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Leitartikel des Direktors unserer Zeitung

Beim Namen gerufen

 Beim Namen gerufen  TED-004
26. Januar 2024

Irgendjemand hat in Rom auf eine Mauer geschrieben: »Jesus rettet.« (Die Mauern in Rom scheinen die poetische Ader des Mannes von der Straße mehr zu inspirieren als in anderen Städten.) Es wird wohl ein frommer und vom Inhalt her rechtgläubiger Christ gewesen sein. Jemand anders wollte seinen eigenen Beitrag hinzufügen und hat noch zwei Worte dazugeschrieben: »mit Namen«. [Das italienische Wort »salva« wird auch bei der Speicherung von Dateien verwendet, wörtlich also: »retten mit Namen«, auf deutsch: »speichern unter«]. Wir wissen nicht, ob auch der zweite »Mauerdichter« ein gläubiger Mensch ist oder ob er nur eine ironische Bemerkung im Sinn hatte, indem er die Computersprache ins Spiel brachte. Denn auf dem Computer werden die Dateien »gerettet« [oder eben gespeichert], indem man ihnen einen Namen gibt. Tatsache ist, dass auch er sich als rechtgläubig erweist: Jesus rettet uns genau auf diese Weise, indem er uns beim Namen ruft. Das haben wir auch an einem der letzten Sonntage im Evangelium gehört, wo Andreas, der »Erstberufene«, seinen Bruder Simon zu Jesus bringt. Und das Erste, was Jesus tut, ist, ihm einen Namen zu geben: »Jesus blickte ihn an und sagte: Du bist Simon, der Sohn des Johannes, du sollst Kephas heißen, das bedeutet: Petrus, Fels« (Joh 1,42).

Dass man ihnen in die Augen sieht, dass sie beim Namen genannt werden: Vielleicht ist dies heute mehr als in vergangenen Zeiten das, was die Menschen am dringendsten brauchen, vor allem im Westen und vor allem die Jugend. Denn dies bedeutet, das Leben als Berufung zu leben, als persönliche Berufung mit einer klaren Bestimmung. Es bedeutet, nicht der Einsamkeit und der Leere zum Opfer zu fallen, als Nummer in einer anonymen Masse. Es ist übrigens sehr bezeichnend, dass der zuerst berufene Andreas im Evangelium sich spontan gedrängt sieht, seinerseits zu rufen, indem er die Begegnung zwischen seinem Bruder und Jesus arrangiert. Denn es ist wahr, was der Philosoph Gilles Deleuze sagt: »Wirklich wählen, effektiv wählen, kann nur der, der erwählt ist.« Auserwählt sein und daher wählen. Berufung ist immer eine »Erwählung« und »eligo« hat im Lateinischen mit »wählen« zu tun, aber auch im Sinne von lieben, der Auserwählte ist in erster Linie der Geliebte. Liebe meidet die Abstraktion und lebt nur im Konkreten, sie braucht also immer ein Gesicht und einen Namen. Es gibt keine Statistiken, wenn es um die Liebe geht.

In der Ansprache an die Diplomaten hat Papst Franziskus am vergangenen 8. Januar darauf hingewiesen, dass »zivile Opfer keine ›Kollateralschäden‹ sind. Es sind Männer und Frauen mit Vor— und Nachnamen, die ihr Leben verlieren.« Und er fügte hinzu: »Wenn wir jedem einzelnen von ihnen in die Augen schauen, sie beim Namen nennen und ihre persönliche Geschichte erzählen könnten, würden wir den Krieg als das erkennen, was er ist: nichts als eine entsetzliche Tragödie und ›ein unnötiges Blutbad‹, das die Würde jedes Menschen auf dieser Erde verletzt.«

Mit diesem Gedanken hat der Papst schon oft an Herz und Verstand seiner Zuhörer appelliert: Jeder Mensch hat nicht nur ein Gesicht, sondern er ist ein Gesicht, ein Name, eine Geschichte. Eine »große Geschichte«, wie er im Februar 2019 bei der Rückkehr von seiner Reise nach Abu Dhabi sagte, denn es gibt keine kleinen Geschichten, wenn es um den Menschen geht. Jedes Leben ist mit einer Würde ausgestattet, die im Sein gegeben ist, einfach, unermesslich: eine Geschichte, ein Gesicht, ein Name, dies und nichts anderes, um das Geheimnis zum Ausdruck zu bringen, das jeder Mensch ist.

All dies erfordert Zeit und Geduld. Aber die Welt hat es oft eilig. Deshalb überspringt sie den langen Weg und kondensiert die glühende Materie des Lebens durch Abkühlung und Reduktion auf die Zahlen. Denn die Alternative zum Namen ist die Nummer. Wenn wir eine Datei auf einem Computer speichern wollen, müssen wir ihr einen Namen geben. Denn sie wird nur mit dem Namen gespeichert oder »gerettet«, andernfalls speichert sie der Computer als »ohne Namen 1«, mit einer Zahl. Nur der Name »rettet«, die Zahl standardisiert, wobei die Identität verloren geht.

Am 27. Januar wird die Welt innehalten, um den Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust zu begehen, und eine der furchtbarsten Lektionen der Shoah ist gerade dies: der Übergang vom Namen zur Nummer, die Auslöschung des Namens und die Zuweisung einer Nummer, die den Gefangenen im Konzentrationslager auf den Arm tätowiert wurde. Das geschah vor 80 Jahren, aber eine ähnliche Gefahr besteht auch heute noch. Wie ein lauter Warnruf klingt, was der Dichter und Prophet Christian Bobin geschrieben hat: »Die Zahlen nagen an den Dachbalken der Welt. Immer mehr, immer mehr. Eines Tages wird uns nur noch die Poesie retten können […] Eines Tages werden wir den Blick zum Himmel erheben und alles, was wir sehen, wird eine Reklametafel mit dem Preis für den Eintritt ins Paradies sein. […] Was ist das Menschliche, wenn nicht das, was keine Zahlen verträgt, keine schreckliche Nützlichkeit?« Der Hinweis auf die Werbung, auf die Berechnung des Preises für die »Eintrittskarte«, ist ironisch und zugleich Besorgnis erregend. Tatsächlich ruft uns auch die Werbung, allerdings nicht beim Namen, sie ist »reclame«, Propaganda, die sich an eine unbestimmte Zahl von potenziellen Konsumenten richtet, nicht an Menschen. Seinen Namen zu nennen, darum zu bitten, beim Namen genannt zu werden, ist ein Akt der Auflehnung gegen die mächtigste Diktatur unserer Zeit, die Diktatur des Konsums und des Marktes.

Dann gibt es in vielen Ländern der Welt noch eine andere Art des »Rufes«, der zwar »mit Namen« erfolgt, der aber dennoch furchtbar unmenschlich ist: die »Einberufung«, das heißt die Einziehung zum Militärdienst. Und es ist bemerkenswert, dass genau am 8. Januar, als der Papst den Krieg als »unnötiges Blutbad« bezeichnete, eine Reihe von Frauen vor den Kremlmauern in Moskau als Geste des Protests aufmarschierten und rote Nelken vor dem Grab des Unbekannten Soldaten niederlegten, um die Rückkehr ihrer Männer von der Front zu fordern. Eine kleine (nur etwa 15 Ehefrauen von zum Kampf in der Ukraine einberufenen Soldaten), aber bedeutsame Mobilisierung, ein stiller Protest, der sich an jedem Wochenende wiederholen soll. Seit dem 24. Februar 2022, dem Beginn der Invasion in der Ukraine, wurden nach Angaben des Kreml etwa 250.000 Reservisten an die Front geschickt. Und da ist sie wieder, die Zahl, mit ihrer tönenden Leere, »dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke«, in ihrer entfremdenden, gellenden Abstraktion. Was wir also dringend brauchen, ist eine Rebellion unter dem Banner des Konkreten, eine poetische Revolte, um uns alle zu retten, uns gegenseitig zu retten, »mit Namen«.

(Orig. ital. in O.R. 16.1.2024)

Von Andrea Monda