraternitäten, in die Kirche und in die Welt, ein wenig von dieser unermesslichen Liebe zu tragen, die Jesus gedrängt hat, am Kreuz für uns zu sterben. Die vertraute Nähe zu Ihm möge euch, wie es bei Franziskus war, immer demütiger, vereinter, froher und wesentlicher werden lassen, in der Liebe zum Kreuz und in der Aufmerksamkeit für die Armen, Zeugen des Friedens und Propheten der Hoffnung in dieser unserer Zeit, die so große Mühe hat, die Gegenwart des Herrn zu erkennen. Mögt ihr durch euer geweihtes Leben immer mehr Zeichen und Zeugnis des Gottesreiches sein, das mitten unter den Menschen da ist und wächst.
Und es gibt noch etwas, das ich euch sagen möchte. Ich denke an meine Heimat: Es gibt dort »Pfaffenverächter«, die auf Holz klopfen, wenn ein Priester vorbeikommt, denn das bringt Unglück, aber niemals tut man dies bei einem Franziskanerhabit. Das ist seltsam. Niemals wird ein Franziskaner beschimpft. Warum, das weiß man nicht. Aber euer Ordensgewand lässt an den heiligen Franziskus denken und an die empfangenen Gnaden. Macht weiter so, und es spielt keine Rolle, wenn unter dem Habit eine
Jeans getragen wird. Das ist kein Problem. Aber geht voran!
Und um diese Gnade der fortwährenden, wohltuenden Umkehr zu erbitten, möchte ich mit einer Anrufung eures Seraphischen Vaters schließen, mit diesem Gebet, das ich euch anvertraue, und ich bitte euch auch, vor dem Herrn meiner im Gebet zu gedenken.
Heiliger Franziskus,
von der gekreuzigten Liebe an Leib
und Seele verwundeter Mensch,
wir schauen auf dich, der du mit den
heiligen Wundmalen geschmückt bist,
damit wir lernen, Jesus, den Herrn,
und unsere Brüder und Schwestern
mit deiner Liebe, mit deiner Leidenschaft
zu lieben.
Mit dir ist es leichter, den armen und
gekreuzigten Christus zu betrachten
und ihm nachzufolgen.
Schenke uns, Franziskus
die Frische deines Glaubens,
die Gewissheit deiner Hoffnung,
die sanfte Güte deiner Nächstenliebe.
Bitte für uns, damit wir freudig
die Lasten des Lebens zu tragen
vermögen und in den Prüfungen
die Zärtlichkeit des Vaters und
den Balsam des Heiligen Geistes
erfahren können.
Mögen unsere Wunden durch das
Herz Christi geheilt werden,
damit wir, wie du, Zeugen seiner
Barmherzigkeit werden können,
die immer wieder das Leben derer
heilt und erneuert,
die ihn mit aufrichtigem Herzen suchen.
O Franziskus, der du dem Gekreuzigten
ähnlich geworden bist,
bewirke, dass deine Wundmale für uns
und für die Welt
leuchtende Zeichen des Lebens und
der Auferstehung sein mögen,
auf dass sie neue Wege des Friedens
und der Versöhnung weisen.
Amen.
Und nun möchte ich euch mit der Reliquie des heiligen Franziskus den Segen erteilen.
(Orig. ital. in O.R. 5.4.2024)