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Kardinal Parolin betont Israels Selbstverteidigungsrecht gegen einen unmenschlichen Anschlag, aber ohne die Zivilbevölkerung in Gaza zu gefährden

 Kardinal Parolin betont Israels Selbstverteidigungsrecht gegen einen unmenschlichen Anschlag,  aber ...
20. Oktober 2023

Vatikanstadt. »Der Heilige Stuhl ist, wie immer, zu jeder notwendigen Vermittlung bereit.« Das sagte Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin eine knappe Woche nach dem Terroranschlag auf Israel in einem Interview mit Andrea Tornielli und Roberto Cetera von den vatikanischen Medien. Kardinalstaatssekretär Parolin bezeichnete den am 7. Oktober verübten Anschlag der Hamas als »unmenschlich« und erinnerte an den Appell von Papst Franziskus, alle Geiseln freizulassen. Zugleich rief er zur Verhältnismäßigkeit bei der legitimen Verteidigung Israels auf und zeigte sich besorgt über die zivilen Opfer der Bombardierung des Gazastreifens.

Eminenz, alle Konflikte sind schrecklich. Aber was wir da seit dem Morgengrauen des vergangenen Samstags erfahren, ist ein Cre-scendo von noch nie dagewesener Grausamkeit. Wir sind Zeugen einer totalen Verirrung des Menschlichen. Gibt es Ihrer Meinung nach noch Möglichkeiten, das Schlimmste zu verhindern?

Kardinal Parolin: Der Terroranschlag, den die Hamas und andere Milizen am vergangenen Samstag gegen Tausende von Israelis verübt haben, die den Feiertag Simchat-Tora am Ende der Woche des Sukkot-Festes feiern wollten, ist unmenschlich. Der Heilige Stuhl verurteilt dies auf das Schärfste! Darüber hinaus sind wir besorgt angesichts der Männer, Frauen, Kinder und älteren Menschen, die in Gaza als Geiseln gehalten werden. Wir bringen unsere Verbundenheit mit den betroffenen Familien zum Ausdruck, von denen die überwiegende Mehrheit Juden sind, und beten für sie, für diejenigen, die noch unter Schock stehen, und für die Verletzten.

Es ist notwendig, zur Vernunft zurückzufinden, die blinde Logik des Hasses aufzugeben und Gewalt als Lösung abzulehnen. Die Angegriffenen haben das Recht, sich zu verteidigen, aber die Selbstverteidigung muss auch die Parameter der Verhältnismäßigkeit beachten. Ich weiß nicht, inwieweit ein Dialog zwischen Israel und der Hamas-Miliz möglich ist, aber wenn es diese Möglichkeit gibt, und das wollen wir hoffen, dann sollte er sofort und ohne Verzögerung aufgenommen werden. Dadurch soll weiteres Blutvergießen im Gazastreifen vermieden werden, wo die Angriffe der israelischen Armee viele unschuldige zivile Opfer fordern.

Papst Franziskus bekräftigt, dass der Frieden auf Gerechtigkeit beruht. Es gebe keinen Frieden, der nicht gerecht sei. Wie drückt sich diese Forderung nach Gerechtigkeit für beide Seiten des Konflikts heute aus?

Kardinal Parolin: Frieden kann nur auf Gerechtigkeit beruhen. Die Lateiner pflegten zu sagen: »Opus iustitiae pax«, es kann keinen Frieden unter den Menschen ohne Gerechtigkeit geben. Mir scheint, dass die größtmögliche Gerechtigkeit im Heiligen Land die Zweistaatenlösung wäre, die es Palästinensern und Israelis ermöglichen würde, Seite an Seite in Frieden und Sicherheit zu leben, was den Wünschen der meisten von ihnen entspricht. Diese Lösung, die von der internationalen Gemeinschaft angestrebt wird, scheint in letzter Zeit für einige auf beiden Seiten nicht mehr machbar zu sein. Für andere war sie es nie. Der Heilige Stuhl ist vom Gegenteil überzeugt und unterstützt sie weiterhin.

Doch was bedeutet Gerechtigkeit unter den jetzigen Umständen? Es bedeutet, dass die Geiseln sofort freigelassen werden müssen, auch diejenigen, die seit den früheren Konflikten von der Hamas festgehalten werden: In diesem Sinne erneuere ich nachdrücklich den Appell, den Papst Franziskus in den letzten Tagen mehrfach lanciert hat. Es bedeutet außerdem, dass Israel im Rahmen seiner legitimen Verteidigung die im Gazastreifen lebenden palästinensischen Zivilisten nicht in Gefahr bringen darf. Es bedeutet auch – und das ist unverzichtbar –, dass in diesem Konflikt wie in jedem anderen auch das humanitäre Völkerrecht voll und ganz respektiert werden muss.

Papst Franziskus hat am Ende seiner Generalaudienz am vergangenen Mittwoch,
11. Oktober, die Freilassung der Geiseln gefordert und dazu aufgerufen, das Leben der Unschuldigen zu verschonen. Sehen Sie Raum für eine diplomatische Initiative des Heiligen Stuhls, ähnlich wie sie im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine unternommen wurde?

Kardinal Parolin: Ja, die Befreiung der israelischen Geiseln und der Schutz des Lebens unschuldiger Menschen in Gaza stehen im Mittelpunkt des Problems, das durch den Angriff der Hamas und die Reaktion der israelischen Armee entstanden ist. Sie stehen im Mittelpunkt der Sorgen von uns allen, des Papstes und der gesamten internationalen Gemeinschaft. Der Heilige Stuhl ist, wie immer, zu jeder notwendigen Vermittlung bereit. In der Zwischenzeit sucht er das Gespräch mit den Gesprächspartnern, die dazu bereits bereit sind. Jede Vermittlung zur Beendigung des Konflikts muss jedoch eine Reihe von Elementen berücksichtigen, die das Thema sehr komplex und vielschichtig machen, wie die Frage der israelischen Siedlungen, die Sicherheit und die Frage der Stadt Jerusalem. Eine Lösung kann im direkten Dialog zwischen Palästinensern und Israelis gefunden werden, der von der internationalen Gemeinschaft gefördert und unterstützt wird, auch wenn dies nun schwieriger sein wird.

In zwei Interviews, die der palästinensische Präsident Mahmud Abbas und der israelische Präsident Isaac Herzog kürzlich dem »Osservatore Romano« gegeben haben, äußerten beide ihre Wertschätzung für die häufigen Worte des Friedens, die von der christlichen Minderheit im Heiligen Land kommen. Die Christen geraten jedoch durch den Konflikt sehr in Bedrängnis. Besorgniserregend ist die Lage der kleinen christlichen Gemeinschaft in Gaza, die vom Aussterben bedroht ist. Wie kann den Christen im Heiligen Land nun konkret geholfen werden?

Kardinal Parolin: Vor allem mit dem Gebet sowie mit geistiger und materieller Nähe. Diese meine Worte sollen ein erneutes Zeugnis für die liebevolle Verbundenheit des Papstes und des Heiligen Stuhls sein. Die Christen sind ein wesentlicher Teil des Landes, in dem Jesus geboren wurde, in dem er lebte, starb und auferstand. Niemand kann sich Palästina oder Israel ohne die christliche Präsenz vorstellen, die es von Anfang an gegeben hat und die es immer geben wird. Es ist wahr, dass die kleine katholische Gemeinschaft in Gaza – etwa 150 Familien – jetzt so sehr leidet. Und wenn ein Mitglied leidet, leidet die ganze Kirche, also leiden wir alle. Wir wissen, dass sie sich in der Pfarrei versammelt haben. Der Pfarrer konnte nicht zurückkehren und bleibt in Betlehem. Alles ist still, wie gelähmt, wie im Griff von Angst und Wut. Wir beten für die Israelis, wir beten für die Palästinenser, wir beten für Christen, Juden und Muslime: »Erbittet Frieden für Jerusalem… Wegen meiner Brüder und meiner Freunde will ich sagen: In dir sei Friede. Wegen des Hauses des Herrn, unseres Gottes, will ich dir Glück erflehen« (Psalm 122).