Liebe Brüder und Schwestern,
willkommen!
Mit Freude begrüße ich euch zum Abschluss der Tagung über das Thema »Die gemeinschaftliche Dimension der Heiligkeit«, veranstaltet vom Dikasterium für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse. Ich danke Kardinal Marcello Semeraro, den Leitern, Mitarbeitern, Postulatoren, Erzbischof Paglia und euch allen, die ihr an den Arbeiten dieser Tage teilgenommen habt.
Ihr habt mir den Kommentar zum Apostolischen Schreiben Gaudete et exsultate überreicht, den das Dikasterium aus Anlass des
10. Jahrestags meines Pontifikatsbeginns veröffentlicht hat. Herzlichen Dank! Ich wünsche mir, dass die in diesem Band enthaltenen Reflexionen vielen helfen mögen, die allgemeine Berufung zur Heiligkeit immer besser zu verstehen.
Dieses Thema der allgemeinen Berufung zur Heiligkeit – und die darin enthaltene gemeinschaftliche Dimension – lagen dem Zweiten Vatikanischen Konzil sehr am Herzen, das insbesondere in Lumen gentium (vgl. Kapitel 5) darüber gesprochen hat. Nicht von ungefähr hat in dieser Hinsicht in den letzten Jahren die Zahl der Selig- und Heilig-sprechungen von Männern und Frauen aller Lebensstände zugenommen: Verheiratete, Zölibatäre, Priester, Gottgeweihte und Laien jedes Alters, jeder Herkunft und Kultur, und auch Familien, ich denke an die polnische Märtyrer-Familie. Insbesondere in Gaudete et exsultate wollte ich die Aufmerksamkeit auf die Zugehörigkeit dieser Brüder und Schwes-tern zum »heiligen gläubigen Gottesvolk« (Nr. 6) lenken, wie auch auf ihre Nähe zu uns als Heilige »von nebenan« (Nr. 7), Mitglieder unserer Gemeinschaften, die in den kleinen Dingen des alltäglichen Lebens eine große Nächstenliebe gelebt haben, auch mit ihren Grenzen und Fehlern, und die Jesus bis zuletzt gefolgt sind. Daher möchte ich nun mit euch gerade über dieses Thema nachdenken und dabei von den vielen möglichen Aspekten drei besonders hervorheben: Heiligkeit als einendes Element, Heiligkeit in der Familie und die Heiligkeit im Martyrium.
Erstens: Heiligkeit, die vereint. Wir wissen, dass die Berufung von uns allen sich zuerst in der Liebe verwirklicht (vgl. Lumen gentium, 40), welche die Gabe des Heiligen Geistes ist (vgl. Röm 5,5) und uns in Christus und mit den Brüdern und Schwestern eint, das heißt sie ist nicht nur ein individuelles, sondern auch ein gemeinschaftliches Geschehen. Wenn Gott den Einzelnen beruft, dann geschieht dies immer zum Wohl aller, wie bei Abraham und Mose, bei Petrus und Paulus. Er beruft den Einzelnen für eine Mission. Und wie Jesus, der Gute Hirte, jedes seiner Schafe beim Namen ruft (vgl. Joh 10,3) und das verlorene Schaft sucht, um es in den Stall zurückzubringen (vgl. Lk 15,4-7), so kann sich die Antwort auf seine Liebe nur in einer Dynamik der Beteiligung und Fürbitte verwirklichen. Das zeigt uns das Evangelium zum Beispiel bei Matthäus, der gerade von Jesus berufen seine Freunde zur Begegnung mit dem Messias einlädt (vgl. Mt 9,9-13), oder bei Paulus, der dem Auferstandenen begegnet und Apostel der Völker wird. Die Begegnung mit Jesus hat diese gemeinschaftliche Dimension.
Diese Wirklichkeit wird in besonders beeindruckender Weise von der heiligen Theresia vom Kinde Jesus zum Ausdruck gebracht, der ich aus Anlass des 150. Jahrestags ihrer Geburt das Apostolische Schreiben C’est la confiance gewidmet habe. In ihren Schriften betrachtet sie mit einem eindrücklichen biblischen Bild die gesamte Menschheit als »Garten Jesu«, dessen Liebe alle seine Blumen zugleich inklusiv und exklusiv umfängt (Manuskript A, 2rv), und sie bittet, von dem Feuer dieser Liebe bis zur Glut entflammt zu werden, um ihrerseits alle Brüder und Schwestern dorthin zu führen (vgl. Manuskript C, 34r-36v). Das ist die Evangelisierung »durch Anziehung« (Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 14), das Zeugnis, Frucht der höchsten mystischen Erfahrung persönlicher Liebe und zugleich der »Mystik des Wir« (Apostolische Konstitution Veritatis gaudium, 4a). In ihr durchdringen einander die beiden Weisen der Gegenwart des Herrn, sowohl im Inneren des Einzelnen (vgl. Joh 14,23) als auch inmitten derer, die in seinem Namen versammelt sind (vgl. Mt 18,20); in der »Burg der Seele« ebenso wie in der »Burg der Gemeinschaft«, um es mit einem Bild zu sagen, dass Teresa von Avila gerne gebraucht hat (vgl. Die innere Burg). Heiligkeit vereint, und durch die Nächstenliebe der Heiligen können wir das Geheimnis Gottes erkennen, der sich »mit jedem Menschen vereinigt« (Pastoralkonstitution Gaudium et spes, 22) und in seiner Barmherzigkeit die gesamte Menschheit umfängt, damit alle eins sind (vgl. Joh 17,22). Wie sehr braucht es unsere Welt, in dieser Umarmung Einheit und Frieden wiederzufinden!
Kommen wir zum zweiten Punkt: Heiligkeit in der Familie. Sie strahlt auf vorbildhafte Weise in der Heiligen Familie auf (vgl. Gaudete et exsultate, 143). Und die Kirche stellt
uns heute auch viele andere Beispiele vor Augen: »heilige Ehepaare, bei denen jeder einzelne ein Werkzeug Christi zur Heiligung des Ehepartners« ist (ebd., 141). Denken wir
an die heiligen Louis und Zélie Martin, an
die seligen Luigi und Maria Beltrame Quattrocchi, an die Ehrwürdigen Diener Gottes Tancredi und Giulia di Barolo, an die Ehrwürdigen Diener Gottes Sergio und Domenica Bernardini. Die Heiligkeit der Eheleute ist über die besondere Heiligkeit der beiden als Einzelpersonen hinaus auch gemeinsame Heiligkeit in der Ehe: das heißt Vervielfältigung – und nicht bloße Addition – der persönlichen Gabe eines jeden, die sich mitteilt. Und ein leuchtendes Beispiel dafür, ich habe sie am Anfang erwähnt, wurde uns kürzlich durch die Seligsprechung des Ehepaares Jozef und Wiktoria Ulma und ihrer sieben Kinder geschenkt, die alle als Märtyrer gestorben sind. Auch sie erinnern uns daran: »Die Heiligung ist ein gemeinschaftlicher Weg, immer zu zweit« (ebd.). Immer mit der Gemeinschaft handeln.
Und so kommen wir zum dritten Punkt: Heiligkeit der Märtyrer. Das ist ein außerordentliches Vorbild, für das wir im Lauf der Kirchengeschichte zahlreiche Beispiele haben, von der Urgemeinde bis in die heutige Zeit, im Lauf der Jahrhunderte und in unterschiedlichen Teilen der Welt. Es gibt keine Epoche, die nicht ihrer Märtyrer gehabt hätte, bis in unsere Tage. Und wir denken, dass diese Märtyrer etwas sind, das nicht existiert. Aber denken wir an einen Fall, wo das christliche Leben in einem beständigen Martyrium gelebt wurde: den Fall von Asia Bibi, die viele Jahre lang im Gefängnis war und deren Tochter ihr die Eucharistie brachte. Viele Jahre lang, bis zu dem Augenblick, als die Richter gesagt haben, dass sie unschuldig war. Fast neun Jahre eines christlichen Zeugnisses! Es ist eine Frau, die heute lebt, und es gibt viele solche Fälle von Menschen, die Zeugnis geben für den Glauben und die Liebe. Und vergessen wir nicht, dass es auch in unserer Zeit so viele Märtyrer gibt! Oft handelt es sich um »ganze Gemeinschaften […], die das Evangelium auf heroische Weise lebten oder Gott das Leben all ihrer Mitglieder darbrachten« (ebd.). Und das Thema wird noch umfassender, wenn wir den ökumenischen Aspekt ihres Martyriums berücksichtigen und an Gläubige aller christlichen Konfessionen denken (vgl. ebd., 9). Erinnern wir uns zum Beispiel an die Gruppe der 21 koptischen Märtyrer, die vor kurzem in das Römische Martyrologium aufgenommen worden sind. Sie starben an einem Strand, während sie »Jesus, Jesus« sagten.
Liebe Brüder und Schwestern, die Heiligkeit schenkt der Gemeinschaft Leben, und ihr helft uns mit eurer Arbeit, deren Realität und Dynamik immer besser zu verstehen und zu feiern, in den vielen und vielfältigen Wegen, die ihr prüft und unserer Verehrung vorlegt. Sie sind unterschiedlich, aber alle auf dasselbe Ziel ausgerichtet: die Fülle der Liebe. Das ist der Weg der Heiligkeit.
Ich danke euch vielmals dafür und ermutige euch, voll Freude eure schöne Mission fortzusetzen, für das Wohl der Einzelnen und für das Wachstum der Gemeinschaften. Ich segne euch von Herzen und bitte euch, nicht zu vergessen, für mich zu beten. Danke!
(Orig. ital. in O.R. 16.11.2023)