Liebe Brüder und Schwestern,
guten Tag!
Ich danke euch, dass ihr heute Morgen hierhergekommen seid und dieses Treffen zum 90. Jahrestag der Eröffnung eures Pries-terseminars »Alessio Ascalesi« erbeten habt. Ich begrüße Erzbischof Domenico Battaglia und die Mitbrüder im Bischofsamt, den Rektor, die Ausbilder und die Spirituale und danke euch allen für euren wertvollen Dienst. Mit Freude grüße ich alle, die in unterschiedlicher Form zu eurer Ausbildung beitragen: den Rektor und den Dekan der Fakultät, die Schwestern und auch die Ehepaare, deren Anwesenheit ein wichtiges Zeichen ist, das uns an die Komplementarität zwischen Weihe und Ehesakrament erinnert: In der Pries-terausbildung brauchen wir den Beitrag derer, die den Weg der Ehe gewählt haben. Vielen Dank für das, was ihr tut! Unser Dank gilt auch den psychologischen Beratern, dem Verwaltungs- und Dienstpersonal.
Ich wende mich mit Zuneigung an euch Seminaristen. Ich möchte euch danken dafür, dass ihr dem Ruf des Herrn gefolgt seid und dass ihr bereit seid, seiner Kirche zu dienen; und ich möchte euch ermutigen, jeden Tag die Schönheit der Treue zu pflegen, mit Begeisterung und Engagement, und euer Leben dem unablässigen Wirken des Heiligen Geis-tes zu überlassen, der euch hilft, die Gestalt Christi anzunehmen. Erinnern wir uns da-ran, dass die Ausbildung nie endet, sondern ein Leben lang dauert, und dass man, wenn man damit aufhört, nicht dort bleibt, wo man war, sondern zurückfällt. Wenn ich an diese ständige innere Arbeit, die Priesterausbildung, und an das Jubiläum eures Seminars denke, kommt mir das Bild einer Baustelle in den Sinn.
Schon die Kirche ist eine immer offene Baustelle. Das heißt, sie bleibt ständig in Bewegung, offen für die Neuheit des Geistes und überwindet die Versuchung, nur sich selbst und ihre eigenen Interessen zu schützen. Die Hauptaufgabe der »Baustelle Kirche« besteht darin, in der Gemeinschaft mit dem auferstandenen Gekreuzigten zu verbleiben und den Menschen die Schönheit seines Evangeliums zu bringen. Das ist das Wesentliche. Das ist es, was uns der synodale Prozess lehrt, das ist es, was uns das kompro-misslose Hören auf den Geist und die Menschen unserer Zeit abverlangt; das ist es aber auch, was von euch verlangt wird: Diener – das heißt geweihter Priester – zu sein, die es verstehen, in jeder Situation einen Stil der pastoralen Unterscheidung anzunehmen, wohl wissend, dass wir alle, Priester wie Laien, auf dem Weg zur Fülle sind und Arbeiter auf einer Baustelle. Wir können keine monolithischen und vorgefertigten Antworten auf die komplexe Realität von heute anbieten, sondern müssen unsere Energie darauf verwenden, das Wesentliche zu verkünden, nämlich die Barmherzigkeit Gottes, und sie durch Nähe, Väterlichkeit, Güte und die Verfeinerung der Kunst der Unterscheidung zu bekunden.
Aus diesem Grund ist auch der Weg der Priesterausbildung eine Baustelle. Man darf nie den Fehler machen, zu glauben, man sei schon angekommen, man sei den Herausforderungen gewachsen. Die Priesterausbildung ist eine Baustelle, auf der jeder von euch aufgerufen ist, sich in der Wahrheit einzubringen, um Gott durch die Jahre hindurch sein Werk aufbauen zu lassen. Habt also keine Angst, den Herrn in eurem Leben handeln zu lassen. Wie auf einer Baustelle wird der Geist zuerst kommen, um jene Aspekte, jene Überzeugungen, jenen Stil und sogar jene inkohärenten Ideen über den Glauben und den Dienst abzureißen, die euch daran hindern, gemäß dem Evangelium zu wachsen. Dann wird derselbe Geist, nachdem er von den inneren Irrtümern gereinigt hat, euch ein neues Herz geben, euer Leben nach dem Stil Jesu aufbauen, euch zu neuen Geschöpfen und missionarischen Jüngern machen. Er wird eure Begeisterung durch das Kreuz reifen lassen, so wie er es bei den Aposteln getan hat. Aber habt keine Angst davor: Es kann sicherlich eine anstrengende Arbeit sein, aber wenn ihr fügsam und treu bleibt, dem Wirken des Geistes zur Verfügung steht, ohne euch zu verkrampfen und zu verteidigen, werdet ihr die Güte des Herrn inmitten eurer Schwächen und in der reinen Freude am Dienst entdecken. Grabt auf dieser Baustelle, die eure Ausbildung ist, in die Tiefe, indem ihr mit Aufrichtigkeit »die Wahrheit« in euch sucht, das innere Leben pflegt, über das Wort Gottes meditiert, die Fragen unserer Zeit und die theologischen und pastoralen Themen im Studium vertieft. Und eines möchte ich euch empfehlen: Arbeitet an eurer emotionalen und menschlichen Reife. Ohne sie kommt man nicht voran!
Schließlich gleicht die Struktur des Pries-terseminars selbst einer großen Baustelle. Und ich beziehe mich natürlich nicht auf Bauarbeiten. Im Bereich der Priesterausbildung ist ein Prozess im Gange, der neue Fragen und neue Erkenntnisse mit sich bringt: Die Ausbildungswege werden in vielerlei Hinsicht umgestaltet, um den Herausforderungen gerecht zu werden, die das Priesteramt mit sich bringt und die von allen Beteiligten Engagement, Leidenschaft und eine gesunde Kreativität verlangen. Neue pastorale und missionarische Erfahrungen werden erprobt, um eine allmähliche Eingliederung in das künftige priesterliche Leben zu ermöglichen; Unterbrechungen des Ausbildungswe-ges sind vorgesehen, um die individuelle Reifung zu fördern. Es ist gut, diese Neuerungen zu begrüßen und zu prüfen, sie als Möglichkeiten der Gnade und des Dienstes zu erleben und Gottes Gegenwart in ihnen zu erkennen.
Wir haben soeben die Fastenzeit begonnen, die, wie ich bereits Gelegenheit hatte zu sagen, »eine Zeit kleiner und großer Entscheidungen gegen den Strom« sein soll, in der es gilt, »die Lebensweise« zu überdenken (vgl. Botschaft zur Fastenzeit 2024). Möge auch eure Gemeinschaft diesen Weg der Umkehr und Erneuerung beschreiten. Und wie? Indem ihr euch mit neuem Staunen von der Liebe Gottes erobern lasst, der Grundlage der Berufung, die vor allem in der Anbetung und im Kontakt mit dem Wort Gottes angenommen und wiederentdeckt wird; indem ihr mit Freude den Geschmack an der Einfachheit und an der Vermeidung von Verschwendung wiederentdeckt; indem ihr einen Lebensstil erlernt, der euch zu Priestern werden lässt, die fähig sind, sich den anderen zu schenken und auf die Ärmsten zu achten; indem ihr euch nicht vom Kult um das Erscheinungsbild und des Scheins täuschen lasst, sondern euch um das innere Leben kümmert; indem ihr euch um die Gerechtigkeit und die Schöpfung sorgt, aktuelle und brennende Themen in eurer Region, die diesbezüglich mutige Worte und prophetische Zeichen von der Kirche erwartet; indem ihr in Frieden und Harmonie lebt, Spaltungen überwindet und lernt, in einfacher Brüderlichkeit zu leben. Und Brüderlichkeit ist gerade heute eines der größten Zeugnisse, das wir der Welt geben können.
Mögen die »laufenden Arbeiten« an eurer Baustelle von der Fürsprache der Heiligen begleitet werden: von eurem Schutzpatron Gennaro, dessen Gegenwart und Blut weiterhin das Land, das ihr bewohnt, benetzt; vom heiligen Vincenzo Romano, dem Pfarrer, der in eurem Priesterseminar ausgebildet wurde und ein Vorbild ist an apostolischem Eifer und missionarischem Geist; und vom seligen Mariano Arciero, der sein Spiritual war und dessen liturgisches Gedenken heute gefeiert wird. Ich wünsche euch alles Gute auf eurem Weg und begleite euch mit meinem Gebet. Vergesst bitte nicht, auch für mich zu beten. Danke.
(Orig. ital. in O.R. 16.2.2024)