Botschaft von Papst Franziskus an die Teilnehmer des 54. Weltwirtschaftsforums in Davos

Die Bekämpfung der Ungerechtigkeiten ist Voraussetzung für den Frieden

Palestinians stand in a line as they wait to receive food amid shortages of food supplies, amid the ...
26. Januar 2024

An den geschäftsführenden Präsidenten
des Weltwirtschaftsforums

Das diesjährige Treffen des Weltwirtschaftsforums findet in einem äußerst beunruhigenden Klima internationaler Instabilität statt. Ihr Forum, das darauf abzielt, den politischen Willen und die Zusammenarbeit zu leiten und zu stärken, bietet eine wichtige Gelegenheit für das multilaterale Engagement, um innovative und wirksame Wege zum Aufbau einer besseren Welt zu erkunden. Ich hoffe, dass Ihre Diskussionen die dringende Notwendigkeit berücksichtigen, den sozialen Zusammenhalt, die Geschwis-terlichkeit und die Versöhnung zwischen Gruppen, Gemeinschaften und Staaten zu fördern, um die vor uns liegenden Herausforderungen zu bewältigen.

Wenn wir uns umschauen, sehen wir traurigerweise eine immer zerrissenere Welt, in der Millionen von Menschen – Männer, Frauen, Väter, Mütter und Kinder –, deren Gesichter uns größtenteils unbekannt sind, weiterhin leiden, nicht zuletzt unter den Auswirkungen von anhaltenden gewaltsamen Konflikten und aktuellen Kriegen. Diese Leiden werden durch die Tatsache verschlimmert, dass »moderne Kriege nicht mehr nur auf fest begrenzten Schlachtfeldern statt[finden] und […] auch nicht nur die Soldaten [betreffen]. Wo die Unterscheidung zwischen militärischen und zivilen Zielen nicht mehr beachtet zu werden scheint, gibt es keinen Konflikt, der nicht am Ende auf die ein oder andere Weise unterschiedslos die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft zieht« (Ansprache an die Mitglieder des beim Heiligen Stuhl akkreditierten Diplomatischen Korps, 8. Januar 2024).

Der Frieden, nach dem sich die Völker unserer Welt sehnen, kann nichts anderes sein als die Frucht der Gerechtigkeit (vgl. Jesaja 32,17). Folglich erfordert er mehr als nur die Niederlegung der Kriegswerkzeuge. Er erfordert die Bekämpfung der Ungerechtigkeiten, die die eigentlichen Ursachen von Konflikten sind. Zu den bedeutendsten Problemen gehört der Hunger, der nach wie vor ganze Regionen der Welt heimsucht, während woanders in hohem Ausmaß Lebensmittel verschwendet werden. Die Ausbeutung natürlicher Ressourcen bereichert weiterhin nur einige wenige, während ganze Bevölkerungsgruppen, die natürliche Nutznießer dieser Ressourcen wären, in Not und Armut leben. Wir dürfen auch die weitverbreitete Ausbeutung von Männern, Frauen und Kindern nicht übersehen, die gezwungen werden, für niedrige Löhne zu arbeiten und denen echte Aussichten auf persönliche und berufliche Entwicklung vorenthalten werden. Wie ist es möglich, dass in der heutigen Welt immer noch Menschen verhungern, ausgebeutet werden, zum Analphabetismus verurteilt sind, keine medizinische Grundversorgung haben und obdachlos bleiben?

Der Prozess der Globalisierung, der die gegenseitige Abhängigkeit der Nationen und Völker der Welt inzwischen deutlich vor Augen geführt hat, hat daher eine grundsätzlich moralische Dimension, die sich in den wirtschaftlichen, kulturellen, politischen und religiösen Debatten zeigen muss, die die Zukunft der internationalen Gemeinschaft gestalten sollen. In einer Welt, die zunehmend von Gewalt, Aggression und Spaltung bedroht ist, ist es wichtig, dass Staaten und Unternehmen gemeinsam weitsichtige und ethisch vertretbare Globalisierungsmodelle fördern, die ihrer Natur entsprechend zum Wohle unserer Menschheitsfamilie eine Unterordnung des Machtstrebens und des individuellen – sei es politischen oder wirtschaftlichen – Gewinns mit sich bringen, wobei den Armen, Bedürftigen und Menschen in besonders prekären Situationen Vorrang eingeräumt wird.

Die Geschäfts- und Finanzwelt wiederum operiert heute in immer umfassenderen wirtschaftlichen Kontexten, in denen die Nationalstaaten nur begrenzte Möglichkeiten haben, schnelle Veränderungen in den internationalen Wirtschafts- und Finanzbeziehungen zu steuern. Diese Situation erfordert, dass sich die Unternehmen zunehmend nicht nur vom Streben nach fairem Gewinn, sondern auch von hohen ethischen Standards leiten lassen, insbesondere im Hinblick auf die weniger entwickelten Länder, die nicht miss-bräuchlichen oder wucherischen Finanzsystemen ausgeliefert sein sollten. Eine weitsichtige Herangehensweise an diese Fragen wird sich als entscheidend für die Verwirklichung des Ziels einer ganzheitlichen Entwicklung der Menschheit in Solidarität erweisen. Echte Entwicklung muss global sein und von allen Nationen in jedem Teil der Welt geteilt werden, sonst wird es selbst in Bereichen, die bisher durch ständigen Fortschritt gekennzeichnet waren, Rückschritte geben.

Gleichzeitig ist offensichtlich ein internationales politisches Handeln notwendig, das die Ziele des globalen Friedens und einer
authentischen Entwicklung durch die Annahme koordinierter Maßnahmen wirksam verfolgen kann. Insbesondere ist es wichtig, dass zwischenstaatliche Strukturen ihre Kontroll- und Lenkungsfunktionen im Wirtschaftsbereich effektiv wahrnehmen können, da die Verwirklichung des Gemeinwohls ein Ziel ist, das außerhalb der Reichweite einzelner Staaten liegt, auch der Staaten, die in Bezug auf Macht, Reichtum und politische Stärke führend sind. Ebenso stehen internationale Organisationen vor der Herausforderung, die Verwirklichung jener Gleichheit sicherzustellen, die die Grundlage des Rechts aller auf Teilhabe am Prozess der vollen Entwicklung unter gebührender Achtung legitimer Unterschiede ist.

Ich hoffe daher, dass sich die Teilnehmer des diesjährigen Forums der moralischen Verantwortung bewusst sind, die jeder von uns im Kampf gegen die Armut, bei der Verwirklichung einer ganzheitlichen Entwicklung für alle unsere Brüder und Schwestern und bei der Suche nach einem friedlichen Zusammenleben der Völker hat. Das ist die große Herausforderung, vor die uns die Gegenwart stellt. Und wenn bei der Verfolgung dieser Ziele die heutige Zeit »Indizien für einen Rückschritt« zu liefern scheint, bleibt es wahr, dass »jede Generation sich die Kämpfe und die Errungenschaften der früheren Generationen zu eigen machen und sie zu noch höheren Zielen führen muss. […] Das Gute, ebenso wie die Liebe, die Gerechtigkeit und die Solidarität erlangt man nicht ein für alle Male; sie müssen jeden Tag neu errungen werden« (Apostolisches Schreiben Laudate Deum, 34).

In diesem Sinne spreche ich Ihnen meine mit dem Gebet verbundenen guten Wünsche für die Beratungen des Forums aus und erbitte von Herzen für alle Teilnehmer die Fülle des göttlichen Segens.

Aus dem Vatikan, am 15. Januar 2024

(Orig. engl.; ital. in O.R. 17.1.2024)