· Vatikanstadt ·

»Dignitas infinita« – Das Dokument des Dikasteriums für die Glaubenslehre

Vatikan listet »schwere Verletzungen« der Menschenwürde auf

 Vatikan listet »schwere Verletzungen«  der Menschenwürde auf  TED-015
12. April 2024

Das Dokument Dignitas infinita des Dikas-teriums für die Glaubenslehre war fünf Jahre in Vorbereitung und schließt das päpstliche Lehramt der letzten zehn Jahre mit ein: darunter die Themen Krieg und Armut, Gewalt gegen Migranten und Gewalt gegen Frauen, Abtreibung, Leihmutterschaft und Euthanasie, Gender-Theorie und digitale Gewalt.

Die drei ersten Kapitel bilden eine Grundlage für das vierte, das einige schwerwiegende Verletzungen der Menschenwürde auflis-tet. Dignitas infinita erinnert an den 75. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und bekräftigt »die Unausweichlichkeit des Konzepts der Würde der menschlichen Person innerhalb der christlichen Anthropologie« (Präsentation). Die wichtigste Neuerung des Dokuments besteht darin, dass neben dem Thema der Menschenwürde im bioethischen Bereich auch eine Reihe von Schlüsselthemen des jüngsten päpstlichen Lehramtes behandelt werden. In der »nicht erschöpfenden« Liste erscheinen unter den Verletzungen der Menschenwürde neben Abtreibung, Euthanasie und Leihmutterschaft auch Krieg, das Drama der Armut und der Migranten sowie der Menschenhandel. Der neue Text trägt somit dazu bei, eine Dichotomie zu überwinden: auf der einen Seite diejenigen, die sich ausschließlich auf den Schutz des werdenden oder zu Ende gehenden Lebens konzentrieren und dabei viele andere Angriffe auf die Menschenwürde vergessen. Und auf der anderen Seite diejenigen, die sich nur auf den Schutz der Armen und Migranten konzentrieren – und dabei vergessen, dass das Leben von der Empfängnis bis zu seinem natürlichen Ende verteidigt werden muss.

Grundlegende Prinzipien

Die ersten drei Kapitel der Erklärung erinnern an die Grundprinzipien. »Die Kirche bekräftigt und bestätigt im Licht der Offenbarung in absoluter Art und Weise diese ontologische Würde der menschlichen Person, die nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen und in Christus Jesus erlöst wurde« (Nr. 1).

Eine »unveräußerliche Würde […], die der menschlichen Natur unabhängig jeden kulturellen Wandels zukommt« (6); nichts Selbstgeschaffenes, sondern ein dem Menschen gemachtes »Geschenk«, das auch »bei einem ungeborenen Kind, bei einem bewusstlosen Menschen, bei einem alten Menschen im Todeskampf« (9) erhalten bleibt. »Die Kirche verkündet die gleiche Würde aller Menschen, unabhängig von ihren Lebensumständen und ihren Eigenschaften« (17), und sie tut dies auf der Grundlage der biblischen Offenbarung: Frauen und Männer sind nach dem Bild Gottes geschaffen. Christus hat durch seine Menschwerdung »die Würde des Leibes und der Seele« bekräftigt (19). Und durch seine Auferstehung hat er offenbart, dass »der erhabenste Aspekt der Würde des Menschen in seiner Berufung zur Gemeinschaft mit Gott« besteht (20).

Die Würde jedes Menschen

Dann kommt das Dokument des Glaubensdikasteriums auf ein Missverständnis in Sachen Menschenwürde zu sprechen. Gemeint ist die Position einiger, die lieber von der »persönlichen Würde« als von der »Menschenwürde« sprechen, »weil sie unter einer Person lediglich ›ein vernunftbegabtes Wesen‹ verstehen«. »Das ungeborene Kind hätte demnach keine persönliche Würde, ebenso wenig wie ein unselbstständig gewordener alter Mensch, oder jemand mit einer geistigen Behinderung. Die Kirche besteht im Gegenteil auf der Tatsache, dass die Würde jeder menschlichen Person, gerade weil ihr untrennbar verbunden, ›jenseits aller Umstände‹ [erhalten] bleibt« (24). Darüber hinaus werde der Begriff »Menschenwürde« manchmal missbraucht, »um eine willkürliche Vermehrung neuer Rechte zu rechtfertigen, […] als ob die Möglichkeit,
jede individuelle Präferenz oder jede subjektive Befindlichkeit zu äußern und zu verwirklichen, garantiert werden müsste« (25).

Eine Liste von Rechtsverletzungen

Die Erklärung listet schließlich »einige der vielen schweren Verletzungen der Menschenwürde in der heutigen Welt« auf, zunächst einmal alles, was »zum Leben selbst in Gegensatz steht, wie jede Art Mord, Völkermord, Abtreibung, Euthanasie und auch der freiwillige Selbstmord«. Aber auch alles, »was immer die Unantastbarkeit der menschlichen Person verletzt, wie Verstümmelung, körperliche oder seelische Folter und psychischer Zwang«. Und schließlich »was immer die menschliche Würde angreift, wie unmenschliche Lebensbedingungen, willkürliche Verhaftung, Verschleppung, Sklaverei, Prostitution, Mädchenhandel und Handel mit Jugendlichen, sodann auch unwürdige Arbeitsbedingungen, bei denen der Arbeiter als bloßes Erwerbsmittel und nicht als freie und verantwortliche Person behandelt wird« (die drei letzten Zitate entstammen dem Konzilstext Gaudium et spes). Auch die Todesstrafe wird hier angeführt, weil sie »unter allen Umständen die unveräußerliche Würde eines jeden Menschen« verletzt (34).

Armut, Krieg und Menschenhandel

Im Einzelnen beschäftigt sich Dignitas infinita im vierten Kapitel, das einige konkrete Verletzungen der Menschenwürde behandelt, zunächst mit dem »Drama der Armut«: Es bedeute »eine der größten Ungerechtigkeiten in der Welt von heute« (36, ein Zitat von Papst Johannes Paul II.). Dann wird der Krieg genannt, »eine weitere Tragödie, die die Menschenwürde verleugnet« und die »immer eine ›Niederlage der Menschlichkeit‹ ist« (38), bis zur Aussage: »Angesichts dieser Tatsache ist es heute sehr schwierig, sich auf die in vergangenen Jahrhunderten gereiften rationalen Kriterien zu stützen, um von einem eventuell ›gerechten Krieg‹ zu sprechen« (39).

Weiter spricht der Text über die Leiden der Migranten, die ihr Leben in Gefahr bringen, »weil sie nicht mehr die Mittel haben, eine Familie zu gründen, zu arbeiten oder sich zu ernähren« (40). Und das Vatikandokument geht auch auf das Phänomen des Menschenhandels ein, der »tragische Dimensionen« annehme; es definiert ihn mit einem Zitat von Papst Franziskus als »eine niederträchtige Aktivität«, »eine Schande für unsere Gesellschaften, die sich als zivilisiert bezeichnen«, und fordert »Ausbeuter und Kunden« zu einer eingehenden Gewissenserforschung auf (41). Entschieden wird dann zum Kampf aufgerufen gegen »Handel von menschlichen Organen und Geweben, sexuelle Ausbeutung von Knaben und Mädchen, Sklavenarbeit einschließlich Prostitution, Drogen- und Waffenhandel, Terrorismus und internationale organisierte Kriminalität« (42). Das Dokument beschäftigt sich auch mit sexuellem Miss-brauch: Er hinterlasse »tiefe Narben im Herzen« der Betroffenen und bedeute »ein Leid, das ein Leben lang andauern und durch keine Reue geheilt werden kann« (43). Ebenso geht es auf die Diskriminierung von Frauen ein und verurteilt das Phänomen der Gewalt gegen Frauen, wozu unter anderem auch die »Praxis der Polygamie« (45) und der Femizid (46) gezählt wird. Oder der »Zwang zur Abtreibung«, »der sowohl die Mutter als auch das Kind betrifft und der so oft der Befriedigung des männlichen Egoismus dient«.

Abtreibung und Leihmutterschaft

Die Verurteilung der Abtreibung ist in Dignitas infinita eindeutig: »Unter allen Verbrechen, die der Mensch gegen das Leben begehen kann, weist die Vornahme der Abtreibung Merkmale auf, die sie besonders schwerwiegend und verwerflich machen« (erneut ein Zitat Johannes Pauls II.); die Verteidigung des ungeborenen Lebens sei »eng mit der Verteidigung jedes beliebigen Menschenrechtes verbunden« (47). Nachdrücklich wird auch die Leihmutterschaft abgelehnt, »durch die das unermesslich wertvolle Kind zu einem bloßen Objekt wird«. Die Praxis der Leihmutterschaft bedeute eine schwere Verletzung der Würde von Frau und Kind gleichermaßen: »Sie basiert auf der Ausnutzung der materiellen Notlage der Mutter. Ein Kind ist immer ein Geschenk und niemals ein Vertragsgegenstand« (48). Auch auf Eu-thanasie und die Beihilfe zum Suizid geht die Liste ein; es sei irreführend, wenn sie in einigen Gesetzen als »würdevolles Sterben« definiert würden. Das Leiden führe keineswegs dazu, »dass der kranke Mensch die ihm innewohnende und unveräußerliche Würde verliert« (51). Das Dokument betont dann, wie wichtig Palliativmedizin sei, und dass es »jeden therapeutischen Übereifer oder unverhältnismäßige Maßnahme zu vermeiden« gelte. »Das Leben ist ein Recht, nicht der Tod, der angenommen werden muss und nicht verabreicht werden darf« (52). Nicht zuletzt wird auch der Ausschluss von Menschen mit Behinderungen (53) als schwerer Verstoß gegen die Menschenwürde gewertet.

Gender-Theorie

Den Autoren des Dokuments ist es ein Anliegen, hervorzuheben, »dass jeder Mensch, unabhängig von seiner sexuellen Orientierung, in seiner Würde geachtet und mit Respekt aufgenommen werden soll und sorgsam zu vermeiden ist, ihn ›in irgendeiner Weise ungerecht zurückzusetzen‹ oder ihm gar mit Aggression und Gewalt zu begegnen«. Es verletze die menschliche Würde, dass »mancherorts nicht wenige Menschen allein aufgrund ihrer sexuellen Orientierung inhaftiert, gefoltert und sogar des Lebens beraubt werden« (55). Auf diese Prämisse folgt eine Kritik an der Gender-Theorie, »die sehr gefährlich ist, weil sie mit ihrem Anspruch, alle gleich zu machen, die Unterschiede auslöscht« (56). Das Dokument erinnert an die kirchliche Lehre, »dass das menschliche Leben in all seinen Bestandteilen, körperlich und geistig, ein Geschenk Gottes ist, von dem gilt, dass es mit Dankbarkeit angenommen und in den Dienst des Guten gestellt wird. Über sich selbst verfügen zu wollen, wie es die Gender-Theorie vorschreibt, bedeutet […] nichts anderes, als der uralten Versuchung des Menschen nachzugeben, sich selbst zu Gott zu machen« (57). Die Gender-Theorie versuche, »den größtmöglichen Unterschied zwischen Lebewesen zu leugnen: den der Geschlechter« (58). Deshalb »sind alle Versuche abzulehnen, die den Hinweis auf den unaufhebbaren Geschlechtsunterschied zwischen Mann und Frau verschleiern« (59). Ähnlich negativ fällt auch das Urteil zum Thema Geschlechtsumwandlung aus. Jeder Eingriff dieser Art berge die Gefahr, »die einzigartige Würde zu bedrohen, die ein Mensch vom Moment der Empfängnis an besitzt«. An dieser Stelle folgt allerdings eine Differenzierung: »Damit soll nicht ausgeschlossen werden, dass eine Person mit bereits bei der Geburt vorhandenen oder sich später entwickelnden genitalen Anomalien sich für eine medizinische Behandlung zur Behebung dieser Anomalien entscheiden kann« (60).

Digitale Gewalt

Sie ist der letzte Punkt auf der Liste: die »Gewalt in der digitalen Welt«. »Neue Formen der Gewalt breiten sich über die Sozialen Medien aus, wie z. B. Cybermobbing; das Internet dient auch als Kanal zur Verbreitung von Pornografie und der Ausbeutung von Menschen für sexuelle Zwecke oder durch Glücksspiel» (61). Die Erklärung, die von Kardinal Víctor Manuel Fernández unterzeichnet und vom Papst approbiert worden ist, schließt mit der Aufforderung, »dass die Achtung der Würde der menschlichen Person unabhängig von allen Umständen in den Mittelpunkt des Einsatzes für das Gemeinwohl und jeder Rechtsordnung gestellt wird« (64).

(vatican news-or)

Von Andrea Tornielli