· Vatikanstadt ·

Ansprache von Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin bei der Verleihung des Joseph-Ratzinger-Preises am 30. November

Benedikt XVI. – Ein Hirte und Lehrer des Glaubens

 Benedikt XVI. – Ein Hirte und Lehrer des Glaubens  TED-050
15. Dezember 2023

Eminenzen,

Exzellenzen,

verehrte Preisträger,

Vertreter des akademischen Lehrpersonals,

meine Damen und Herren,

liebe Freunde!

Es ist mir eine aufrichtige Freude, in diesem Jahr der Zeremonie der Überreichung des Ratzinger-Preises vorzustehen, und beglückwünsche erneut die beiden namhaften Wissenschaftler, Prof. Pablo Blanco Sarto und Prof. Francesc Torralba Roselló, die mit diesem Preis ausgezeichnet worden sind.

Vor knapp einem Jahr ist Benedikt XVI. am Ende seines langen irdischen Weges angelangt. Daher hat die Verleihung des nach ihm benannten Preises in diesem Jahr, wie bereits erwähnt wurde, den Charakter eines Treffens zu seinem Gedenken und zur Reflexion über das Erbe, das er uns hinterlassen hat. Ein lebendiges Erbe, das auf dem Weg der Kirche in unserer Zeit weiterhin fruchtbar gemacht werden soll, wobei wir nach vorne und nicht zurück blicken wollen.

In dieser Hinsicht haben uns die Ansprachen der beiden Professoren Blanco und Torralba wertvolle Beiträge und Anregungen gegeben. Darüber hinaus werden von einem weiten kulturellen und kirchlichen Horizont geprägte, weitergehende Initiativen der Stiftung auf eben dieses Ziel ausgerichtet sein.

Erlauben Sie auch mir in diesem Sinne einige kurze Bemerkungen, ohne den Anspruch zu erheben, einen Überblick über das lange Leben und das Werk Joseph Ratzingers geben zu wollen. Ich möchte vielmehr mit einigen kurzen Bemerkungen charakteristische Aspekte seines Dienstes als Hirte der Weltkirche hervorheben, die für uns alle, und nicht nur für die katholischen Gläubigen, inspirierend sind und dies bleiben werden.

Im Unterschied zu den Pontifikaten seines Vorgängers und seines Nachfolgers zeigt sich das Pontifikat von Benedikt XVI. ohne große Dynamik auf der internationalen und globalen Bühne der Politik, sondern eher als ein Lehramt, das sich auszeichnet durch das Bewusstsein von der kulturellen und spirituellen Situation der Welt zu Beginn dieses Jahrtausends und der tiefschürfenden Deutung dieser Situation.

Die Zeichen des Wandels und der Krise in den Beziehungen zwischen den Völkern, in der Beziehung zwischen Mensch und Schöpfung, im Verständnis der menschlichen Person, ihrer Würde und Rechte haben sich in den letzten Jahrzehnten mit wachsender Deutlichkeit gezeigt und ließen die sich daraus ergebenden gravierenden Entwicklungen erahnen sowie die Notwendigkeit eines immer dringlicheren und entschiedeneren Einsatzes, um dem entgegenzuwirken. Eine Dringlichkeit, die auch das gegenwärtige
Pontifikat mit Mut und Energie unterstreicht, wie es auch die Reise deutlich gezeigt hätte, die Papst Franziskus aus gesundheitlichen Gründen letztlich absagen musste.

Dadurch dass Papst Benedikt XVI. den Reichtum der Reflexion seines ganzen vorherigen Lebens in seinen Dienst als oberster Hirte eingebracht hat, hat er zum Verständnis der tiefen Gründe der Probleme beigetragen und auch dazu, eine sichere Basis zu finden, auf die sich die Suche nach Lösungen stützen kann. So werden bereits in seiner Sozialenzyklika Caritas in veritate, veröffentlicht in einer Zeit schwerer wirtschaftlicher und sozialer Krisen mit globalen Auswirkungen, die entscheidenden Fragen über das Schicksal unseres gemeinsamen Hauses hervorgehoben und gedeutet, die Papst Franziskus später in Laudato si’ und jetzt in dem jüngsten Schreiben Laudate Deum thematisiert und vertieft hat. Als mögliche Lösungswege werden die Nächstenliebe und die Geschwisterlichkeit aufgezeigt, auf die Papst Franziskus in der Enzyklika Fratelli tutti erneut wirkungsvoll hingewiesen hat.

Benedikt XVI. betrachtet die Entwicklung der zeitgenössischen Gesellschaft mit einem realistischen Blick. Mehrfach spricht er davon, dass »Gott aus dem Horizont der Menschen verschwindet«, und unterstreicht seine Aufgabe als Papst, »die Menschen zu Gott zu führen«, zu der Welt von heute und in der Welt von heute von Gott zu sprechen, nicht von irgendeinem Gott, sondern von dem Gott, der auf dem Sinai gesprochen hat und dessen väterliches Antlitz uns Jesus Christus offenbart hat (Brief an die Bischöfe, 10. März 2009). Er ist überzeugt, dass die Gottvergessenheit die größte Gefahr für das Leben der Menschheit darstellt.

Ich erinnere mich noch, als wäre es gestern gewesen, an die Predigt, die er am
12. September 2009 gehalten hat, als er im Petersdom fünf neue Bischöfe geweiht hat, unter ihnen auch meine Wenigkeit. Eine denkwürdige Feier! Eine denkwürdige Predigt! Er erkannte im »Fernsein von Gott« »die innere Wunde des Menschen« und fügte hinzu: »Das erste und wesentliche Gut, dessen der Mensch bedarf, ist die Nähe Gottes.«

In diesem Zusammenhang unterlässt er es nicht, unermüdlich und mit tiefer Überzeugung auf die Notwendigkeit des harmonischen Beitrags von Glauben und Vernunft hinzuweisen, um den Weg der Wahrheit, den Sinn der menschlichen Existenz und deren Würde zu suchen und zu finden, um das Gute vom Bösen zu unterscheiden im Hinblick auf das Heil des Menschen und der menschlichen Gemeinschaft, um Recht und Gerechtigkeit und ein Zusammenleben in Frieden zu begründen. Seine großen öffentlichen Reden vor Vertretern aus Gesellschaft und Politik – in New York, in London, in Berlin – gehören zu den Höhepunkten eines konstruktiven Dialogangebots zwischen dem Papsttum und der heutigen Welt, nicht nur aufgrund der moralischen und religiösen Autorität der Kirche, sondern auch aufgrund des gedanklichen Tiefgangs und der breiten kulturellen Basis der Argumentation.

Im Übrigen war die Auffassung Ratzingers von der Vernunft, die er unermüdlich vor Augen stellte und förderte, stets die einer »offenen« Vernunft, die in der Lage ist, Mathematik und Naturwissenschaften, Geistes- und Sozialwissenschaften ebenso einzubeziehen wie Philosophie und Theologie; eine Vernunft, die nach dem Dialog zwischen den verschiedenen Dimensionen und Disziplinen des Wissens und der Kunst dürstete; eine Vernunft, die in der Lage ist, sich die Fragen nach der Natur wie die nach dem Menschen, seiner Herkunft und seiner Bestimmung zu stellen und Antworten zu finden, ohne sich im Positivismus zu verschließen und ohne im Relativismus die eigene Berufung zur Suche nach der Wahrheit zu verlieren. Zweifellos ist Benedikt XVI. ein Lehrer und Vorbild für die immer notwendige Übung des Dialogs zwischen Glauben und Vernunft in der Welt von heute, mit ihrer kulturellen Komplexität und mit all den entscheidenden Fragen, die sie uns jeden Tag stellt. Das Erbe, das er uns hinterlässt, besteht nicht so sehr in einer Reihe von bestimmten Lösungen, sondern eher in der richtigen Haltung, mit der wir uns bewegen, indem wir uns mit den beiden Flügeln der offenen Vernunft und des Glaubens in großen Höhen bewegen, wenn auch immer mit Demut, Mühe und Beharrlichkeit.

Auch deshalb war und ist Benedikt XVI. ein leuchtendes und mutiges Beispiel für den Dialog, im Gegensatz zu dem, was manche oberflächlich dachten. Die Schwierigkeiten, denen er zuweilen in den Beziehungen zu gegensätzlichen Positionen begegnete, waren im Allgemeinen eine Folge seines Anspruchs vollkommener Loyalität, weswegen er einen Dialog ablehnte, der aus oberflächlichen Kompromissen besteht, und eine Begegnung auf einer tieferen Ebene in der Wahrheit suchte. Im Übrigen gibt es unzählige Zeugnisse für seine aufmerksame und aufrichtige Bereitschaft des Zuhörens von Seiten derer, die ihn gekannt haben und deren Gesprächspartner er auch in engeren, persönlichen Beziehungen war. Es handelte sich keineswegs um ein rein auf die begriffliche Ebene begrenztes Zuhören, sondern – ohne diesen Aspekt zu vernachlässigen – es schloss die Totalität der Person ein – Geist, Herz, Lebenserfahrungen –, wie dies für jene »Begegnung« unerlässlich ist, die Papst Franziskus uns unermüdlich vorschlägt.

Benedikt XVI. war der letzte Papst, der das Zweite Vatikanische Konzil persönlich miterlebt hat, und er hat nicht nur im Verlauf des Konzils einen äußerst wichtigen Beitrag geleistet, sondern auch mit Weitblick zu seiner Umsetzung beigetragen. Und so hat er uns geholfen, die langfristigen Orientierungspunkte für die Formulierung der Sendung der Kirche in unserer Zeit zu erkennen, in Bezug auf die moderne Kultur und hinsichtlich der Beziehungen zu den großen Religionen.

In seinem Pontifikat fehlte es nicht an Schwierigkeiten, wenn wir insbesondere an die dramatische Manifestation der Krise des sexuellen Missbrauchs durch Mitglieder des Klerus denken, deren gravierende Tragweite er bereits als Kardinalpräfekt erkannt hatte und mit der er sich während seines gesamten Pontifikats auseinanderzusetzen hatte. Er tat dies mit tiefem Schmerz, aber mit demütigem Respekt vor den Opfern und der Wahrheit,
indem er die Kirche auf den Weg des Zuhörens, der Gerechtigkeit und der Strenge, der Umkehr und der Prävention führte, den sein Nachfolger fortsetzen und so Fortschritte machen konnte in Richtung einer immer angemesseneren Abhilfe für diese schrecklichen Übel.

Benedikt XVI. war ein Hirte und Lehrer des Glaubens. Auch wenn er in den verschiedenen Bereichen der Theologie über ein umfangreiches und sehr detailliertes Wissen verfügte, war er in der Lage, uns mit Ordnung und Klarheit zum Wesentlichen zu führen. Dies bewies er mit der Wahl der drei theologischen Tugenden als Thema von drei Enzykliken, von denen die letzte bezeichnenderweise von seinem Nachfolger aufgegriffen und abgeschlossen wurde.

Deus caritas est. Gott ist die Liebe. Wir haben an die Sorge Benedikts hinsichtlich der Gottvergessenheit in unserer Welt erinnert und an die Dringlichkeit, mit der er sich berufen fühlte, uns zu Ihm zu führen. Das Wort, mit dem Benedikt seinen ersten und am meisten erwarteten lehramtlichen Akt eröffnete, sagt ganz klar, wer der Gott ist, den Jesus uns offenbart, was die letzte Wahrheit ist, nach der Vernunft und Glauben streben: die Liebe. Es ist beeindruckend, mit welcher Kontinuität die Päpste dieses Jahrhunderts das Herz der christlichen Botschaft gerade für unsere von Kriegen und Auseinandersetzungen geplagte Zeit in der Liebe und Barmherzigkeit Gottes sehen. Diese müssen nicht nur die Worte, sondern den gesamten Dienst der Kirche inspirieren. Mit Tiefe und Feingefühl erinnerte Papst Franziskus in seiner Predigt anlässlich der Exequien für den emeritierten Papst Benedikt an dessen Worte bei der Amtseinführung als oberster Hirte: »Weiden heißt lieben.«

Dieses Geheimnis der Liebe Gottes, mit dessen Ergründung man an kein Ende kommen wird, öffnet für die Hoffnung. Angesichts der Versuchung zu Entmutigung und Verzweiflung, die von den mörderischen Konflikten ausgeht, die uns in diesem »Dritten Weltkrieg in Stücken« beständig vor Augen stehen, spüren wir alle das große Bedürfnis, Hoffnung zu entfachen und sie zu nähren. Aus ungelösten Konflikten entsteht eine Verzweiflung, die immer neue Konflikte hervorbringt. Angesichts dieser Situation hat Benedikt XVI. in der Enzyklika Spe salvi nicht nur die geschichtlichen Ereignisse der menschlichen Hoffnungen und ihrer Krisen nachgezeichnet, sondern auch erneut auf die Perspektive der Erlösung und der endgültigen Gerechtigkeit Gottes für alle vergessenen Opfer aller Konflikte der Welt hingewiesen.

Das theologische und lehramtliche Engagement von Benedikt XVI. im Bereich der Themen der endgültigen Bestimmung und der Hoffnung des Menschen und der Menschheit wird sicherlich ein wichtiges Element seines Erbes bleiben für diese von frenetischer Hektik erfüllte Zeit, die es schwer oder unmöglich macht, das Gedenken an die Vergangenheit und die Zukunft zu bewahren.

Vor einem Jahr hat Papst Franziskus in seiner Ansprache aus Anlass der Überreichung des Ratzinger-Preises an den Blick von Papst Benedikt erinnert und dabei von seinem »kontemplativen Blick« gesprochen, der sich in den Jahren nach seinem Amtsverzicht immer mehr auf die letzten Wirklichkeiten richtete. In unseren Zeiten hat der Herr der Kirche nicht nur weise und umsichtige, sondern ebenso tugendhafte und heilige Päpste geschenkt, die das Volk Gottes auch durch ihr Beispiel geleitet haben. Johannes Paul II. hat ein herausragendes Zeugnis für die im Glauben gelebte Krankheit gegeben, Benedikt XVI. für eine im Gebet gelebte, altersbedingt zunehmende Schwäche.

Sein Erbe hat also verschiedene kostbare Aspekte. Sicherlich ist da der theologische und kulturelle Aspekt, der in seinen umfangreichen Opera Omnia und in seinem päpstlichen Lehramt ein dauerhaftes Zeugnis findet, und ebenso der pastorale Aspekt. Aber wir dürfen den geistlichen Aspekt nicht vergessen, der in der Tiefe und in der Spiritualität seiner Predigten erstrahlt und vollendet wurde in seinem langen Zeugnis des Gebets für die Kirche und der Vorbereitung auf die Begegnung mit Gott.

In der Tat war bereits der Akt seines Verzichts auf den Petrusdienst eine bewundernswerte Synthese aus der klaren, einsichtigen Wahrnehmung der Situation, aus der Verantwortung in der Ausübung der Leitungsvollmacht und aus der Demut vor Gott und den Menschen. Dies wird sicherlich auch für die Zukunft die Geschichte der Kirche unserer Zeit prägen.

Den Preisträgern und Ihnen allen gilt daher der Auftrag und der Wunsch, dass Sie Ihren Dienst fortsetzen mögen, indem Sie sich weiterhin vom Erbe dieses großen Papstes Benedikt XVI. inspirieren und unterstützen lassen. Danke!

(Orig. ital. in O.R. 1.12.2023)