Als Martha María Gaviláns 2018 aus Kuba auswanderte, war das, was ihr den größten Schmerz bereitete, nicht der Abschied von Heimat und Familie. Und es war auch nicht die nie enden wollende Reise mit dem Flugzeug und auf dem Landweg, die sie von Havanna ins 6.500 Kilometer entfernte São Paulo führte. Nein, das Schlimmste für die 47-jährige Lehrerin war, dass sie mit ihrem Sohn in einer Millionenmetropole ankam, in der sie keine Zukunft hatte. Eigentlich hatte sie sich ja in Argentinien oder Uruguay niederlassen wollen, doch ihre wenigen Ersparnisse waren so schnell dahingeschmolzen, dass sie – so unglaublich das für sie auch scheinen mochte – gezwungen war, in einer Flüchtlingsunterkunft um Aufnahme zu bitten. Und so klopfte sie eines Abends an die Tür der »Casa do Migrante« von »Missão Paz«, einer von den Scalabrini-Missionaren betriebenen Einrichtung.
»Ich habe mir drei Tage lang in meinem Zimmer die Augen ausgeweint: für mich war es das Ende der Welt«, erinnert sie sich. Doch schon bald verwandelte sich ihre Traurigkeit in Hoffnung. In der »Missão Paz« gab man ihr Portugiesisch-Unterricht; half ihr, die Formalitäten für eine Aufenthaltsgenehmigung in Brasilien zu erledigen, und vermittelte ihr eine erste Stelle als Kellnerin in einem internationalen Hotel. Später arbeitete sie in verschiedenen Berufen: als Reinigungskraft in einem Veranstaltungszentrum, als Elektroinstallateurin – und heute ist sie Verkäuferin in einer bekannten Bekleidungskette. Aber es war vor allem die psychologische Unterstützung, die sie erhielt, die den Unterschied machte. Denn so hat man ihr das nötige Rüstzeug gegeben, mit dem sie die Hürden des schwierigen Anpassungsprozesses überwinden konnte, den Migranten oft durchlaufen und der im Durchschnitt zwei Jahre dauert.
Laut Berenice Young, Psychologin bei »Missão Paz«, ist die Ankunft am gewählten Zielort der kritischste Moment für die Migranten. Dort müssten sie sich nämlich einer Reihe von Fragen stellen, auf die es keine sofortige Antwort gebe. »Sie müssen eine neue Sprache lernen, sich in einer neuen Stadt zurechtfinden; wissen, wie der brasilianische Staat funktioniert, welche Voraussetzungen sie erfüllen müssen und welche Dokumente sie brauchen. Sie müssen herausfinden, wie sie in dieser ersten Zeit überleben können und ob sie jemals in der Lage sein werden, zu arbeiten«, sagt Berenice Young, die ein psychologisches Unterstützungsprogramm für Neuankömmlinge koordiniert.
Es handelt sich um eine kurze Therapie, etwa zwölf Sitzungen in drei Monaten. Zeit genug, um sich selbst und die Dynamik der Anpassung an eine neue Gesellschaft zu verstehen. So kann man verhindern, dass die anfängliche Instabilität diese Menschen zur Verzweiflung treibt, ja sie in ihr Heimatland zurückkehren wollen, weil sie das Gefühl haben, dass ihnen in der Fremde keine Selbstständigkeit ermöglicht wird. Wie Berenice Young versichert, sind solche Maßnahmen äußerst wirksam – obwohl es immer wieder einen kleinen Prozentsatz gibt, der in Depressionen verfällt oder psychosomatische Probleme hat. Diese Menschen werden dann in spezialisierte Gesundheitszentren für Migranten geschickt, wo sie eine längerfristige Behandlung erhalten.
Ähnlich sieht es auch der audiovisuelle Regisseur und Rap-Sänger Narrador Kanhanga. Er steht einer Vereinigung von mehr als 1.500 angolanischen Familien vor, die in Porto Alegre (Bundesstaat Rio Grande do Sul) leben. Er selbst hat sich dort 2005 niedergelassen, und auch er hatte – wie viele seiner Landsleute – mit der psychischen Belastung der Integration zu kämpfen. Deshalb setzt er sich heute auch dafür ein, die Eingliederung der Neuankömmlinge in den Arbeitsmarkt zu erleichtern und die bürokratische Last der Beschaffung der nötigen Dokumente leichter zu gestalten.
»Wenn ein Migrant beschließt, sein Land zu verlassen, weiß er mehr oder weniger schon bevor er in dem neuen Land ankommt, was ihn dort erwartet. Was er aber nicht weiß ist, was ihn gleich bei der Ankunft erwartet: wer dort auf ihn warten wird, wer die Menschen sind, die ihm helfen können. Und das schafft ein Trauma, stellt eine große Belastung für die psychische Gesundheit dar«, erklärt der Angolaner.
Der Psychologe Rodrigo Lages e Silva, Forscher an der Universität Rio Grande do Sul, erkennt darin das
sogenannte »Odysseus-Syndrom«: ein emotionales Unwohlsein, das durch ein starkes Gefühl der Entwurzelung, der Nichtzugehörigkeit zu dem Ort, an dem man sich niedergelassen hat, entsteht. »Wir sehen Menschen, die nach vielen Schwierigkeiten, einer beschwerlichen Reise, endlich angekommen sind und versuchen, sich ein neues Leben aufzubauen. Ein Leben, das ihnen – wie sie hoffen – mehr Chancen bieten wird: doch alles, was sie vorfinden, sind nur neue Schwierigkeiten«, so der Wissenschaftler.
Dem Experten zufolge ist dies vor allem auf die Schwierigkeiten zurückzuführen, die Migranten beim Umzug in eine neue Stadt, bei der Wohnungssuche und der Eingliederung in das Bildungs- und Gesundheitssystem haben. Er stellt mit Bedauern fest, dass es in Brasilien leider auch weiter rassistische und fremdenfeindliche Haltungen gibt.
Kanhanga und Rodrigo Lages e Silva sind Teil des umfangreichen Netzwerkes von Einrichtungen, die mit Cibai, dem italienisch-brasilianischen Zentrum für Migrationshilfe, zusammenarbeiten. Diese Einrichtung der Scalabrinianer wurde 1958 in Porto Alegre gegründet, um italienische Migranten aufzunehmen, die in dieser südbrasilianischen Region ankamen. Im Laufe der Geschichte haben sich die Ausgangsorte der Migrationswellen aber verändert, und so wurden in Cibai Menschen aus 52 verschiedenen Ländern betreut. Heute kommen die meisten aus Venezuela, Haiti, Senegal und Angola.
Der Direktor des Cibai, Pater Adelmar Barilli, setzt auf ein Modell der ganzheitlichen Betreuung von Migranten. Die Sorge gilt vor allem Neuankömmlingen, für deren dringendste Bedürfnisse gesorgt werden muss: Nahrung, Kleidung, Unterkunft, Sprache, Arbeit, psychologische Unterstützung usw. »Es wäre nicht sinnvoll, nur Unterkunft, nur Nahrung oder nur Dokumente zur Verfügung zu stellen. Wir versuchen, den Migranten eine umfassende Hilfe anzubieten«, betont er. Der Priester stellt fest, dass eine Verzögerung bei der Eingewöhnung im neuen Land zu einer Zunahme psychischer Probleme führen kann – wie dies im Norden Brasiliens, in der Region Boa Vista, der Fall ist. Dort bleiben die Venezolaner nach dem Grenzübertritt manchmal bis zu zwei Jahre, bevor sie in eine andere Region ziehen können, um dort ein stabileres Leben zu beginnen.
Auch in Porto Alegre haben sich die Scalabrini-Missionsschwestern ganz der Sache der Migranten verschrieben. Seit 23 Jahren unterhalten sie ein Büro am internationalen Busbahnhof, um mit den Migranten in Kontakt zu treten, sobald sie in diesem neuen Land ankommen. Daneben führen sie auch vier Gesundheitszentren an verschiedenen Orten dieser Stadt mit anderthalb Millionen Einwohnern. Eines der dort vorangetriebenen Programme heißt »Bond«: ein kostenloses und vertrauliches »Tele-Assistenz«-System für all jene, die eine psychologische Unterstützung benötigen, die eher darauf abzielt, das Leid der Migration zu bewältigen als psychische Probleme.
»Wir stellen ihnen eine Telefonleitung zur Verfügung, über die sie Fachleute aus dem Bereich der psychischen Gesundheit – Psychologen und Psychiater – je nach Bedarf einmal pro Woche, alle 14 Tage oder einmal im Monat anrufen können,« erklärt Schwester Jakeline Danetti. Und sollte diese telematische Unterstützung nicht ausreichen, werden sie an eine persönliche therapeutische Behandlung verwiesen.
Die große Familie der Scalabrinianer arbeitet auch eng mit öffentlichen Einrichtungen und zivilen Organisationen in Brasilien zusammen und schafft multidisziplinäre Kooperationsnetze, die dafür sorgen, dass Migranten aufgenommen, geschützt, gefördert und in die Gesellschaft integriert werden.
Diese Reportage ist in Zusammenarbeit mit dem Global Solidarity Fund entstanden.
#VoicesofMigrants
Von Felipe Herrera-Espaliat,
Vatican-News-Korrespondent in Brasilien