· Vatikanstadt ·

Papst Franziskus im TV-Interview mit dem italienischen Staatsender Rai

Wir dürfen uns nicht an den Krieg gewöhnen

papa Francesco
10. November 2023

Papst Franziskus brachte seine Besorgnis zum Ausdruck über die weltweite Eskalation des Krieges, der in Israel und Palästina ausgebrochen ist. Der italienische Staatssender Rai strahlte das Gespräch zwischen dem Heiligen Vater und dem Leiter der Nachrichtensendung »TG1«, Gian Marco Chiocci, am Abend von Allerheiligen, 1. November, auf Rai1 aus.

Zu den Geschehnissen im Nahen Osten sagte der Papst: »Jeder Krieg ist eine Niederlage. Mit Krieg wird nichts gelöst. Ich wiederhole: nichts. Alles wird durch den Frieden, durch den Dialog gewonnen. […] Krieg ist eine Niederlage. Ich empfinde dies als eine weitere Niederlage. Es ist so, dass zwei Völker miteinander leben müssen. Dies wäre die kluge Lösung: zwei Völker, zwei Staaten. Denken wir an das Oslo-Abkommen: zwei voneinander abgegrenzte Staaten und Jerusalem mit einem Sonderstatus.«

Franziskus erinnerte in diesem Zusammenhang an das Friedensgebet, das in der Woche zuvor im Vatikan stattgefunden hatte, und betonte erneut, dass die Welt eine »sehr dunkle Stunde« erlebe. Man sei nicht in der Lage, klar zu denken, und es sei eine der dunkelsten Stunde. So sei es seit dem letzten Weltkrieg, von 1945 bis heute so, dass eine Niederlage auf die andere folge, denn die Kriege hätten seither nicht aufgehört. Der Papst sagte, er höre jeden Tag per Telefon von den Ordensleuten in Gaza.

Franziskus erinnerte sich zurück an den Beginn seines Pontifikats, als wenig später der Krieg in Syrien ausbrach. Er habe zu einem Gebetsmoment auf dem Petersplatz eingeladen, »wo Christen beteten und auch Muslime, die einen Teppich zum Beten mitbrachten«. Dieser heftige Kriegsausbruch sei »ein sehr schwieriger Moment« gewesen. Leider gewöhne man sich allmählich daran. »Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen«, so der Papst.

Unterschwelliger Antisemitismus

Franziskus sprach in dem TV-Interview auch über einen unterschwelligen Antisemitismus, der derzeit sehr verbreitet sei. Es reiche nicht aus, den Massenmord an den Juden im Zweiten Weltkrieg zu nennen: »Diese sechs Millionen Toten, die versklavt wurden, das Ganze ist noch nicht vorbei. Leider ist es nicht vorbei. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, und ich habe auch keine Erklärung dafür – es ist eine Tatsache, die ich sehe und die mir nicht gefällt.«

Der Interviewer wollte vom Papst zudem wissen, wie er die ukrainischen Reaktion auf die Friedensinitiativen des Heiligen Stuhls einschätze. Franziskus antwortete: »Ich denke an das ukrainische Volk, wir dürfen es heute nicht verurteilen. Das ukrainische Volk ist ein Märtyrervolk, es hatte Verfolgungen zur Zeit Stalins, sehr starke Verfolgungen. Ich habe ein Gedenkbuch darüber gelesen und das Martyrium war schrecklich, denken wir an Sibirien… Es war ein Volk, das so viel gelitten hat, und was sie jetzt wieder durchmachen – ich verstehe sie. Ich habe Präsident Selenskzj empfangen, ich habe Verständnis. Aber wir brauchen Frieden. Ich sage: Aufhören! Halten wir eine Weile inne und suchen wir nach einem Friedensabkommen. Abkommen sind die wirkliche Lösung für dieses Problem. Für uns alle.«

»Ich bin der Sohn von Migranten«, sagte der Papst, »aber in Argentinien sind wir 46 Millionen, glaube ich, und die Ureinwohner dort sind sechs Millionen, nicht mehr. Die anderen sind alle Migranten! Es ist wirklich ein Land der Migrationen: Italiener, Spanier, Ukrainer, Russen, Menschen aus dem Nahen Osten. […] Für mich ist die Erfahrung der Migration etwas wirklich Existenzielles, nicht die Tragödie von heute. Es gab schlimme Migrationen in der Nachkriegszeit, aber heute ist es immer noch eine sehr dramatische Sache, und es gibt fünf Länder, die am meisten unter der Migration leiden: Zypern, Griechenland, Malta, Italien und Spanien. Sie sind diejenigen, die die meisten Menschen aufnehmen. Ich empfehle immer die Lektüre eines Buches, das von einem dieser Migranten geschrieben wurde, der mehr als drei Jahre gewartet hat, um von Ghana nach Spanien zu gelangen: Es heißt ›Kleiner Bruder‹, ›Hermanito‹ auf Spanisch.« In dem Buch scheint die Grausamkeit der Migration auf.

Europa müsse sich mit diesen fünf Ländern, die nicht alle aufnehmen können, solidarisch zeigen, forderte der Papst, und die europäischen Regierungen müssten in einen Dialog treten. Er verwies auf die vielen kleinen Dörfer auf dem Land »mit zehn, fünfzehn älteren Leuten, die Menschen brauchen, um dort zu arbeiten«. Er selbst habe zu einer Migrationspolitik in vier Schritten aufgerufen: sie aufnehmen, sie begleiten, sie fördern und ihnen ermöglichen zu arbeiten. »Sie sollen sich einfügen« , hob Franziskus hervor. Eine solche Migrationspolitik koste Geld. Er habe es gut gefunden, dass EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kürzlich nach Lampedusa reiste, um sich selbst ein Bild von der Lage zu machen. »Ich finde das gut, weil sie versucht, das zu übernehmen.«

»Hier im Vatikan gibt es mehr Frauen in der Arbeit, zum Beispiel ist die Generalsekretärin im Governatorat des Vatikanstaates eine Frau, eine Ordensschwester. Der Präsident des Governatorats hat eine etwas allgemeinere Rolle, aber sie ist diejenige, die die Verantwortung trägt. Im Wirtschaftsrat gibt es sechs Kardinäle und sechs Laien, von diesen sechs Laien sind fünf Frauen.« Dann gebe es im Vatikan bereits Frauen anstelle von Priestern in der Funktion des Sekretärs, also der »Nummer zwei« eines Dikasteriums. Franziskus zählte die betreffenden zwei Einrichtungen auf: das Ordensdikasterium und das Dikasterium für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen. Im Bischofsdikasterium hingegen, das die Ernennung neuer Bischöfe vorbereitet, habe er drei Frauen zu Mitgliedern ernannt, »weil Frauen Dinge verstehen, die wir Männer nicht verstehen«. Frauen hätten ein besonderes Gespür für gewisse Situationen und müssten »in die normale Arbeit der Kirche einbezogen werden«.

Anders verhält es sich – so Franziskus – mit dem Zugang von Frauen zum priesterlichen Dienst, der in einigen Teilen der Weltkirche diskutiert wird. »Das ist ein theologisches Problem, kein Verwaltungsproblem«, erklärte der Papst. »Frauen können alles in der Kirche tun, sogar Gouverneurin sein, da gibt es kein Problem. Aber vom theologischen, ämterbezogenen Standpunkt aus sind es zwei unterschiedliche Dinge: das petrinische Prinzip, das der Jurisdiktion, und das marianische Prinzip, das das wichtigere ist, weil die Kirche eine Frau ist, die Kirche ist eine Braut, die Kirche ist nicht männlich, sie ist eine Frau. Es braucht eine Theologie, um das zu verstehen, und die Macht der weiblichen Kirche und der Frauen in der Kirche ist stärker und wichtiger als die der männlichen Amtsträger. Maria ist wichtiger als Petrus, weil die Kirche eine Frau ist. Aber wenn wir das auf einen Funktionalismus reduzieren wollen, haben wir verloren.«

Synodale Dimension der Kirche

Für Franziskus war das Ergebnis der Synode zur Synodalität positiv. Über alles sei »in völliger Freiheit« gesprochen worden: »Und das ist eine wunderbare Sache, und es ist uns gelungen, einen Synthese-Bericht zu erstellen, der in diesem zweiten Teil für die nächs-te Sitzung im Oktober 2024 studiert werden muss, wie dasjenige über die Familie, auch dies ist eine Synode in zwei Phasen. Ich glaube, wir sind zu eben jener Übung der Synodalität gelangt, die Paul VI. am Ende des Konzils gewünscht hatte, weil er erkannt hatte, dass die Kirche des Westens die synodale Dimension verloren hatte, während die Kirche des Ostens sie hat.«

Auf eine Frage zum Zölibat der Priester erklärte er: »Es handelt sich um ein positives Gesetz, nicht um ein Naturgesetz: In den katholischen Ostkirchen dürfen verheiratete Männer zu Priester geweiht werden, während es in den westlichen Kirchen eine Disziplin gibt, die, glaube ich, im 12. Jahrhundert festgelegt wurde. Aber es ist ein Gesetz, das problemlos abgeschafft werden könnte. Ich glaube nicht, dass es hilft. Denn das Problem ist ein anderes. Es hilft nicht. Es stimmt, dass es eine üble Sache beseitigen würde, die einige Priester haben: Sie sind ›alte Jungfern‹. Ich weiß nicht, ob man das auf Italienisch sagen kann, diese Spiritualität der alten Jungfern. Der Priester muss ein Vater sein, er muss in eine Gemeinschaft eingegliedert sein. Manchmal beunruhigt mich das sehr, wenn der Priester in sich hineinschaut und sich zu einer Überfigur macht. Das gefällt mir nicht, weil er dann den Kontakt verliert.«

Zum Thema gleichgeschlechtliche Paare antwortete Franziskus: »Die Kirche nimmt die Menschen auf, alle, und fragt nicht, wer sie sind. Dann wächst und reift jeder in seiner christlichen Zugehörigkeit. Es stimmt, dass es heute ein wenig in Mode ist, darüber zu reden. Die Kirche nimmt jeden auf. Eine andere Sache ist, wenn es Organisationen gibt, die eintreten wollen. Das Prinzip ist folgendes: Die Kirche nimmt jeden auf, der getauft werden kann. Organisationen können nicht getauft werden. Menschen schon. «

Franziskus erklärte dann im Interview mit dem Direktor von TG1, dass er die Arbeit von Benedikt XVI. fortführe. »Es wurde eine Menge aufgeräumt. Es waren alles Fälle von Missbrauch, und selbst von der Kurie wurden einige weggeschickt. Papst Benedikt XVI. war in dieser Hinsicht mutig. Er hat das Problem in die Hand genommen und viele Schritte getan und es dann zum Abschluss gebracht. Das geht weiter. Missbrauch, sei es Gewissensmissbrauch, sei es sexueller Miss-brauch, sei es sonst irgendetwas, ist nicht hinnehmbar. Er steht im Widerspruch zum Evangelium, das Evangelium ist Dienst, nicht Missbrauch, und wir sehen so viele Bischofskonferenzen, die gute Arbeit bei der Untersuchung des sexuellen Missbrauchs geleistet haben, aber auch andere.« Die Kirche habe viel im Kampf gegen die Pädophilie getan habe, »aber es bleibt noch viel zu tun«.

Was die Kirche nach seinem Pontifikat betrifft, sagte er: »Der Herr weiß es, aber es gibt immer die Melancholie der Vergangenheit. Sie wird auch kommen. Sie ist in den Institutionen und auch in der Kirche präsent. Es sind diejenigen, die zurückgehen wollen, das sind die ›Rückwärtsgehenden‹. Die nicht akzeptieren, dass die Kirche vorwärts geht, dass sie in Bewegung ist. Weil die Kirche immer in Bewegung ist, muss sie wachsen.«

Auf die Frage, wovor er Angst habe, antwortete der Papst: »Es kommen kleine Ängs-te. Dass dies oder jenes passiert.« Richtig Angst mache ihm aber der Krieg im Heiligen Land. »Diese Leute wissen nicht, wie das enden wird. Aber es ist vor dem Herrn geklärt. Nicht, dass die Ängste verschwinden. Aber sie bleiben, sagen wir, auf menschliche Art und Weise. Es ist gut, Ängste zu haben.«

Auf die Frage, ob er von manchen als »linker Papst« bezeichnet werde, antwortete Franziskus: »Ich mag das nicht, wenn man von rechts oder links spricht. Das sind Etiketten, die nicht real sind. Die wirklichen Zuschreibungen sollten sein: Ist er konsequent, ist er nicht konsequent? Sind die Dinge, die er vorschlägt, im Einklang mit den Wurzeln oder sind es seltsame Dinge? Denken Sie an den heiligen Paul VI. Er wurde mit allen mög-lichen Bezeichnungen bedacht, weil er ein Erneuerer war.« Und er habe nichts Linkes, nichts Kommunistisches gehabt, so Franziskus. Es sei nicht einfach zu verstehen, was das bedeutet, gab er zu.

Auf die Frage, ob sein Glaube jemals ins Wanken geraten sei, antwortet der Papst: »Im Sinne eines Verlustes, nein. Aber in dem Sinne, dass man ihn nicht spürt und auf dunklen Pfaden wandelt, schon: Wo ist der Herr? Haben wir das Gefühl, dass der Herr sich versteckt, wo ist er allein? Oder gehen wir rückwärts und weg von ihm? Wo bist du, Herr? Und warum löst du das nicht? Und du hörst den Herrn innerlich sagen, ich habe doch keinen Zauberstab. Der Herr ist kein Magier. Er ist etwas ganz anderes.«

Zu seinem Gesundheitszustand sagt er: »Ich habe ein Knieproblem, das sich langsam bessert. Jetzt kann ich gut gehen. Und dann hatte ich zwei Bauchoperationen: die erste wegen einer Divertikulitis in meinem Dickdarm, sie haben ein Stück herausgenommen. Und dann das, was passiert, wenn sie den Bauch öffnen. Bei der letzten OP wurde das gereinigt, ich habe die Videoaufnahme gesehen, es fehlte nur die Seife, sozusagen. Sie haben die Verwachsungen abgewaschen. Und jetzt geht es mir gut. Ich kann alles essen.«

(Vatican News – Mario Galgano)