Gaudí und die Basilika der Heiligen Familie in Barcelona

Überraschende Aspekte der Baugeschichte

Vista de la façana de la Passió des del terrat del carrer sicilia ?
10. November 2023

Alles begann mit einem zufälligen oder einem von der Vorsehung gefügten Ereignis, je nachdem, wie man es sehen mag: Als Antoni Gaudí 31 Jahre alt war, fragte ihn die »Associación Espiritual de Devotos de San José« – Geistlicher Verein der Verehrer des heiligen Josef und Bauträger –, ob er bereit wäre, an Stelle des Architekten der Diözese die Leitung der Arbeiten einer Votivkirche zu übernehmen. Die Kirche am Stadtrand von Barcelona sollte der Heiligen Familie gewidmet sein und befand sich gerade im Bau. Eine Baustelle ist sie auch heute noch, und doch zieht sie Jahr für Jahr Millionen Besucher an.

Kreative Formen

Der junge Gaudí hatte sich als Autor exzentrischer Architekturprojekte einen Namen gemacht. Er wurde von der wohlhabenden Oberschicht geschätzt und bewundert, aber auch heftig kritisiert, besonders nach 1911, als er seine freiberufliche Tätigkeit aufgab, um sich einzig und allein dem Bau der »Sagrada Família« zu widmen. Und auch heute noch fehlt es manchmal nicht an einer gewissen Polemik hinsichtlich seiner Architektur und auch seiner Lebensentscheidungen.

Mit dem Projekt von Gaudí verdreifachten sich die Höhe und die Größe der zu erbauenden Kirche. Der katalanische Architekt, der immer neue kreative und innovative Formen erfand, hat selbst sehr wenig geschrieben. Aber Menschen, die ihm begegnet sind, die mit ihm zusammenarbeiteten oder seine Freunde waren, spürten das Bedürfnis aufzuschreiben, was er vor allem über den Bau sagte. Oft stammen die Aufzeichnungen von jungen Architekten, die von Gaudís Persönlichkeit fasziniert waren und ihn bei den Besuchen auf der Baustelle begleiteten. Einiges findet sich in den Biographien über ihn oder in kleinen Werken über die Kirche. Da nach seinem Tod während des Spanischen Bürgerkriegs ein Feuer sein Arbeitszimmer zerstört hatte, nahm man an, dass keine anderen Dokumente vorhanden seien.

Dabei hat man allerdings bis vor Kurzem übersehen, dass Gaudí auch ein persönliches Sekretariat hatte, das von der Architektin Chiara Curti entdeckt und in einer Dissertation ausgewertet wurde. Sie erzählt: »Im Rahmen meiner Forschungen habe ich 28 Archive konsultiert. Dabei habe ich keinen Scoop gesucht, eine bisher unbekannte signierte Zeichnung etwa, sondern eher etwas, das mir erlauben würde, besser zu verstehen, wo die Wurzeln der Kreativität Gaudís liegen.« Es ist ihr gelungen, einen Bestand ausfindig zu machen, der aus 11 Schachteln mit Dokumenten besteht, insgesamt 10.109 Seiten, darunter 1.940 Manuskriptseiten und 8.169 Zeitungsausschnitte. Bei den Manuskriptseiten handelt es sich größtenteils um Entwürfe von Vorträgen oder Zeitungsartikeln, Notizen über die Organisation von Besuchen der Baustelle oder Briefe. Die Dokumente sind meist von Joan Martí Matlleu stenographiert, dem persönlichen Sekretär Gaudís. »Matlleu unterrichtete an der Universität und in weiterführenden Schulen und hatte verschiedene Ämter in Vereinigungen und Zeitschriften übernommen. Seine Arbeit für die Sagrada Família war sicherlich nur ein Teilzeit-Job, aber er bezeichnete sie als seine Berufung.« Um in die häufig undatierten Dokumente eine gewisse Ordnung zu bringen, so Curti, habe man einen Vergleichstext gebraucht, um die Ereignisse zeitlich einzuordnen. »Ich entschied mich für die Memoiren der Person, die als seine ›rechte Hand‹ am längsten mit Gaudí gearbeitet hat: Llorenç Matamala, ein Bildhauer, der ihn schon als Architekturstudent kannte und sein ganzes Leben lang mit ihm zusammengearbeitet hat.« Joan Martí Matlleu habe den Terminkalender von Gaudí organisiert und Matmala habe sein Leben lang eine Art tägliches Tagebuch geführt. »Matlleu stenographierte, was Gaudí ihm sagte oder während der Besuche der Baustelle erläuterte. Diese Notizen sind noch nie ausgewertet worden, weil es die Forscher, die meist Architekten sind, nicht interessiert hat«, so Curti. »In der Tat bringen diese Texte im Hinblick auf die Kenntnis des technischen Aspekts der Bauwerke nichts oder wenig Neues. Aber sie zeichnen ein ganz neues Bild von der Persönlichkeit des Architekten. Gaudí ist ein Mensch, der in seinem Tagesablauf die Personen, die Beziehungen an erste Stelle setzt.«

Herzliche Beziehungen

Die im vergangenen Jahr abgeschlossene Dissertation von Chiara Curti behandelt dementsprechend die »zwischenmenschlichen Aspekte als Grundlage für den Bau der Votiv-kirche«. Der neue Aspekt ist »das Leben«, das die Entstehung des Bauwerks begleitete, das heißt nicht nur das »Was« der Arbeit, sondern auch das »Wie«. Und genau dies beschreiben Augenzeugen in Artikeln oder Interviews: Besucher und illustre Gäste vergessen gleichsam, das Bauwerk zu beschreiben, um stattdessen von der Freundschaft zwischen Gaudí und seinen Arbeitern und der Arbeiter untereinander zu erzählen. In den Dokumenten des Bestandes »Martí Matlleu« ist akribisch genau festgehalten, wer die Baustelle besuchte, »normale« Besuchergruppen, berühmte Persönlichkeiten und sehr viele Kinder. Das heißt, dass nicht nur die Arbeiter anwesend sind, sondern viele Gäste, aufgelistet mit Vor- und Nachnamen. Das ergibt ein ganz neues Bild. Der Bildhauer Matamala schreibt: »Gaudí hat die Kirche errichtet, während er in der Wärme der Freundschaft lebte.«

In ihrer Dissertation beschreibt Curti diese Begegnungen und auch die Art und Weise, wie Gaudí für seine Mitarbeiter Sorge trug. Er bemühte sich, für die älteren Arbeiter Tätigkeiten zu finden, die ihrer körperlichen Konstitution entsprachen. Und er zahlte ihnen auch später ein Gehalt, und das zu einer Zeit, wo es weder eine gesetzliche Rentenversicherung noch sonstige Vorsorge gab. In Bezug auf die politischen Überzeugungen gestand Gaudí jedem seinen guten Glauben zu und zahlte den Tageslohn auch im Fall von Streik aus. Ebenso zahlte er bei Regen den vollen Tageslohn, während zu jener Zeit vertraglich festgelegt war, dass nur die Hälfte ausgezahlt zu werden brauchte. Ihm langen auch die Bettler des Stadtviertels am Herzen und er half ganz praktisch, wobei er den Bedürftigsten Vorrang einräumte, die in speziellen »Schichten« abwechselnd innerhalb der Umzäunung um Almosen bitten durften. Durch diese »normale« Anwesenheit der Schwächsten wurde die Baustelle zu einem konkreten Ort der Nächstenliebe. Und so konnte jeder Mitarbeiter, die Realität des Leids in seiner unmittelbaren Nachbarschaft erkennen. Diese Vorgehensweise beim Bau der Sagrada Família zeigt, dass nicht nur Architektur und Bilder Ausdruck des Glaubens, der Nächstenliebe und des Lebens sind, sondern dass Glauben und Nächstenliebe bereits konkreter Bestandteil der Entstehungsgeschichte dieses einzigartigen Bauwerks waren.

(Orig. ital. in O.R. 17.10.2023)

Von Silvia Guidi