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Unter extremen Bedingungen von Afrika nach Brasilien

Hilfe, wir sind blinde Passagiere!

 Hilfe, wir sind blinde Passagiere!  TED-041
13. Oktober 2023

Auf der Flucht aus Nigeria und der Elfenbeinküste riskierten zwei Männer ihr Leben. Sie gelangten nach São Paulo, wo die »Missão Paz« der Scalabrini-Missionare ihnen nun hilft, sich eine neue Zukunft aufzubauen.

Während Roman sein Fleisch mit Reis, Kartoffeln und Bohnen zu Ende isst, wäscht John das Geschirr der mehr als 80 Personen ab, die in der Casa do Migrante im Zentrum von São Paulo, der größten Stadt Brasiliens, zu Mittag gegessen haben. Mehrere Monate dauerte die Flucht aus Afrika, versteckt auf Handelsschiffen, deren Ziel sie nicht kannten. Sie waren beide entschlossen, die von extremer Gewalt und Armut geprägten sozialen Verhältnisse zu verlassen, in denen wegen des Mangels an Arbeit der Traum von einer vielversprechenden Zukunft unmöglich schien. Alles sei besser, als dort zu bleiben, sagen sie.

Für den 35-jährigen Roman Ebimene war es bereits der zweite Fluchtversuch aus Nigeria. »Der Grund, warum ich mein Land verlassen wollte, sind die harten Lebensbedingungen: Es gibt kein Essen, kein Geld und keine Gesundheitsversorgung«, erklärt er. »Ich musste Afrika verlassen, weil wir jeden Tag sehen, dass sie uns töten und entführen.«

In der Nacht zum 13. Juni wurde er von einem Fischer mit dem Ruderboot zu einem Schiff gebracht. Im Dunkeln kletterte er über herabhängende Netze an Bord. Roman war der erste von vier Nigerianern, die heimlich auf das Schiff kamen. Sie blieben in einem engen offenen Raum in der Nähe des Steuerruders. Von dort aus konnten sie zwar das Wasser sehen, aber nicht den Horizont.

Zwei Wochen später ging John Ekow auf ähnliche Weise an Bord eines anderen Frachtschiffs. In der Elfenbeinküste ließ er seine Frau und zwei Kinder zurück. »Ich hatte keine Arbeit und sah, dass ich dort nichts ausrichten konnte. Ein Freund sagte mir, dass ich mich auf ein Abenteuer einlassen müsse, um mir eine Zukunft aufzubauen«, erzählt der 24-jährige Ghanaer. Gemeinsam mit diesem Freund versteckten sie sich neben der Schiffsschraube, wo ohrenbetäubender Lärm herrschte, so dass sie sich nur durch Schreien verständigen konnten. Am 28. Juni stachen sie vom Hafen von Abidjan aus in See.

Roman hatte reichlich Wasser und etwas zu essen dabei, aber das reichte nicht lange. »Das Schiff fuhr weiter. Der erste Tag verging, dann der zweite, dann der dritte, und es wollte nicht aufhören! Mehrmals haben wir uns gefragt, wohin das Schiff fährt. Ich hatte noch nie eine so lange Reise erlebt«, sagt Roman. Zu dem quälenden Durst kam die Ungewissheit, wie lange sie überleben würden. Manchmal dachten sie daran, an Deck zu gehen und die Besatzung um Hilfe zu bitten, aber die Angst, zur Strafe über Bord geworfen zu werden, hielt sie davon ab.

Bei John und seinem Begleiter wurden Wasser und Nahrung noch schneller knapp. Am fünften Tag hielten sie es nicht mehr aus und baten die Besatzung um Hilfe. Der Kapitän des Schiffes kam zu ihnen. Der Ghanaer sagt, dass sie gut behandelt wurden. Erst dann erfuhren sie, dass sie auf dem Weg nach Brasilien waren. Man erklärte ihnen, dass sie entweder auf dem Schiff bleiben und in die Elfenbeinküste zurückkehren könnten oder sich der brasilianischen Migrationsbehörde zu stellen hätten. »Ich beschloss, dass ich nicht nach Afrika zurückkehren konnte, wo ich doch mittlerweile so weit gekommen war«, sagt John, um zu erklären, warum er die 2.000 Dollar ablehnte, die ihm für die Rückkehr nach Abidjan angeboten wurden.

Am vierzehnten Tag ihrer heimlichen Überfahrt und mehr als 5.500 Kilometer von ihrem Ausgangspunkt entfernt, konnten die vier Nigerianer nicht mehr. Sie hatten nur ein wenig Meerwasser zu trinken und die Kälte war unerträglich. Sie hatten kaum noch Kraft und schon gar keine Hoffnung. Dann, am 27. Juni um fünf Uhr morgens, hörten sie die in der Morgendämmerung Motoren der Küstenpatrouillen. Roman beschloss daraufhin, sein Leben aufs Spiel zu setzen: Er balancierte auf dem Ruder und setzte sich dann darauf: »Ich begann zu schreien: Bitte, Hilfe, Hilfe, wir sind blinde Passagiere!«, erzählt er von dem Moment, als die Rettung begann.

Die Bilder dieser Männer, die unter extremen Bedingungen ausgeharrt hatten, gingen um die Welt und verdeutlichen die Verzweiflungstaten Tausender Migranten. Sie befanden sich im Hafen von Vitória, im Südosten Brasiliens, wo sie als Flüchtlinge aufgenommen wurden. Zwei von ihnen beschlossen, nach Nigeria zurückzukehren, weil sie ihr gewünschtes Ziel nicht erreicht hatten.

Roman und einer seiner Begleiter kamen in São Paulo an, wo sie von der Missão Paz (Friedensmission) aufgenommen wurden. Diese Organisation wird von den Scalabrinern geleitet, die seit über 80 Jahren Migranten unterstützen. Auch John kam am 18. August hier an. Sein Freund setzte die Reise nach Französisch-
Guayana fort, während er sich entschloss, nach São Paulo zu gehen.

Diese beiden afrikanischen Migranten haben jetzt etwas, wofür sie leben können. Ihre nächs-te Herausforderung besteht darin, die Sprache zu lernen, damit sie arbeiten können. John ist Automechaniker. Roman ist Schweißer und in der Missão Paz haben sie bereits mehrere Arbeitsmöglichkeiten für ihn gefunden.

Für beide beginnt damit eine neue Phase in ihrer Migrationsgeschichte: die der Eingliederung in eine neue Gesellschaft. Experten zufolge kann diese Phase sogar noch mehr Leid hervorrufen als die Traumata, die sie auf dem Schiff erlebt haben, denn in der Regel sind der kulturelle Konflikt, der gesellschaftliche Widerstand und die Gleichgültigkeit Quellen tiefer Frustration.

Die Mitarbeiter von Missão Paz sind mit diesen Leiden vertraut. Um sie erträglicher zu machen, bieten sie neben Unterkunft, Verpflegung, Portugiesischkursen und Rechtsbeistand auch psychologische Unterstützung für diejenigen an, die sich nach einer langen und beschwerlichen Reise für die Möglichkeit eines besseren Lebens in einem Land fern der Heimat öffnen.

Diese Reportage wurde in Zusammenarbeit mit dem Global Solidarity Fund erstellt.

#voicesofmigrants

Von Felipe Herrera-Espaliat