· Vatikanstadt ·

Zum ersten Todestag von Joseph Ratzinger – Benedikt XVI.

Vernunft, Glaube und Liebe als Grundlage für einen hoffnungsvollen Blick in die Zukunft

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12. Januar 2024

Ein Jahr nach dem Tod Benedikts XVI. ist es selbstverständlich und richtig, über das Thema seines Erbes nachzudenken. Handelt es sich bei ihm um eine Gestalt, die vor allem den Gelehrten anvertraut werden sollte, die sich mit der Deutung der Vergangenheit beschäftigen? Oder ist er eine Persönlichkeit, die uns alle auch heute noch herausfordert, gerade in dieser dramatischen Zeit, die wir durchleben?

Dass er ein Meister des Glaubens ist, daran besteht kein Zweifel. Es wird uns keineswegs langweilig werden, seine Einführung in das Christentum und seine Trilogie über Jesus von Nazareth zu lesen. Theologen werden sich noch lange in seine Opera Omnia vertiefen können, um dort Inspiration und Orientierung für ihre Reflexionen und Forschungen zu finden.

Dass er auch ein herausragender Zeuge für das Leben aus dem Glauben – und für den christlichen Glauben an das ewige Leben – ist, wissen diejenigen, die ihm in seinen Predigten und seinem geistlichen Lehramt zugehört haben, und auch all jene, die ihn aus der Nähe kennenlernen durften und seinen langen inneren Weg bis zur Begegnung mit Gott begleitet haben.

Hier möchte ich aber nun besonders darauf hinweisen, dass Joseph Ratzinger ein wertvoller Weggefährte auch für alle jene bleibt, die mit Anteilnahme und Leidenschaft die Wechselfälle des Lebens und der menschlichen Geschichte auf dieser Erde erleben, mit all den dramatischen Fragen, die dies heute mit sich bringt.

Wir können nicht verhehlen, dass der Weg unserer Welt in vielerlei Hinsicht für uns »außer Kontrolle« zu geraten scheint und geraten ist. Die ökologische Krise, das ständige Auftauchen von Risiken und dramatischen Entwicklungen im Bereich der Nutzung der Technologie, der Kommunikation, der Anwendung der sogenannten künstlichen Intelligenz und schließlich die Einforderung einander widersprechender Rechte sowie die Erschütterung des internationalen Zusammenlebens mit der immer bedrohlicheren Ausbreitung von Kriegen... Wie Professor Francesc Torralba bei der Verleihung des Ratzinger-Preises am 30. November letzten Jahres betonte, hat sich Benedikt XVI. eingehend mit den tieferen Gründen für die Krise unserer Zeit befasst und der zeitgenössischen Kultur vorgeschlagen, die moderne Vernunft nicht zu verwerfen, sondern deren Horizont zu erweitern, dadurch dass der ethischen Vernunft und der Rationalität des Glaubens wieder Raum gegeben wird.

Die Perspektive Joseph Ratzingers angesichts des Versagens der menschlichen Vernunft bestand nicht darin, sie zu negieren oder einzuschränken, sondern darin, sie zu erweitern und dazu aufzufordern, mutig nicht nur verstehen zu wollen, wie die Welt funktioniert, sondern auch, warum sie existiert, welchen Platz der Mensch im Kosmos hat und was der Sinn des Abenteuers seines Lebens ist.

Es ist nicht zu leugnen, dass diese Perspektive, die in gewissem Sinne ein Dialogangebot an die zeitgenössische Kultur ist, oft kühl aufgenommen oder manchmal abgelehnt wurde. Der Mathematiker Odifreddi, ein bekennender Atheist, der oft provokante Positionen vertritt, der aber tatsächlich den Dialog mit Ratzinger gesucht hat und von diesem in den Jahren nach dem Amtsverzicht eine außerordentliche, respektvolle Aufmerksamkeit empfing, bezeichnete das Pontifikat von Benedikt XVI. gerade wegen dieses Aspekts als »tragisch«: sein Angebot und seine kulturelle Offenheit auf der einen und die fehlende Antwort der »Gebildeten« auf der anderen Seite. Ich persönlich bin anderer Meinung, denn ich denke, dass Benedikt XVI. nicht so naiv war, eine schnelle positive Reaktion zu erwarten. Im Gegenteil, ich halte den Vorschlag Benedikts für weitsichtig, denn er behält seine umfassende Gültigkeit und stellt auch für die Zukunft einen Königsweg dar für den Dialog zwischen Wissenschaft und Glaube oder allgemeiner zwischen moderner Kultur und Glaube, und zwar auf der Grundlage eines tiefen Vertrauens in die menschliche Vernunft. Besser noch, er soll wegweisend sein für das Engagement der Christen in der heutigen Welt, die sich der Anstrengung des Nachdenkens über die Ursachen der Probleme und der Suche nach einem auf Wahrheit – und nicht auf der prekären Konvergenz von Interessen und Nutzen – beruhenden Konsens nicht entziehen dürfen.

Aus der christlichen Sicht Benedikts XVI. gelingt es der so erweiterten Vernunft die Logik der Liebe zu verstehen, die in der Logik der Unentgeltlichkeit zum Ausdruck kommt und in Geschwisterlichkeit, Solidarität und Versöhnung umgesetzt wird. Wahrheit und Liebe offenbaren sich am vollkommensten in der Menschwerdung des Logos, Wort Gottes.

Deus caritas est, Caritas in veritate, Laudato si’, Fratelli tutti… Die Schlüsselworte der beiden letzten Pontifikate folgen einander im Zeichen von Kontinuität und Kohärenz. Das Engagement der Kirche und der Christen und ihre Verantwortung für die Geschicke der menschlichen Geschichte in der Welt erfordern sowohl Vernunft als auch Liebe, vereint im Licht, das der Glaube schenkt. Die konkreten Gesten der Nächstenliebe, zu denen uns Franziskus immer wieder auffordert, müssen in den lichtvollen, kohärenten Rahmen einer als Gemeinschaft verstandenen Kirche eingefügt werden, die in der heutigen Zeit auf dem Weg zur Begegnung mit Gott ist.

In einem wichtigen und für mich überraschenden Brief, geschrieben drei Monate vor seinem Tod anlässlich eines von der Ratzinger-Stiftung und der Franziskaner-Universität Steubenville gemeinsam veranstalteten Symposiums, sprach Joseph Ratzinger über das Zweite Vatikanische Konzil und erklärte entschieden, dass sich das Konzil »nicht nur als bedeutsam, sondern als notwendig« erwiesen habe, und fuhr fort: »Zum ersten Mal überhaupt hat sich die Frage nach einer Theologie der Religionen in ihrer Radikalität gezeigt. Ebenso die Frage nach der Beziehung des Glaubens zur Welt der reinen Vernunft. Beide Themen waren in dieser Form nicht absehbar.« Daher schien das Konzil zunächst eine Bedrohung für die Kirche zu sein, aber »in der Zwischenzeit wurde die Notwendigkeit einer Neuformulierung der Frage nach dem Wesen und der Sendung der Kirche allmählich deutlich. Auf diese Weise tritt die positive Kraft des Konzils ebenfalls langsam zu Tage […] Im Zweiten Vatikanum ist die Frage nach der Kirche in der Welt schließlich zum wirklich zentralen Thema geworden.«

Der letzte Papst, der am gesamten Konzil teilgenommen und es von innen her erlebt hat, hinterlässt uns somit ein Zeugnis für dessen bleibende Bedeutung und ermutigt uns, dessen Impulse und Konsequenzen ohne Angst weiterzuentwickeln, in der Neuformulierung der Sendung der Kirche in der Welt sowie im gemeinsamen Einsatz von Vernunft und Glaube für das Wohl und Heil der Menschheit und der Welt. Der Blick richtet sich hoffnungsvoll auf die Zukunft. Der Dienst von Benedikt XVI. setzt sich in der tieferen Bewegung der Kirche des Herrn fort, geleitet von Franziskus und seinen Nachfolgern.

(Orig. ital. in O.R. 30.12.2023)

Von P. Federico Lombardi SJ