Zu Beginn des neuen Jahres, einer Zeit der Gnade, die der Herr jedem von uns gewährt, möchte ich mich an das Volk Gottes, an die Nationen, an die Staats- und Regierungs-chefs, an die Vertreter der verschiedenen Religionen und der Zivilgesellschaft sowie an alle Männer und Frauen unserer Zeit wenden, um ihnen meine besten Wünsche für den Frieden zu übermitteln.
1. Der Fortschritt von Wissenschaft
und Technik als Weg zum Frieden
Die Heilige Schrift bezeugt, dass Gott den Menschen seinen Geist gegeben hat, damit sie »mit Weisheit, Klugheit und Kenntnis
für jegliche Arbeit« ausgestattet seien (Ex 35,31). Die Intelligenz ist Ausdruck der Würde, die uns der Schöpfer verliehen hat, der uns nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen hat (vgl. Gen 1,26) und uns befähigt hat, auf seine Liebe frei und bewusst zu antworten. Wissenschaft und Technik verdeutlichen in besonderer Weise eine solche grundlegend relationale Beschaffenheit der menschlichen Intelligenz: Sie sind außergewöhnliche Ergebnisse ihres schöpferischen Potentials.
In der Pastoralkonstitution Gaudium et Spes hat das Zweite Vatikanische Konzil diese Wahrheit bekräftigt, indem es erklärte: »Durch Arbeit und Geisteskraft hat der Mensch immer versucht, sein Leben reicher zu entfalten«1. Wenn die Menschen sich »mit Hilfe der Technik« darum bemühen, dass die Erde »eine würdige Wohnstätte für die gesamte menschliche Familie werde«2, dann handeln sie nach dem Plan Gottes und arbeiten mit seinem Willen zusammen, um die Schöpfung zu vollenden und den Frieden unter den Völkern zu verbreiten. Auch der Fortschritt von Wissenschaft und Technik, soweit er zu einer besseren Ordnung der menschlichen Gesellschaft, zu wachsender Freiheit und geschwisterlicher Gemeinschaft beiträgt, führt also zur Besserung des Menschen und zur Umgestaltung der Welt.
Wir freuen uns zu Recht über die außerordentlichen Errungenschaften von Wissenschaft und Technik und sind dankbar dafür, dass dadurch zahllose Übel, die das menschliche Leben heimsuchten und großes Leid verursachten, beseitigt werden konnten. Gleichzeitig legen die wissenschaftlichen und technischen Fortschritte, die eine noch nie dagewesene Kontrolle über die Wirklichkeit ermöglichen, eine Vielzahl von Möglichkeiten in die Hände der Menschen, von denen einige ein Risiko für das Überleben der Menschen und eine Gefahr für das gemeinsame Haus darstellen können3.
Die bemerkenswerten Fortschritte in den neuen Informationstechnologien, insbesondere im digitalen Bereich, bergen daher erstaunliche Möglichkeiten und ernsthafte Risiken, mit schwerwiegenden Auswirkungen auf das Streben nach Gerechtigkeit und Harmonie zwischen den Völkern. Es müssen daher einige dringende Fragen gestellt werden. Was sind die mittel- und langfristigen Folgen der neuen digitalen Technologien? Und welche Auswirkungen werden sie auf das Leben der Einzelnen und der Gesellschaft, auf die internationale Stabilität und den Frieden haben?
2. Die Zukunft der
künstlichen Intelligenz zwischen Verheißung und Risiko
Die Fortschritte in der Informationstechnologie und die Entwicklung digitaler Technologien in den letzten Jahrzehnten haben bereits zu tiefgreifenden Veränderungen in der globalen Gesellschaft und ihrer Dynamik geführt. Neue digitale Instrumente verändern das Gesicht der Kommunikation, der öffentlichen Verwaltung, der Bildung, des Konsums, des persönlichen Austauschs und unzähliger anderer Aspekte des täglichen Lebens.
Darüber hinaus können Technologien, die eine Vielzahl von Algorithmen einsetzen, aus den digitalen Spuren, die im Internet hinterlassen werden, Daten extrahieren, die es ermöglichen, die Denk- und Beziehungsgewohnheiten der Menschen, oft ohne ihr Wissen, zu kommerziellen oder politischen Zwecken zu kontrollieren, wodurch die bewusste Ausübung der Entscheidungsfreiheit eingeschränkt wird. In einem Raum wie dem Internet, der durch eine Informationsflut gekennzeichnet ist, können sie nämlich den Datenfluss nach Auswahlkriterien strukturieren, die der Nutzer nicht immer wahrnimmt.
Wir müssen daran erinnern, dass wissenschaftliche Forschung und technologische Innovationen nicht losgelöst von der Realität und »neutral«4, sondern kulturellen Einflüssen unterworfen sind. Insofern es sich um ganz und gar menschliche Tätigkeiten handelt, spiegeln die Richtungen, die sie einschlagen, Entscheidungen wider, die durch die persönlichen, sozialen und kulturellen Werte jeder Epoche bedingt sind. Dasselbe gilt für die Ergebnisse, die sie erzielen: Gerade weil sie die Frucht spezifisch menschlicher Zugänge zur sie umgebenden Welt sind, haben sie immer eine ethische Dimension, die eng mit den Entscheidungen derer verbunden sind, die Versuche durchführen und die Produktion auf bestimmte Ziele ausrichten.
Dies gilt auch für die Formen künstlicher Intelligenz. Bis heute gibt es in der Welt der Wissenschaft und Technik keine einheitliche Definition dafür. Der Begriff selbst, der inzwischen in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen ist, umfasst eine Vielzahl von Wissenschaften, Theorien und Techniken, die darauf abzielen, dass Maschinen in ihrer Funktionsweise die kognitiven Fähigkeiten des Menschen reproduzieren oder imitieren. Die Verwendung des Plurals »Formen der Intelligenz« kann vor allem dazu beitragen, die unüberbrückbare Kluft zu betonen, die zwischen diesen Systemen, so erstaunlich und leistungsfähig sie auch sein mögen, und dem Menschen besteht: Sie sind letztlich »bruch-stückhaft« in dem Sinne, dass sie nur bestimmte Funktionen der menschlichen Intelligenz imitieren oder reproduzieren können. Die Verwendung des Plurals unterstreicht auch, dass diese untereinander sehr verschiedenen Geräte immer als »soziotechnische Sys-teme« betrachtet werden sollten. In der Tat hängt ihre Wirkung – unabhängig von der zugrundeliegenden Technologie – nicht nur davon ab, wie sie konzipiert sind, sondern auch von den Zielen und Interessen derjenigen, die sie besitzen und entwickeln, sowie von den Situationen, in denen sie eingesetzt werden.
Künstliche Intelligenz muss daher als eine Galaxie verschiedener Wirklichkeiten verstanden werden, und wir können nicht a priori davon ausgehen, dass ihre Entwicklung einen positiven Beitrag zur Zukunft der Menschheit und zum Frieden zwischen den Völkern leisten wird. Ein solches positives Ergebnis wird nur möglich sein, wenn wir uns als dazu fähig erweisen, verantwortungsbewusst zu handeln und grundlegende menschliche Werte wie »Inklusion, Transparenz, Sicherheit, Gerechtigkeit, Vertraulichkeit und Zuverlässigkeit«5 zu respektieren.
Es reicht auch nicht aus, bei denjenigen, die Algorithmen und digitale Technologien entwickeln, eine Verpflichtung zu ethischem und verantwortungsvollem Handeln vorauszusetzen. Es müssen Organismen gestärkt oder gegebenenfalls geschaffen werden, die sich mit den neu auftretenden ethischen Fragen befassen und die Rechte derjenigen schützen, die Formen der künstlichen Intelligenz nutzen oder von ihnen beeinflusst werden6.
Die unermessliche Ausbreitung der Technologie muss daher mit einer angemessenen Heranbildung zur Verantwortung für ihre Entwicklung einhergehen. Freiheit und friedliche Koexistenz sind bedroht, wenn der Mensch der Versuchung von Egoismus, Eigennutz, Profitgier und Machtstreben erliegt. Wir haben daher die Pflicht, unseren Blick zu weiten und die technische und wissenschaftliche Forschung auf das Streben nach Frieden und Gemeinwohl auszurichten, im Dienste der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen und der Gemeinschaft7.
Die einem jeden Menschen innewohnende Würde und die Geschwisterlichkeit, die uns als Glieder der einen Menschheitsfamilie verbindet, müssen die Grundlage für die Entwicklung neuer Technologien bilden und als unbestreitbare Kriterien für deren Bewertung noch vor ihrem Einsatz dienen, damit der digitale Fortschritt unter Wahrung der Gerechtigkeit stattfinden und zur Sache des Friedens beitragen kann. Technologische Entwicklungen, die nicht zu einer Verbesserung der Lebensqualität der gesamten Menschheit führen, sondern im Gegenteil Ungleichheiten und Konflikte verschärfen, können niemals als echter Fortschritt angesehen werden8.
Künstliche Intelligenz wird zunehmend an Bedeutung gewinnen. Die Herausforderungen, die sie mit sich bringt, sind technischer, aber auch anthropologischer, didaktischer, sozialer und politischer Natur. Sie verspricht zum Beispiel das Ersparen schwerer Arbeit, effizientere Produktion, einfacheren Transport und dynamischere Märkte ebenso wie eine Revolution bei der Datenerfassung, -organisation und -überprüfung. Wir müssen uns der rasanten Veränderungen, die jetzt stattfinden, bewusst sein und sie so steuern, dass die grundlegenden Menschenrechte gewahrt bleiben und die Institutionen und Gesetze, die eine ganzheitliche menschliche Entwicklung fördern, respektiert werden. Künstliche Intelligenz sollte dem besten menschlichen Potenzial und unseren höchs-ten Zielen dienen, nicht mit ihnen konkurrieren.
3. Die Technologie der Zukunft: Maschinen, die von selbst lernen
Künstliche Intelligenz, die auf maschinellen Lerntechniken basiert, befindet sich zwar noch in der Pionierphase, führt aber bereits in ihren vielfältigen Formen zu bedeutenden Veränderungen im gesellschaftlichen Gefüge und übt einen tiefgreifenden Einfluss auf Kulturen, soziales Verhalten und Friedensstiftung aus.
Entwicklungen wie maschinelles Lernen oder Deep Learning werfen Fragen auf, die über den Bereich der Technologie und des Ingenieurwesens hinausgehen und mit einem Verständnis zu tun haben, das eng mit dem Sinn des menschlichen Lebens, den grundlegenden Prozessen des Wissens und der Fähigkeit des Geistes, zur Wahrheit zu gelangen, verbunden ist.
Die Fähigkeit einiger Geräte, syntaktisch und semantisch kohärente Texte zu produzieren, ist zum Beispiel keine Garantie für Zuverlässigkeit. Man sagt ihnen nach, dass sie »halluzinieren« können, d. h. Aussagen generieren können, die auf den ersten Blick plausibel erscheinen, in Wirklichkeit aber unbegründet sind oder Vorurteile weitertragen. Dies stellt ein ernstes Problem dar, wenn künstliche Intelligenz in Desinformationskampagnen eingesetzt wird, die falsche Nachrichten verbreiten und zu einem wachsenden Misstrauen gegenüber den Medien führen. Vertraulichkeit, Dateneigentum und geistiges Eigentum sind weitere Bereiche, in denen die betreffenden Technologien ernsthafte Risiken bergen, zu denen noch weitere negative Folgen ihres Missbrauchs hinzukommen, wie Diskriminierung, Einmischung in Wahlprozesse, das Aufkommen einer Überwachungsgesellschaft, digitale Ausgrenzung und die Verschärfung eines Individualismus, der sich zunehmend von der Gemeinschaft abkoppelt. All diese Faktoren bergen die Gefahr, Konflikte zu schüren und den Frieden zu behindern.
4. Das Gespür für Grenzen im technokratischen Paradigma
Unsere Welt ist zu groß, zu vielfältig und zu komplex, um sie vollständig kennen und klassifizieren zu können. Der menschliche Verstand vermag ihren Reichtum niemals auszuschöpfen, auch nicht mit Hilfe der fortschrittlichsten Algorithmen. Diese bieten nämlich keine gesicherten Vorhersagen für die Zukunft, sondern nur statistische Annäherungen. Nicht alles lässt sich vorhersagen, nicht alles lässt sich berechnen; letztlich steht »die Wirklichkeit […] über der Idee«9, und wie großartig unsere Rechenkapazität auch sein mag, es wird immer einen unzugänglichen Rest geben, der sich jedem Versuch der Quantifizierung entzieht.
Außerdem ist die große Menge an Daten, die von künstlichen Intelligenzen analysiert werden, an sich noch keine Garantie für Unparteilichkeit. Wenn Algorithmen Informationen extrapolieren, laufen sie immer Gefahr, diese zu verzerren und die Ungerechtigkeiten und Vorurteile des Umfelds, aus dem sie stammen, zu reproduzieren. Je schneller und komplexer sie werden, desto schwieriger ist es zu verstehen, warum sie ein bestimmtes Ergebnis hervorgebracht haben.
»Intelligente« Maschinen mögen die ihnen zugewiesenen Aufgaben mit zunehmender Effizienz erfüllen, aber der Zweck und der Sinn ihrer Operationen werden weiterhin von Menschen, die ihr je persönliches Werteuniversum besitzen, bestimmt oder ermöglicht. Es besteht die Gefahr, dass die Kriterien, die bestimmten Entscheidungen zugrunde liegen, unklarer werden, dass die Verantwortung für Entscheidungen verschleiert wird und dass die Produzenten sich ihrer Verpflichtung entziehen, zum Wohle der Gemeinschaft zu handeln. In gewisser Weise wird dies durch das technokratische System begünstigt, das die Wirtschaft mit der Technologie verbindet und das Kriterium der Effizienz begünstigt, indem es dazu neigt, alles zu ignorieren, was nicht mit seinen unmittelbaren Interessen zu tun hat10.
Dies muss uns dazu veranlassen, über einen Aspekt nachzudenken, der in der heutigen technokratischen und effizienzorientierten Mentalität so oft vernachlässigt wird und dennoch für die persönliche und soziale Entwicklung entscheidend ist: das »Gespür für Grenzen«. Wenn der Mensch, der definitionsgemäß sterblich ist, nämlich meint, mit Hilfe der Technik jede Grenze zu überschreiten, läuft er durch die Besessenheit alles kontrollieren zu wollen Gefahr, die Kontrolle über sich selbst zu verlieren; auf der Suche nach absoluter Freiheit in die Spirale einer technologischen Diktatur zu geraten. Das Anerkennen und Akzeptieren der eigenen geschöpflichen Grenzen ist für den Menschen die unverzichtbare Bedingung, um die Fülle als Gabe zu erlangen, oder besser, anzunehmen. Stattdessen könnten im ideologischen Kontext eines technokratischen Paradigmas, das von der prometheischen Anmaßung der Autarkie beseelt ist, die Ungleichheiten ins Unermessliche wachsen und sich Wissen und Reichtum in den Händen einiger weniger anhäufen, was ernsthafte Risiken für die demokratischen Gesellschaften und das friedliche Zusammenleben mit sich bringt11.
5. Brisante Themen für die Ethik
In Zukunft könnte die Zuverlässigkeit eines Hypothekenbewerbers, die Eignung einer Person für eine Arbeit, die Wahrscheinlichkeit der Rückfälligkeit eines Verurteilten oder das Recht, politisches Asyl oder Sozialhilfe zu erhalten, von Systemen künstlicher Intelligenz bestimmt werden. Das Fehlen unterschiedlicher Vermittlungsebenen, das diese Systeme mit sich bringen, ist für bestimmte Formen von Vorurteilen und Diskriminierung besonders anfällig: Systemfehler können sich leicht vervielfachen und so nicht nur in
Einzelfällen zu Ungerechtigkeiten, sondern durch einen Dominoeffekt auch zu echten Formen sozialer Ungleichheit führen.
Darüber hinaus scheinen Formen künstlicher Intelligenz manchmal in der Lage zu sein, die Entscheidungen der Einzelnen durch vorgegebene Optionen, die mit Anreizen und Abschreckungen verbunden sind, oder durch Systeme zur Lenkung persönlicher Entscheidungen, die auf der Aufbereitung von Informationen beruhen, zu beeinflussen. Diese Formen der Manipulation oder sozialer Kontrolle bedürfen sorgfältiger Aufmerksamkeit und Überwachung und implizieren eine klare rechtliche Verantwortung seitens der Hersteller, der Nutzer und der Regierungsbehörden.
Sich automatisierten Prozessen anzuvertrauen, die Individuen kategorisieren, zum Beispiel durch den allgegenwärtigen Einsatz von Überwachungssystemen oder die Einführung von Systemen zur Ermittlung sozialer Bonität, könnte auch tiefgreifende Auswirkungen auf das zivilgesellschaftliche Gefüge haben, indem unangemessene Rangordnungen unter den Bürgern aufgestellt werden. Und diese künstlichen Ranking-Prozesse könnten auch zu Machtkonflikten führen, da sie nicht nur virtuelle Adressaten betreffen, sondern Menschen aus Fleisch und Blut. Die grundlegende Achtung der Menschenwürde verlangt, die Gleichsetzung der Einzigartigkeit der Person mit einem Datensatz abzulehnen. Algorithmen darf nicht erlaubt werden, die Art und Weise zu bestimmen, wie wir die Menschenrechte verstehen, die Grundwerte des Mitgefühls, der Barmherzigkeit und der Vergebung beiseite zu schieben oder die Möglichkeit auszuschließen, dass ein Individuum sich ändert und die Vergangenheit hinter sich lässt.
In diesem Zusammenhang kommen wir nicht umhin, über die Auswirkungen der neuen Technologien auf das Arbeitsleben nachzudenken: Tätigkeiten, die früher ausschließlich der menschlichen Arbeitskraft vorbehalten waren, werden rasch von indus-triellen Anwendungen der künstlichen Intelligenz übernommen. Auch in diesem Fall besteht das erhebliche Risiko eines unverhältnismäßigen Vorteils für einige wenige zum Preis der Verarmung vieler. Die Achtung der Würde der Arbeitnehmer und die Bedeutung der Beschäftigung für den wirtschaftlichen Wohlstand der Personen, der Familien und der Gesellschaften, die Sicherheit der Arbeitsplätze und faire Gehälter sollten für die internationale Gemeinschaft eine hohe Priorität darstellen, während diese Formen der Technologie immer tiefer in die Arbeitswelt eindringen.
6. Werden wir Schwerter zu Pflugscharen machen?
Wenn man heutzutage die Welt um uns herum betrachtet, kann man sich den erns-ten ethischen Fragen im Zusammenhang mit der Rüstungsindustrie nicht entziehen. Die Möglichkeit, militärische Operationen mittels ferngesteuerter Systeme durchzuführen, hat zu einer verringerten Wahrnehmung der von ihnen verursachten Zerstörungen und der Verantwortung für ihren Einsatz geführt, was zu einer noch kälteren und distanzierteren Haltung gegenüber der gewaltigen Tragik des Krieges beiträgt. Die Forschung im Bereich neuer Technologien für die so genannten »tödlichen autonomen Waffensysteme«, einschließlich des Einsatzes von künstlicher Intelligenz im Krieg, ist ein ernster Grund für ethische Bedenken. Autonome Waffensysteme werden niemals moralisch verantwortliche Subjekte sein können: Die ausschließlich menschliche Fähigkeit zum moralischen Urteil und zur ethischen Entscheidungsfindung ist mehr als ein komplexer Satz von Algorithmen, und diese Fähigkeit kann nicht auf die Programmierung einer Maschine reduziert werden, die, wie »intelligent« sie auch sein mag, doch immer eine Maschine bleibt. Aus diesem Grund ist es unerlässlich, eine sachgemäße, maßgebliche und kohärente menschliche Kontrolle der Waffensysteme zu garantieren.
Wir können auch nicht die Möglichkeit vernachlässigen, dass hochentwickelte Waffen in die falschen Hände geraten und zum Beispiel Terroranschläge oder Einsätze zur Destabilisierung rechtmäßiger Regierungsinstitutionen erleichtern. Kurz gesagt, die Welt hat es wirklich nicht nötig, dass die neuen Technologien zu einer unfairen Entwicklung des Waffenmarktes und -handels beitragen und so den Wahnsinn des Krieges fördern. Auf diese Weise läuft nicht nur die Intelligenz des Menschen, sondern auch das Herz selbst Gefahr, immer »künstlicher« zu werden. Die fortschrittlichsten technischen Anwendungen sind nicht einzusetzen, um gewaltsame Konfliktlösungen zu erleichtern, sondern um die Wege des Friedens zu ebnen.
In einer positiveren Betrachtungsweise könnte künstliche Intelligenz, wenn sie zur Förderung einer ganzheitlichen menschlichen Entwicklung eingesetzt würde, wichtige Innovationen in der Landwirtschaft, der Bildung und der Kultur, eine Verbesserung des Lebensstandards ganzer Nationen und Völker sowie das Wachstum der menschlichen Geschwisterlichkeit und der sozialen Freundschaft bewirken. Letztlich ist die
Art und Weise, wie wir sie nutzen, um
die Geringsten einzubeziehen, d.h. unsere schwächsten und bedürftigsten Brüder und Schwestern, der Maßstab, der unsere Menschlichkeit aufzeigt.
Eine menschliche Sichtweise und der Wunsch nach einer besseren Zukunft für unsere Welt führen zur Notwendigkeit eines interdisziplinären Dialogs, der auf ein ethisches Vorgehen für die Entwicklung von Algorithmen zielt – die Algor-Ethik –, bei der die Werte die Richtung für die neuen Technologien weisen12. Ethische Fragen sollten vom Beginn der Forschung an berücksichtigt werden, ebenso in den Phasen des Erprobens, des Entwickelns, der Produktion, der Logistik und der Vermarktung. Dies ist der Ansatz der Ethics by Design, bei der den Bildungseinrichtungen und den Verantwortlichen des Entscheidungsprozesses eine wesentliche Rolle zukommt.
7. Herausforderungen
für die Bildung
Die Entwicklung einer Technologie, die die Menschenwürde respektiert und ihr dient, hat deutliche Auswirkungen auf die Bildungseinrichtungen und die Welt der Kultur. Durch die Vervielfachung der Kommunikationsmöglichkeiten haben die digitalen Technologien neue Formen der Begegnung ermöglicht. Es besteht jedoch die Notwendigkeit, fortlaufend über die Art der Beziehungen nachzudenken, zu denen sie uns führen. Die jungen Menschen wachsen in einem kulturellen Umfeld auf, das von der Technologie durchdrungen ist, was unweigerlich einige Fragen bezüglich der Lehr- und Ausbildungsmethoden aufwirft.
Zu lehren, Formen künstlicher Intelligenz zu nutzen, sollte vor allem darauf abzielen, das kritische Denken zu fördern. Es ist notwendig, dass die Nutzer aller Altersgruppen, vor allem aber junge Menschen, eine Fähigkeit entwickeln, Daten und Inhalte, die im Internet abgerufen wurden oder von Systemen der künstlichen Intelligenz erzeugt worden sind, kritisch zu verwenden. Die Schulen, die Universitäten und die wissenschaftlichen Gemeinschaften sind aufgerufen, den Studenten und Berufstätigen dabei zu helfen, sich die sozialen und ethischen Aspekte der Entwicklung und der Nutzung der Technologie anzueignen.
Dazu auszubilden, die neuen Kommunikationsmittel zu verwenden, sollte nicht nur die Fehlinformation, die Fake News berücksichtigen, sondern auch das beunruhigende Zunehmen »angestammte[r] Ängste, […]. Sie haben sich […] zu verbergen gewusst und vermochten sich hinter neuen Technologien zu potenzieren«13. Leider müssen wir wieder einmal gegen die Versuchung ankämpfen, »eine Kultur der Mauern zu errichten, Mauern hochzuziehen, um [die] Begegnung mit anderen Kulturen, mit anderen Menschen«14 und die Entwicklung eines friedlichen und geschwisterlichen Zusammenlebens zu verhindern.
8. Herausforderungen für die Entwicklung des Völkerrechts
Die globale Reichweite der künstlichen Intelligenz macht deutlich, dass neben der Verantwortung der souveränen Staaten, deren Einsatz innerhalb ihres eigenen Hoheitsgebiets zu regeln, internationale Organisationen eine entscheidende Rolle beim Abschluss multilateraler Vereinbarungen spielen können und dabei, deren Anwendung und Umsetzung zu koordinieren15. In dieser Hinsicht fordere ich die Völkergemeinschaft auf, gemeinsam daran zu arbeiten, einen verbindlichen internationalen Vertrag zu schließen, der die Entwicklung und den Einsatz von künstlicher Intelligenz in ihren vielfältigen Formen regelt. Das Ziel der Regulierung sollte natürlich nicht nur die Verhinderung schädlicher Praktiken sein, sondern auch die Ermutigung zu einer guten Praxis, indem neue und kreative Ansätze angeregt sowie persönliche und gemeinschaftliche Initiativen erleichtert werden16.
Letztlich ist es bei der Suche nach normativen Regelungen, die den Entwicklern digitaler Technologien eine ethische Orientierung bieten können, unerlässlich, die menschlichen Werte zu identifizieren, die den Bemühungen der Gesellschaften zugrunde liegen sollten, um die notwendigen gesetzlichen Rahmenbedingungen zu formulieren, zu beschließen und anzuwenden. Das Erarbeiten ethischer Richtlinien für die Entwicklung künstlicher Intelligenz kann nicht davon absehen, die tieferen Fragen nach dem Sinn der menschlichen Existenz, dem Schutz der grundlegenden Menschenrechte und dem Streben nach Gerechtigkeit und Frieden zu berücksichtigen. Dieser Prozess ethischer und rechtlicher Unterscheidung kann eine wertvolle Gelegenheit bieten, um gemeinsam darüber nachzudenken, welche Rolle die Technologie in unserem individuellen und gemeinschaftlichen Leben spielen sollte und wie ihr Einsatz zur Schaffung einer gerechteren und menschlicheren Welt beitragen kann. Aus diesem Grund sollten die Stimmen aller betroffenen Gruppen in den Debatten über die Regulierung der künstlichen Intelligenz berücksichtigt werden, auch die Armen, die Ausgegrenzten und andere, die in globalen Entscheidungsprozessen oft ungehört bleiben.
* * * * *
Ich hoffe, dass diese Überlegungen dazu ermutigen, dafür zu sorgen, dass der Fortschritt bei der Entwicklung von Formen künstlicher Intelligenz letztlich der Sache der menschlichen Geschwisterlichkeit und des Friedens dient. Dies ist nicht die Verantwortung einiger weniger, sondern der gesamten Menschheitsfamilie. Der Friede ist nämlich die Frucht von Beziehungen, die den anderen in seiner unveräußerlichen Würde anerkennen und annehmen, sowie von Zusammenarbeit und Engagement bei der Suche nach der ganzheitlichen Entwicklung aller Menschen und aller Völker.
Mein Gebet zu Beginn des neuen Jahres ist, dass die rapide Entwicklung von Formen künstlicher Intelligenz die vielen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, die es in der Welt bereits gibt, nicht noch vergrößert, sondern dazu beiträgt, Kriege und Konflikte zu beenden und viele Formen des Leidens zu lindern, die die Menschheitsfamilie heimsuchen. Mögen die Christen, die Gläubigen der verschiedenen Religionen und die Männer und Frauen guten Willens in Harmonie zusammenarbeiten, um die Chancen zu nutzen und sich den durch die digitale Revolution verursachten Herausforderungen zu stellen und um den künftigen Generationen eine solidarischere, gerechtere und friedlichere Welt zu übergeben.
Aus dem Vatikan, am 8. Dezember 2023
Fußnoten
1Nr. 33.
2Ebd., Nr. 57.
3Vgl. Enzyklika Laudato si’ (24. Mai 2015), 104.
4Vgl. ebd., 114.
5Ansprache an die Teilnehmer der Begegnung der »Minerva Dialogues« (27. März 2023).
6Vgl. ebd.
7Botschaft an den Vorstandsvorsitzenden des »World Economic Forum« in Davos-
Klosters (12. Januar 2018).
8Vgl. Enzyklika Laudato si’, 194; Ansprache an die Teilnehmer des Seminars »Das Gemeinwohl im digitalen Zeitalter« (27. September 2019).
9Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium (24 Novembre 2013), 233.
10Vgl. Enzyklika Laudato si’, 54.
11Vgl. Ansprache an die Teilnehmer der Vollversammlung der Päpstlichen Akademie für das Leben (28. Februar 2020).
12Vgl. ebd.
13Enzyklika Fratelli tutti (3. Oktober 2020), 27.
14Vgl. ebd.
15Vgl. ebd., 170-175.
16Vgl. Enzyklika Laudato si’, 177.