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Zur Gebetswoche für die Einheit der Christen

Ein Bruderkuss, der verpflichtet

Athenagoras I. (l.), ökumenischer Patriarch von Konstantinopel, und Papst Paul VI. umarmen sich am ...
26. Januar 2024

Am 5. und 6. Januar sind es sechzig Jahre gewesen, als sich in Jerusalem Papst Paul VI. und der Ökumenische Patriarch Athenagoras begegnet sind. Es ist die erste Begegnung zwischen einem Papst und einem Ökumenischen Patriarchen gewesen, seit sich Papst Eugen IV. und Patriarch Joseph II. auf dem Konzil von Ferrara (1438-1439) getroffen haben. Das runde Jubiläum ist ein willkommener Anlass, zunächst in die schmerzliche Vergangenheit in der Beziehung zwischen beiden Kirchen zu blicken, wohl wissend, dass die einzige Weise, Vergangenes zu verändern, in der Reinigung des geschichtlichen Gedächtnisses und im Verzeihen besteht. Der Blick in die Vergangenheit hat jedoch vor allem das Ziel, das seit 1964 Erreichte dankbar festzuhalten und neue Schritte in die Zukunft zu ermöglichen.

Beginn der Wiederherstellung
der Liebe mit Rechtskraft

Die Begegnung in Jerusalem ist vor allem deshalb als geschichtsträchtig zu würdigen, weil damals der gegenseitige Wille zur Wiederherstellung der Liebe zwischen beiden Kirchen mit dem Bruderkuss besiegelt worden ist. Der Bruderkuss steht dabei vor unseren Augen als bleibende Ikone der Bereitschaft zur Versöhnung. Papst Franziskus hat deshalb in seiner Botschaft an den Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios I. anlässlich des Patronatsfestes des heiligen An-dreas 2023 betont, dass der Weg der Versöhnung »mit einer Umarmung« begann, »einer Geste, die die gegenseitige Anerkennung der kirchlichen Brüderlichkeit auf beredte Weise zum Ausdruck bringt«1.

Dieser Bruderkuss enthält eine tiefe spirituelle Bedeutung. Denn Agape und Bruderkuss stellen Terminus und Ritus der eucharis-tischen Einheit dar, weshalb das Ziel des in Jerusalem begonnenen Weges in der Wiederherstellung der eucharistischen Gemeinschaft bestehen muss. Denn dort, wo Agape in einem ernsthaften Sinn als ekklesiale Realität gegeben ist, muss sie, um glaubwürdig sein zu können, auch zu eucharistischer Agape werden. So entsprach es der Intention der beiden Pilger nach Jerusalem, die in dem Geschehen die Morgenröte eines neuen Tages wahrgenommen haben, an dem zukünftige Generationen durch die Teilnahme am gleichen eucharistischen Leib und Blut des Herrn gemeinsam den einen Herrn loben werden.

Mit der denkwürdigen Begegnung in Jerusalem ist das historische Ereignis des 7. Dezember 1965 vorbereitet worden, als in der Patriarchalkirche St. Georg in Konstantinopel und in der Päpstlichen Basilika St. Peter in Rom die höchsten Repräsentanten der beiden Kirchen die beiderseitigen Exkommunikationen aus dem Jahre 1054 aufgehoben und den gemeinsamen Willen erklärt haben, die Exkommunikationssentenzen, deren Erinnerung bis heute wirke, »aus dem Gedächtnis und der Mitte der Kirche« zu entfernen, »damit sie für die Wiederannäherung in der Liebe kein Hindernis mehr darstellen können«2. In dieser ebenso feierlichen wie rechtsverbindlichen Weise sind die Ereignisse von 1054 und ihre Folgen dem geschichtlichen Vergessen überantwortet worden; und damit ist zugleich erklärt worden, dass sie nicht mehr zum amtlichen Bestand der Kirchen gehören.

Mit diesem historischen Akt ist das Gift der Exkommunikation aus dem Organismus der Kirchen gezogen worden und das »Symbol der Spaltung« durch das »Symbol der Liebe« ersetzt worden, oder mit den Worten des damaligen Theologen Joseph Ratzinger: »Das Verhältnis der ›erkalteten Liebe‹, der ›Gegensätze, des Misstrauens und der Antagonismen‹, ist ersetzt durch die Beziehung der Liebe, der Brüderlichkeit, deren Symbol der Bruderkuss ist.«3 Mit der Aufhebung der Exkommunikationen können sich die Kirche von Rom und die Kirche von Konstantinopel wieder als Schwesterkirchen anerkennen, was sich auch von daher nahe legt, dass die Patrone der beiden Kirchen, der heilige Petrus und der heilige Andreas, leibliche Brüder gewesen sind.

Dialog der Liebe im
Dienst der Versöhnung

Diese in der Geschichte bedeutsamen Akte sind zum Ausgangspunkt für den ökumenischen Dialog der Liebe geworden, der in den folgenden Jahren mit wechselseitigen Besuchen und einem regen Austausch von Kommunikationen vertieft worden ist, die in der gemeinsamen Dokumentation mit dem schönen Namen »Tomos Agapis« niedergelegt sind. Der Dialog der Liebe hat einen sichtbaren Ausdruck gefunden vor allem in der gu-ten Tradition der gegenseitigen Besuche zwischen der Kirche von Konstantinopel und der Kirche von Rom an den jeweiligen Patronatsfesten oder bei besonders wichtigen Anlässen. Es ist ein bemerkenswerter Brauch geworden, dass ein neu gewählter Papst kurz nach Pontifikatsbeginn in den Phanar in Konstantinopel reist, um den Ökumenischen Patriarchen zu besuchen. Umgekehrt ist es ein schönes Zeichen gereifter Freundschaft gewesen, dass zur Inaugurationsfeier von Papst Franziskus der Ökumenische Patriarch Bartholomaios I. nach Rom gekommen ist, was als erstmaliges Ereignis in den ökumenischen Beziehungen zwischen Rom und Konstantinopel gewürdigt werden darf.

Der Dialog der Liebe muss auch heute und in Zukunft weitergeführt und vertieft werden, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil in der Geschichte verschiedene Spiritualitäten in Ost und West eine gegenseitige Entfremdung bewirkt und den späteren Bruch zu einem großen Teil mit verursacht haben. Kardinal Walter Kasper hat diese Prozesse in der Kurzformel zusammengefasst: »Die Christenheit hat sich nicht primär auseinander diskutiert und über unterschiedlichen Lehrformeln zerstritten, sondern auseinandergelebt.«4 Diese Entwicklung ist weithin darin begründet, dass in der östlichen und westlichen Chris-tenheit das Evangelium Jesu Christi eigentlich von Anfang an in einer unterschiedlichen Art und Weise aufgenommen und in verschiedenen Traditionen und kulturellen Ausformungen gelebt und weitergegeben worden ist. Mit solchen Unterschieden haben die östliche und die westliche Christenheit im Ersten Jahrtausend noch in der einen Kirche gelebt. Sie haben sich aber immer mehr voneinander entfremdet und konnten sich immer weniger verstehen, so dass man, wie Yves Congar eindringlich gezeigt hat5, in dieser gegenseitigen Entfremdung eine der wesentlichen Ursachen des späteren Bruches erblicken muss.

Angesichts dieser geschichtlichen Entwicklungen drängt sich die Frage auf, ob man überhaupt von einer Spaltung in der Kirche zwischen Ost und West sprechen darf. Die so genannte »Spaltung« wird zumeist mit dem Jahr 1054 verbunden, als die gegenseitigen Exkommunikationen zwischen Konstantinopel und Rom ausgesprochen worden sind. Dabei handelt es sich aber weniger um ein historisches als vielmehr um ein symbolisches Datum, zumal in der Kirche zwischen Ost und West im eigentlichen Sinn kein Schisma stattgefunden hat und auch keine endgültige gegenseitige formelle Verurteilung weder im Jahre 1054 noch zu einem anderen Datum erfolgt ist. Diesen bedeutsamen Sachverhalt hat der orthodoxe Grazer Theologe Grigorius Larentzakis mit Recht dahingehend ausgesprochen: »Kein Schisma, trotzdem getrennt«6. Man sollte deshalb nicht von einer Spaltung sprechen, sondern von einer zunehmenden Entfremdung in der Kirche zwischen Ost und West. Solche gegenseitige Entfremdung, die in der Geschichte zu Miss-verständnissen und Polemiken geführt hat, zu überwinden, kann nur in Geduld und vor allem in Liebe mit Herzensschritten aufeinander zu geschehen.

Der Dialog der Liebe hat zwischen Katholiken und Orthodoxen die »Brüderlichkeit« wieder entdecken lassen, die Papst Johannes Paul II. zu den wichtigsten Früchten des ökumenischen Bemühens gezählt hat7. Der Dialog der Liebe dient vor allem der Versöhnung zwischen den Kirchen, die sich in Bitten um Vergebung für in der Vergangenheit begangene Sünden konkretisiert. Eine solche Bitte drängt sich vor allem im Blick auf den Vierten Kreuzzug im Jahre 1204 auf, der noch heute im Gedächtnis vieler orthodoxen Chris-ten aus verständlichen Gründen eine blutende Wunde darstellt. Dieser Kreuzzug ist zwar zunächst mit einem positiven Ziel ausgerufen worden. Aus politischen Gründen ist dann aber von den venezianischen Seeleuten Konstantinopel eingenommen und ge-plündert worden, obwohl Papst Innozenz III. streng verboten hat, Krieg gegen Chris-ten zu führen – eine Mahnung, die im Blick auf den Krieg in der Ukraine erneute Aktualität gewonnen hat.

Dialog der Wahrheit
auf der Suche nach dem gemeinsamen Glauben

In den historischen Entfremdungsprozessen sind auch ernsthafte theologische Fragen im Spiel gewesen. Der Dialog der Liebe verlangt deshalb nach dem Dialog der Wahrheit, nämlich der seriösen theologischen Aufarbeitung der trennenden theologischen Differenzen, um Kirchen- und Kommunionsgemeinschaft zu ermöglichen. Auf der anderen Seite bildet der Dialog der Liebe die Voraussetzung und den Lebensraum, in dem der Dialog der Wahrheit gedeihen kann. Beide Dialoge gehören dabei unlösbar zusammen wie Liebe und Wahrheit. Denn ökumenische Dialoge führen nur in die Zukunft, wenn sie von der Liebe zur Wahrheit des Glaubens und nicht einfach von kirchenpolitischen Interessen begleitet sind. Die innerste Mitte allen ökumenischen Bemühens besteht in der Anerkennung und Vertiefung des Apostolischen Glaubens, der jedem neuen Glied des Leibes Christi bei der Taufe übergeben und anvertraut wird.

Der Beginn des theologischen Dialogs der Wahrheit ist anlässlich des ersten Besuchs von Papst Johannes Paul II. beim Ökumenischen Patriarchen Dimitrios I. am Fest des heiligen Andreas in Konstantinopel im Jahre 1979 mit einer gemeinsamen Erklärung verkündet worden.8 Der theologische Dialog kann dabei von der erfreulichen Feststellung ausgehen, dass Katholische und Orthodoxe Kirche eine große gemeinsame Basis an Glaubensüberzeugungen teilen, so dass sich das ökumenische Gespräch in einem ersten Schritt auf die Konsolidierung des gemeinsamen Glaubensfundamentes konzentrieren konnte. Diese breite Gemeinsamkeit ist darin begründet, dass unter allen christlichen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften Katholiken und Orthodoxe einander am nächsten stehen. Denn sie haben die gleiche altkirchliche Struktur bewahrt, nämlich die sakramental-eucharistische und die episkopale Grundstruktur der Kirche in dem Sinne, dass in beiden Kirchen die Einheit in der
Eucharistie und das Bischofsamt als für das Kirchesein konstitutiv betrachtet werden.

Auf diesem Hintergrund hat die Katholische Kirche bereits auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil die Kirchen des Ostens in besonderer Weise gewürdigt und sie in einer grundlegenden Gemeinschaft »zwischen Lokalkirchen als Schwesterkirchen« gesehen9, da bei ihnen das in Apostolischer Sukzession stehende Bischofsamt und alle gültigen Sakramente, insbesondere die Eucharistie gegeben sind und sie damit über die wesentlichen kirchlichen Elemente verfügen, die sie als Einzelkirchen konstituieren. Und da die Katholische Kirche anerkennt, dass die Kirchen des Ostens »trotz ihrer Trennung wahre Sakramente besitzen«, hält sie auch eine »gewisse Gottesdienstgemeinschaft unter gegebenen geeigneten Umständen mit Billigung der kirchlichen Autorität nicht nur möglich, sondern auch ratsam«10.

Eucharistische
Ekklesiologie – Gemeinsamkeit und Differenz

Die cruziale Frage, die im ökumenischen Dialog weiter besprochen werden muss, um Kirchengemeinschaft wieder herstellen zu können, besteht im unterschiedlichen Verständnis des Amtes des Bischofs von Rom. Doch auch bei dieser Frage kann man zunächst von einer gemeinsamen Basis ausgehen. Denn auch die Orthodoxie betrachtet die Kirche des Bischofs von Rom als Erste in der Taxis der Sitze, wie es bereits das Konzil von Nizäa definiert hat. Im Unterschied zur Orthodoxie, die bei der wieder gewonnenen Einheit den Papst als »Ersten unter Gleichen« anerkennen würde, ist in katholischer Sicht die Formel grundlegend: »Der Papst ist Erster – und hat auch spezifische Funktionen und Aufgaben.«11

Wenn man auf diesen Unterschied näher eingeht, wird bald deutlich, dass sich hinter der Frage des Papstamtes auch ein Unterschied in der Ekklesiologie verbirgt, insofern in der gemeinsamen altkirchlichen Grundstruktur die Frage des Papstamtes jenes Element darstellt, das noch wie vor strittig betrachtet wird. Doch auch und gerade bei dieser ekklesiologischen Frage konnte ein weitgehend gemeinsames Fundament gewonnen werden, und zwar in der Entfaltung einer eucharistischen Ekklesiologie, die vor allem von russischen Exilstheologen in Paris nach dem Ersten Weltkrieg entwickelt worden ist und die die Katholische Kirche auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil wieder verlebendigt hat.

In der katholischen Theologie kommt dies dadurch zum Ausdruck, dass das Konzil entgegen einer einseitig universalistischen Ekklesiologie in der Vergangenheit den Plural »Kirchen« wieder entdeckt hat, genauer mit der theologischen Würdigung der Ortskirchen, die ganz Kirche, freilich nicht die ganze Kirche sind: »Die Kirche Christi ist wahrhaft in allen rechtmäßigen Ortsgemeinschaften der Gläubigen anwesend, die in der Verbundenheit mit ihren Hirten im Neuen Testament auch selbst Kirchen heißen.«12 Die Katholische Kirche lebt deshalb in der Verschränkung von Vielheit der Ortskirchen und Einheit der universalen Kirche.

Die universale Dimension steht im katholischen Verständnis keineswegs im Gegensatz zu einer eucharistischen Ekklesiologie. Von daher versteht die Katholische Kirche den Primat des Bischofs von Rom weder allein noch in erster Linie als eine juridische und rein äußerliche Zutat zur eucharistischen Ekklesiologie, sondern als in ihr selbst begründet. Denn die Einheit der Kirche besteht zutiefst darin, dass sie von der einen Eucharistie her lebt. Auch der Primat des Bischofs von Rom ist von jenem Netz von eucharistischen Gemeinschaften, das die Kirche ist, her zu verstehen, wie Erzbischof Bruno Forte präg-nant zum Ausdruck bringt: »Il primato nell’ eucaristia«13. Von daher besteht die Sendung des Bischofs von Rom, dem gemäß dem Wort des heiligen Ignatius von Antiochien der »Vorsitz in der Liebe« zukommt, darin, dass er in der Eucharistie alle Ortskirchen auf der ganzen Welt zur einen universalen Kirche verbindet. Der Primat des Bischofs von Rom ist ein Primat der Liebe, der um eine Einheit der Kirche besorgt ist, die eucharistische Gemeinschaft ermöglicht und schützt und glaubwürdig und wirksam verhindert, dass sich ein Altar gegen einen anderen Altar stellt.

Demgegenüber ist die eucharistische Ekklesiologie in der Orthodoxie mit einer sehr starken Ortskirchenekklesiologie verbunden. Die Kirche wird verstanden als die um ihren Bischof versammelte und mit ihm Eucharistie feiernde Glaubensgemeinschaft. Deshalb ist jede Eucharistiegemeinde ganz Kirche. Die horizontale Einheit der Ortskirchen untereinander stellt zwar die Fülle und die Schönheit dar, gehört jedoch letztlich nicht zum Konstitutivum der Kirche. Ähnliches gilt auf der regionalen Ebene, auf der die Kirchen gemäß dem Prinzip von Autonomie und Autokephalie in sich eigenständig sind; und da sie sehr stark mit der jeweiligen Nation verbunden sind, existieren sie als Nationalkirchen. Darin liegt gewiss ihre Stärke, weil sie in der jeweiligen Gesellschaft, in der die Gläubigen leben, inkulturiert sind.

Ihre Gefährdung besteht allerdings darin, dass die Nationalkirchen nicht selten starke Tendenzen zum Nationalistischen aufweisen. Diese Tendenz liegt auch darin begründet, dass die Orthodoxie – wiederum im Unterschied zur Katholischen Kirche – keine Trennung von Kirche und Staat, sondern eine gegenseitige »Symphonie« kennt. Und diese Situation hat zur Konsequenz, dass die universale Dimension der Kirche weithin unterbelichtet ist. Ohne die universale Dimension der Kirche zur Geltung zu bringen, ist es jedoch kaum möglich, über ein Amt der Einheit auch auf der universalen Ebene gemeinsam nachzudenken.

Ökumenische Versöhnung von Synodalität und Primatialität

Von daher stellt sich die wichtige Frage, wie noch mehr theologische Gemeinsamkeit im Verständnis der Kirche zwischen Katholiken und Orthodoxen gewonnen werden kann. Dabei muss es sich von selbst verstehen, dass es nicht um einen Kompromiss auf dem kleinstmöglichen gemeinsamen Nenner gehen kann. Es müssen vielmehr die jeweils starken Seiten beider Kirchengemeinschaften miteinander ins Gespräch gebracht werden. In dieser Richtung hat der orthodox-katholische Arbeitskreis St. Irenäus in seiner Studie »Im Dienst an der Gemeinschaft« diese Wegweisung gegeben: »Vor allem müssen die Kirchen danach streben, ein besseres Gleichgewicht zwischen Synodalität und Primat auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens zu erreichen, und zwar durch eine Stärkung synodaler Strukturen in der katholischen Kirche und durch die Akzeptanz eines gewissen Primats innerhalb der weltweiten Gemeinschaft der Kirchen in der orthodoxen Kirche. «14 Um im ökumenischen Dialog in dieser Richtung voranzukommen, ist folglich Lernbereitschaft auf beiden Seiten notwendig.

Auf der einen Seite muss die Katholische Kirche eingestehen, dass sie in ihrem Leben und in ihren ekklesialen Strukturen noch nicht jenes Maß an Synodalität entwickelt hat, das theologisch möglich und notwendig wäre, und dass in der Verlebendigung und Verstärkung der Synodalität auch ein wichtiger Beitrag für die ökumenische Anerkennung des Primats des Bischofs von Rom besteht. In diesem Sinn ist Papst Franziskus überzeugt, dass das theologische und pastorale Bemühen, eine synodale Kirche aufzubauen, reiche Auswirkungen auch auf die Ökumene enthält und dass sich insbesondere die Frage des petrinischen Primats in einer synodalen Kirche besser klären lässt: »Der Papst steht nicht allein über der Kirche, sondern er steht in ihr als Getaufter unter den Getauften, im Bischofskollegium als Bischof unter den Bischöfen und ist – als Nachfolger des Apostels Petrus – zugleich berufen, die Kirche von Rom zu leiten, die in der Liebe allen Kirchen vorsteht.«15

Auf der anderen Seite wird man von der Orthodoxie erhoffen dürfen, dass sie bereit ist, das Prinzip der Autokephalie so zu überdenken, dass eine größere Offenheit für die universale Dimension der Kirche möglich und folglich auch auf der universalen Ebene ein Primat als theologisch notwendig betrachtet wird. In dieser Richtung hat vor allem der orthodoxe Theologe und Metropolit John D. Zizioulas immer wieder betont, dass ein Amt der Einheit auf der universalen Ebene der Kirche keineswegs im Gegensatz zu einer eucharistischen Ekklesiologie steht, sondern mit ihr kompatibel ist.

Einem besseren Gleichgewicht zwischen Synodalität und Primat hat sich auch die Gemischte Internationale Kommission für den theologischen Dialog zwischen der Katholischen und der Orthodoxen Kirche gewidmet. Vor allem auf der Vollversammlung in Ravenna im Jahre 2007 hat die Kommission ein wichtiges Dokument mit dem Inhalt verabschiedet, dass Synodalität und Primat wechselseitig voneinander abhängig sind und dass sich diese Korrelation auf allen Ebenen der Kirche, auf der lokalen, regionalen und universalen verwirklicht. Dass Katholiken und Orthodoxe damit zum ersten Mal gemeinsam erklären konnten, dass die Kirche auch auf der universalen Ebene einen Protos braucht, darf als ökumenischer Meilenstein gewürdigt werden. Diese grundlegende Einsicht hat die Kommission in der Zwischenzeit mit zwei weiteren Dokumenten über Synodalität und Primat im Ersten Jahrtausend (in Chieti 2016) und über Synodalität und Primat im Zweiten Jahrtausend und heute (in Alexan-dria 2023) konkretisiert und vertieft.

Diese ökumenischen Bemühungen sind dem einen Ziel verpflichtet, die Kirchengemeinschaft wiederherzustellen, so dass die Orthodoxe und Katholische Kirche nicht weiterhin als zwei getrennte Kirchen, sondern als die eine Kirche in Ost und West leben und die Einheit des Leibes Christi darstellen. Das Leibsein der Kirche drängt aus sich selbst heraus aber zur verbindlichen Gemeinschaft im eucharistischen Leib des Herrn, weshalb die wieder gefundene Einheit der Kirche in die Wiederaufnahme der eucharistischen Gemeinschaft münden wird.

Diese Vision hat der Ökumenische Patriarch Athenagoras bereits im Jahre 1968 mit dichten Worten zum Ausdruck gebracht: »Die Stunde des christlichen Mutes ist gekommen. Wir lieben einander; wir bekennen den gleichen gemeinsamen Glauben; machen wir uns zusammen auf den Weg vor die Herrlichkeit des gemeinsamen heiligen Altars, um den Willen des Herrn zu erfüllen, damit die Kirche strahlt, damit die Welt glaubt und der Friede Gottes auf alle kommt.«16 In dieser Vision darf man die Sinnerfüllung jenes Bruderkusses wahrnehmen, der vor sechzig Jahren in Jerusalem ausgetauscht worden ist und der auch heute weiterhin Katholiken und Orthodoxe gemeinsam verpflichtet.

Fußnoten

1 Francis, To His All-Holiness Bartholomew, Archbishop of Constantinople, Ecumenical Patriarch 30 novembre 2023.

2 Déclaration commune du pape Paul VI et du Patriarche Athenagoras exprimant leur décision d´enlever de la mémoire et du milieu de l´Église les sentences d´excommunication de l´année 1054, dans: Tomos Agapis. Vatican – Phanar (1958-1970) (Rome – Istanbul (1971), Nr. 127.

3 J. Kardinal Ratzinger, Rom und die Kirchen des Ostens nach der Aufhebung der Exkommunikationen von 1054, in: Ders., Theologische Prinzipienlehre. Bausteine der Fundamentaltheologie (München 1982) 214-230, zit. 229.

4 W. Kardinal Kasper, Wege der Einheit. Perspektiven für die Ökumene (Freiburg i. Br. 2005) 208.

5 Y. Congar, Zerstrittene Christenheit. Wo trennten sich Ost und West? (Wien 1959).

6 G. Larentzakis, Kein Schisma, trotzdem getrennt, in: Die Tagespost vom 27. Juni 2021.

7 Johannes Paul II., Ut unum sint, Nr. 41-42.

8 Die in griechischer und französischer Sprache verfasste Erklärung ist veröffentlicht in L’Osservatore Romano vom 1. Dezember 1979.

9 Unitatis redintegratio, Nr. 14.

10 Unitatis redintegratio, Nr. 15.

11 Benedikt XVI., Licht der Welt. Der Papst, die Kirche und die Zeichen der Zeit. Ein Gespräch mit Peter Seewald (Freiburg i. Br. 2010) 114.

12 Lumen gentium, Nr. 26.

13 B. Forte, Il primato nell’eucaristia. Considerazioni ecumeniche intorno al minstero petrino nella Chiesa, in: Asprenas 23 (1976) 391-410.

14 Im Dienst an der Gemeinschaft. Das Verhältnis von Primat und Synodalität neu denken. Eine Studie des Gemeinsamen orthodox-katholischen Arbeitskreises St. Irenäus (Paderborn 2018) 94.

15Franziskus, Ansprache bei der 50-Jahr-Feier der Errichtung der Bischofssynode am 17. Oktober 2015.

16 Télégramme du patriarche Athénagoras au pape Paul VI à l´occasion de l´anniversaire de la levée des anathàmes le 7 dicembre.

Von Kardinal Kurt Koch,
Präfekt des Dikasteriums zur Förderung
der Einheit der Christen