Herr Staatspräsident,
liebe Mitbrüder im Bischofsamt,
verehrte Bürgermeister und
Repräsentanten von Städten und
Gebieten am Mittelmeer,
liebe Freundinnen und Freunde!
Ich grüße Sie herzlich und bin Ihnen allen dankbar, dass Sie die Einladung von Kardinal Aveline zur Teilnahme an diesen Treffen angenommen haben. Ich danke Ihnen für Ihre Arbeit und für die wertvollen Überlegungen, die Sie miteinander geteilt haben. Nach Bari und Florenz geht der Prozess im Dienste der Mittelmeervölker weiter: Auch hier sind kirchliche und zivile Führungspersönlichkeiten zusammengekommen, nicht um gegenseitige Interessen zu verhandeln, sondern angetrieben von dem Wunsch, sich um die Menschen zu kümmern; danke, dass Sie dies gemeinsam mit jungen Menschen tun, der Gegenwart und Zukunft der Kirche und der Gesellschaft.
Die Stadt Marseille ist sehr alt. Sie wurde von griechischen Seefahrern aus Kleinasien gegründet und geht dem Mythos nach auf eine Liebesgeschichte zwischen einem ausgewanderten Seemann und einer einheimischen Prinzessin zurück. Seit ihren Anfängen hat sie einen vielfältigen und kosmopolitischen Charakter: sie nimmt die Reichtümer des Meeres in sich auf und gibt denjenigen eine Heimat, die keine mehr haben. Mar-seille zeigt uns, dass trotz aller Schwierigkeiten ein Zusammenleben möglich ist und dass es eine Quelle der Freude ist. Auf der Landkarte scheint die Stadt Marseille, zwischen Nizza und Montpellier, fast ein Lächeln darzustellen; und so möchte ich sie auch sehen: Marseille ist »das Lächeln des Mittelmeers«. So möchte ich Ihnen ein paar Gedanken zu drei Gegebenheiten darlegen, die Marseille charakterisieren: das Meer, der Hafen und der Leuchtturm. Es sind drei Symbole.
1. Das Meer. Eine Vielzahl von Völkern hat diese Stadt zu einem Mosaik der Hoffnung gemacht, mit ihrer großen multiethnischen und multikulturellen Tradition, die durch die mehr als 60 Konsulate auf dem Stadtgebiet repräsentiert wird. Marseille ist sowohl eine plurale als auch eine singuläre Stadt, denn es ist gerade diese Pluralität, die sich aus der Begegnung mit der Welt ergibt, die ihre Geschichte so einzigartig macht. Wir hören heute oft, dass die Geschichte des Mittelmeerraums ein Geflecht aus Konflikten zwischen verschiedenen Zivilisationen, Religionen und Weltanschauungen sei. Wir verkennen die Probleme nicht – es gibt sie –, aber lassen wir uns nicht täuschen: Der Austausch zwischen den Völkern hat den Mittelmeerraum zu einer Wiege der Zivilisation gemacht, zu einem Meer voller Schätze, so dass er, wie ein großer französischer Historiker schrieb, »nicht eine Landschaft, sondern zahllose Landschaften ist. Es ist nicht ein Meer, sondern eine Reihe von Meeren«; »seit Jahrtausenden fließt darin alles zusammen, was seine Geschichte kompliziert und reich macht« (F. Braudel, La Méditerranée, Paris 1985, 8). Das mare nostrum ist ein Ort der Begegnung: zwischen den abrahamitischen Religionen, dem griechischen, lateinischen und arabischen Denken, der Wissenschaft, der Philosophie, dem Recht und vielem anderen. Es hat der Welt den hohen Wert des mit Freiheit ausgestatteten, für die Wahrheit offenen und erlösungsbedürftigen Menschen vermittelt, der die Welt als ein zu entdeckendes Wunder und einen zu bewohnenden Garten sieht, im Zeichen eines Gottes, der mit den Menschen Bünde schließt.
Ein bedeutender Bürgermeister sah im Mittelmeerraum nicht eine Konfliktfrage, sondern eine Antwort des Friedens, ja »den Anfang und das Fundament des Friedens unter allen Völkern der Welt« (G. La Pira, Parole a conclusione del primo Colloquio Mediterraneo, 6. Oktober 1958). So sagte er: »Die Antwort […] ist möglich, wenn man die gemeinsame historische und sozusagen dauerhafte Berufung bedenkt, die die Vorsehung den Völkern und Nationen, welche an den Ufern dieses geheimnisvollen, erweiterten Sees von Tiberias leben, der das Mittelmeer ist, in der Vergangenheit zugewiesen hat, in der Gegenwart zuweist und in gewissem Sinne auch in der Zukunft zuweisen wird«
(Discorso di apertura del I Colloquio Mediterraneo, 3. Oktober 1958). See von Tiberias oder Galiläisches Meer: ein Ort also, an dem sich zur Zeit Jesu eine große Vielfalt an Völkern, Kulten und Traditionen konzentrierte. Genau dort, im »heidnischen Galiläa« (vgl. Mt 4,15), das von der Straße am Meer durchquert wird, spielte sich der Großteil des öffentlichen Lebens Jesu ab. Ein vielgestaltiger und in vielerlei Hinsicht instabiler Kontext war der Ort der universalen Verkündigung der Seligpreisungen im Namen eines Gottes, der Vater aller ist, der »seine Sonne aufgehen lässt über Bösen und Guten und es regnen lässt über Gerechte und Ungerechte« (vgl. Mt 5,45). Er stellte auch eine Einladung dar, die Grenzen des Herzens zu weiten und ethnische und kulturelle Barrieren zu überwinden. Das also ist die Antwort, die vom Mittelmeer ausgeht: Dieses immerwährende Galiläische Meer lädt dazu ein, der Spaltung durch Konflikte die »Geselligkeit der Unterschiede« entgegenzusetzen
(T. Bello, Benedette inquietudini, Milano 2001, 73). Im mare nostrum, an der Schnittstelle zwischen Nord und Süd, Ost und West, bündeln sich die Herausforderungen der ganzen Welt, wie seine »fünf Ufer« bezeugen, über die Sie nachgedacht haben: Nordafrika, der Nahe Osten, die Schwarzmeer-Ägäis, der Balkan und Lateineuropa. Es ist ein Vorposten jener Herausforderungen, die alle betreffen: Man denke nur an die Klimaproblematik, bei der das Mittelmeer ein Hotspot ist, an dem die Veränderungen am schnellsten spürbar werden; wie wichtig ist der Erhalt der mediterranen Macchia, dieser einzigartigen Schatztruhe der Artenvielfalt! Kurz gesagt, dieses Meer, welches einen einzigartigen Zugang zur Komplexität bietet, ist ein »Spiegel der Welt« und trägt in sich eine globale Berufung zur Geschwisterlichkeit, einer einzigartigen Berufung, die der einzige Weg ist, um Konflikten vorzubeugen und sie zu überwinden.
Brüder und Schwestern, im heutigen Meer der Konflikte sind wir hier, um den Beitrag des Mittelmeerraums zur Geltung zu bringen, damit er wieder zu einer Werkstatt des Friedens werden kann. Denn das ist seine Berufung: ein Ort zu sein, an dem sich verschiedene Länder und Wirklichkeiten auf der Grundlage unseres gemeinsamen Mensch-seins und nicht aufgrund widerstreitender Ideologien begegnen. Ja, der Mittelmeerraum ist Ausdruck eines nicht uniformen und ideologischen, sondern eines vielgestaltigen und realitätsgerechten Denkens; eines lebendigen, offenen und versöhnlichen Denkens: eines Gemeinschaftsdenkens, das ist das Wort. Wie sehr brauchen wir dies in der gegenwärtigen Situation, in der antiquierte und kriegstreibende Nationalismen den Traum von der Gemeinschaft der Nationen zunichtemachen wollen! Aber – lasst uns das nicht vergessen – mit Waffen macht man Krieg, nicht Frieden, und mit Machtgier kehrt man immer in die Vergangenheit zurück, statt die Zukunft zu gestalten.
Wo soll man also anfangen, wenn man Frieden stiften will? Am Ufer des Galiläischen Meeres begann Jesus damit, dass er den Armen Hoffnung gab und sie seligpries: Er hörte sich ihre Nöte an, heilte ihre Wunden und verkündete ihnen als erstes die gute Nachricht vom Reich Gottes. Dort müssen wir wieder ansetzen, bei dem oft stummen Schrei der Letzten, nicht bei den Klassenbes-ten, die ihre Stimme erheben, obwohl es ihnen gut geht. Lasst uns, als Kirche und Zivilgesellschaft, wieder damit anfangen, den Armen zuzuhören, die »man nicht zählen soll, sondern umarmen« (P. Mazzolari, La parola ai poveri, Bologna 2016, 39), weil sie nicht Nummern, sondern Gesichter sind. Der Wandel unsere Gemeinschaften vollzieht sich, wenn wir sie als Brüder und Schwestern behandeln, deren Geschichten man kennt, und nicht als lästige Probleme, die man verjagt, die man nach Hause schickt; er besteht darin, sie anzunehmen, statt sie zu verstecken; sie zu integrieren, statt sie beiseite zu schieben; ihnen Würde zu verleihen. Und Marseille, das möchte ich wiederholen, ist die Hauptstadt der Integration der Völker. Das ist euer Stolz! Heute ist das Meer des menschlichen Zusammenlebens durch das Prekariat verschmutzt, worunter auch das wunderschöne Marseille leidet. Und wo es Prekarität gibt, gibt es auch Kriminalität: Wo es materielle, bildungsbezogene, arbeitsbezogene, kulturelle und religiöse Armut gibt, ist das Terrain für Mafiabanden und illegalen Handel geebnet. Das Engagement der Institutionen allein reicht nicht aus, wir brauchen eine Aufrüttelung des Gewissens, um »Nein« zur Illegalität und »Ja« zur Solidarität zu sagen, die nicht ein Tropfen im Ozean ist, sondern ein unverzichtbares Element, um seine Wasser zu reinigen.
Das eigentliche soziale Übel ist tatsächlich nicht so sehr die Zunahme der Probleme, sondern der Rückgang der Fürsorge. Wer macht sich heute zum Nächsten der jungen Menschen, die sich selbst überlassen sind und leicht Opfer von Kriminalität und Prostitution werden? Wer nimmt sich ihrer an? Wer ist den Menschen nahe, die von der Arbeit versklavt werden, die sie eigentlich freier machen sollte? Wer kümmert sich um die verunsicherten Familien, die Angst vor der Zukunft haben und davor, neues Leben in die Welt zu setzen? Wer hört sich die Klagen der einsamen alten Menschen an, die, anstatt Wertschätzung zu erfahren, aufs Abstellgleis geschoben werden, mit der trügerischen Aussicht auf einen süßen Tod, der in Wirklichkeit salziger ist als das Wasser des Meeres? Wer denkt an die ungeborenen Kinder, die im Namen eines falschen Rechts auf Fortschritt abgelehnt werden, welches jedoch einen Rückschritt in Bezug auf die Bedürfnisse des Einzelnen darstellt? Heute stehen wir vor dem Drama, dass die Kinder mit den Hünd-chen verwechselt werden. Mein Sekretär sagte mir dass er, als über den Petersplatz ging, eine Frau mit einem Kinderwagen gesehen hatte… Aber es waren keine Kinder, es waren kleine Hunde! Diese Verwechslung sagt uns etwas Schlechtes. Wer blickt mit Mitgefühl über die eigenen Ufer hinaus und hört die Schmerzensschreie aus Nordafrika und dem Nahen Osten? Wie viele Menschen leben inmitten von Gewalt und leiden unter Ungerechtigkeit und Verfolgung! Und ich denke an die vielen Christen, die oft gezwungen sind, ihr Land zu verlassen oder dort zu leben, ohne dass ihre Rechte anerkannt werden und ohne die vollen Bürgerrechte zu besitzen. Bitte, setzen wir uns dafür ein, dass diejenigen, die Teil der Gesellschaft sind, ihre vollen Bürgerrechte erhalten. Und dann gibt es noch einen Schmerzensschrei, der am lautesten erschallt und der das mare nostrum in ein mare mortuum verwandelt und das Mittelmeer, die Wiege der Zivilisation, zum Grab der Menschenwürde macht. Es ist der erstickte Schrei unserer Brüder und Schwes-tern Migranten, dem ich meine Aufmerksamkeit widmen möchte, wenn ich über das zweite Bild nachdenke, das Marseille uns bietet: das seines Hafens.
2. Der Hafen von Marseille ist seit Jahrhunderten ein weit geöffnetes Tor zum Meer, zu Frankreich und zu Europa. Viele sind von hier aus aufgebrochen, um im Ausland Arbeit und eine Zukunft zu finden, und viele haben hier das Tor des Kontinents mit einem Gepäck voller Hoffnung durchschritten. Marseille hat einen großen Hafen und ist ein großes Tor, das nicht geschlossen werden kann. Verschiedene Mittelmeerhäfen hingegen haben geschlossen. Und zwei Worte waren immer wieder zu hören und schürten die Ängste der Menschen: »Invasion« und »Notsituation«. Und man schließt die Häfen. Aber diejenigen, die ihr Leben auf dem Meer riskieren, sind keine Invasoren, sie suchen Aufnahme, sie suchen Leben. Was die Notsituation angeht, so ist das Migrationsphänomen nicht so sehr eine momentane Notlage, die immer gerne für panikmachende Propaganda herhalten muss, sondern eine Gegebenheit unserer Zeit, ein Prozess, der drei Kontinente rund um das Mittelmeer betrifft und der mit kluger Weitsicht gestaltet werden muss: mit einer europäischen Verantwortung, die in der Lage ist, die objektiven Schwierigkeiten anzugehen. Ich schaue gerade hier auf dieser Karte auf die für die Flüchtlinge bevorzugten Häfen: Zypern, Griechenland, Malta, Italien und Spanien… Sie liegen am Mittelmeer und nehmen die Flüchtlinge auf. Das mare nostrum schreit nach Gerechtigkeit, denn an seinen Ufern herrschen auf der einen Seite Überfluss, Konsum und Verschwendung, auf der anderen Seite hingegen Armut und Prekarität. Auch hier spiegelt der Mittelmeerraum die Welt wider: Der Süden wendet sich dem Norden zu, so viele Entwicklungsländer, die von Instabilität, Regimen, Kriegen und Verödung geplagt sind, blicken auf die wohlhabenden Länder in einer globalisierten Welt, in der wir alle miteinander verbunden sind, aber die Kluft noch nie so tief war wie heute. Und doch ist diese Situation nicht erst in den letzten Jahren entstanden, und dieser Papst, der vom anderen Ende der Welt kommt, ist nicht der erste, der sie als dringlich und besorgniserregend empfindet. Die Kirche spricht schon seit mehr als fünfzig Jahren eindringlich davon.
Kurz nach dem Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils schrieb Paul VI. in seiner Enzyklika Populorum progressio: »Die Völker, die Hunger leiden, bitten die Völker, die im Wohlstand leben, dringend und inständig um Hilfe. Die Kirche erzittert vor diesem Schrei der Angst und wendet sich an jeden einzelnen, dem Hilferuf seines Bruders in Liebe zu antworten« (Nr. 3). Papst Montini zählte »drei Pflichten« der stärker entwickelten Nationen auf, die »in der natürlichen und übernatürlichen Brüderlichkeit der Menschen« wurzeln: er spricht von der »Pflicht zur Solidarität, der Hilfe, die die reichen Völker den Entwicklungsländern leisten müssen; sodann […] der Pflicht zur sozialen Gerechtigkeit, das, was an den Wirtschaftsbeziehungen zwischen den mächtigen und schwachen Völkern ungesund ist, abzustellen; endlich […] der Pflicht zur Liebe zu allen, zur Schaffung einer menschlicheren Welt für alle, wo alle geben und empfangen können, ohne dass der Fortschritt der einen ein Hindernis für die Entwicklung der anderen ist«
(Nr. 44). Im Lichte des Evangeliums und dieser Erwägungen betonte Paul VI. 1967 die »Pflicht zur Gastfreundschaft«, über die er schrieb: »Wir können nicht genug drauf hinweisen« (vgl. Nr. 67). Dazu hatte Pius XII. bereits fünfzehn Jahre zuvor ermutigt, als er schrieb, dass »die Familie von Nazaret im Exil, Jesus, Maria und Josef, die nach Ägypten auswanderten […] das Vorbild, das Beispiel und der Halt aller Auswanderer und Pilger jeden Alters und aus jedem Land sind, aller Flüchtlinge jeglicher Art, die sich aufgrund Verfolgung oder Not gezwungen sehen, ihre Heimat, ihre lieben Verwandten
zu verlassen […] und in ein fremdes Land zu gehen« (Apostolische Konstitution Exsul Familia. De spirituali emigrantium cura, 1. August 1952).
Natürlich sind die Schwierigkeiten bei der Aufnahme nicht zu übersehen. Die Flüchtlinge müssen aufgenommen, geschützt oder begleitet, gefördert und integriert werden. Geschieht dies nicht, gerät der Flüchtling in die Umlaufbahn der Gesellschaft. Aufgenommen, begleitet, gefördert und integriert: Das ist der Stil. Es ist wahr, dass es nicht einfach ist, diesen Stil zu haben oder Personen zu integrieren, aber das Hauptkriterium kann nicht der Erhalt des eigenen Wohlstandes sein, sondern vielmehr die Wahrung der Menschenwürde. Diejenigen, die bei uns Zuflucht suchen, sollten nicht als eine Last angesehen werden, die wir zu tragen haben: Wenn wir sie als Brüder und Schwestern ansehen, werden sie uns vor allem als Geschenk erscheinen. Morgen ist der Welttag der Migranten und Flüchtlinge. Lassen wir uns von der Geschichte unserer vielen Brüder und Schwestern in Not berühren, die das Recht haben, sowohl auszuwandern als auch nicht auszuwandern, und verschließen wir uns nicht in Gleichgültigkeit. Die Geschichte verlangt von uns eine Aufrüttlung des Gewissens, um dem Schiffbruch der Zivilisation vorzubeugen.
Die Zukunft liegt nicht in der Abschottung, die eine Rückkehr in die Vergangenheit ist, eine Kehrtwende auf dem Weg der Geschichte. Im Hinblick auf die schreckliche Geißel der Ausbeutung von Menschen besteht die Lösung nicht in der Ablehnung, sondern – den jeweiligen Möglichkeiten entsprechend – in der Sicherstellung einer Vielzahl von legalen und regulären Einreisemöglichkeiten, die dank einer ausgewogenen Aufnahme in Europa in Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern möglich sind. Zu sagen »genug«, bedeutet hingegen die Augen zu verschließen; der Versuch, sich heute »selbst zu retten«, wird sich morgen in eine Tragödie verwandeln. Künftige Generationen werden uns danken, wenn es uns gelungen ist, die Bedingungen für eine unvermeidliche Integration zu schaffen, während sie uns die Schuld geben werden, wenn wir lediglich eine sterile Assimilation betrieben haben. Integration, auch die der Flüchtlinge, ist mühsam, aber weitsichtig: Sie bereitet die Zukunft vor, die, ob man will oder nicht, entweder eine gemeinsame sein wird oder gar nicht sein wird; Assimilation, die keine Rücksicht auf Unterschiede nimmt und starr in ihren eigenen Paradigmen verharrt, führt dagegen dazu, dass die Idee die Wirklichkeit beherrscht und sie gefährdet die Zukunft, indem sie die Distanzen vergrößert und eine Ghettoisierung provoziert, die Feindseligkeit und Unduldsamkeit hervorruft. Wir brauchen Geschwisterlichkeit so sehr wie das tägliche Brot.
Schon das Wort »Bruder«, das aus dem Indoeuropäischen stammt, offenbart eine Herkunft, die mit Ernährung und Lebensunterhalt zu tun hat. Wir erhalten uns nur selbst, wenn wir die Schwächsten mit Hoffnung nähren, indem wir sie als Brüder und Schwes-tern willkommen heißen. »Vergesst die Gastfreundschaft nicht« (Hebr 13,2), sagt uns die Heilige Schrift. Und im Alten Testament wird wiederholt: die Witwe, die Waise und der Fremde. Die drei Pflichten der Liebe: der Witwe beistehen, der Waisen beistehen und dem Fremden, dem Flüchtling beistehen.
In dieser Hinsicht ist der Hafen von Marseille auch ein »Tor des Glaubens«. Der Überlieferung nach landeten die Heiligen Marta, Maria und Lazarus hier und säten das Evangelium in dieser Gegend aus. Der Glaube kommt vom Meer, wie die stimmungsvolle Marseiller Lichtmess-Tradition mit einer maritimen Prozession zeigt. Lazarus ist im Evangelium der Freund Jesu, aber den gleichen Namen trägt auch der Protagonist eines sehr aktuellen Gleichnisses, das uns die Augen für die Ungleichheit öffnet, die die Geschwisterlichkeit zerstört, und uns von der Vorliebe des Herrn für die Armen erzählt. So können wir Christen, die wir an den menschgewordenen Gott glauben, an den einen und einzigen Menschensohn, der an den Ufern des Mittelmeers von sich als dem Weg, der Wahrheit und dem Leben sprach (vgl.
Joh 14,6), nicht akzeptieren, dass die Wege der Begegnung versperrt werden. Versperren wir nicht die Wege der Begegnung, bitte! Wir können nicht hinnehmen, dass die Wahrheit des Gottes Geld über die Würde des Menschen siegt, dass sich das Leben in Tod verwandelt! Die Kirche, die bekennt, dass Gott sich in Jesus Christus »gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt« hat (Gaudium et spes, 22), glaubt mit Johannes Paul II. daran, dass ihr Weg der Mensch ist (vgl. Enzyklika Redemptor hominis, 14). Sie betet Gott an und dient den Schwächsten, die ihre Reichtümer darstellen. Gott anbeten und dem Nächsten dienen, das ist es, was zählt: nicht die gesellschaftliche Bedeutung oder die zahlenmäßige Stärke, sondern die Treue zum Herrn und zum Menschen!
Darin besteht das christliche Zeugnis, und oft ist es sogar heroisch; ich denke da zum Beispiel an den heiligen Charles de Foucauld, den »Bruder aller«, an die Märtyrer von Algerien, aber auch an die vielen Wohltäter von heute. In dieser unerhört evangeliumsgemäßen Lebensweise findet die Kirche den sicheren Hafen, in dem sie anlegen und aus dem sie wieder auslaufen kann, um sich mit den Menschen aller Völker zu verbinden sowie überall nach den Spuren des Heiligen Geistes zu suchen und das weiterzugeben, was sie aus Gnade empfangen hat. Das ist die reinste Wirklichkeit der Kirche, das ist – so schrieb Bernanos – »die Kirche der Heiligen«, und er fügte hinzu, dass »dieser ganze große Organismus der Weisheit, der Stärke, der geschmeidigen Disziplin, der Pracht und der Majestät für sich genommen nichts ist, wenn er nicht beseelt ist von der Liebe« (Jeanne, relapse et sainte, Paris 1994, 74). Ich möchte diesen französischen Scharfsinn loben, diesen gläubigen und schöpferischen Genius, der diese Wahrheiten durch eine Vielzahl von Ges-ten und Schriften zum Vorschein gebracht hat. Der heilige Caesarius von Arles sagte: »Wenn du die Nächstenliebe besitzt, besitzt du Gott; und wenn du Gott besitzt, was fehlt dir?« (Sermo 22,2). Pascal erkannte: »Der einzige Gegenstand der Schrift ist die Liebe« (Gedanken, Nr. 15). Und: »Die Wahrheit ohne die Liebe ist nicht Gott, sie ist ein Bild und ein Götze, den man nicht lieben noch anbeten soll« (Gedanken, Nr. 74). Und der heilige Johannes Cassian, der hier starb, schrieb, dass »alles, auch das, was als nützlich und notwendig angesehen wird, weniger wert ist als das Gut des Friedens und der Nächstenliebe« (Collationes Patrum, XVI, 6).
Deshalb ist es gut, dass Christen in der Nächstenliebe niemandem nachstehen und dass das Evangelium der Nächstenliebe die Magna Charta der Seelsorge ist. Wir haben nicht den Auftrag, vergangenen Zeiten nachzutrauern oder eine neue kirchliche Relevanz zu suchen, sondern wir sind aufgerufen, Zeugnis abzulegen: nicht das Evangelium mit Worten zu besticken, sondern es zu verwirklichen; nicht die Sichtbarkeit zum Maßstab zu machen, sondern uns uneigennützig zu verausgaben, im Glauben, dass »das Maß Jesu […] die Liebe ohne Maßen« ist (Homilie, 23. Februar 2020). Paulus, der Apostel der Heiden, der einen großen Teil seines Lebens auf den Mittelmeerrouten von einem Hafen zum anderen verbrachte, lehrte, dass, um das Gesetz Christi zu erfüllen, einer des anderen Last tragen muss (vgl. Gal 6,2).
Liebe Mitbrüder im Bischofsamt, bürden wir den Menschen keine Lasten auf, sondern entlasten wir sie im Namen des Evangeliums der Barmherzigkeit, um die Wohltaten Jesu freudig an eine müde und verwundete Menschheit weiterzugeben. Möge die Kirche nicht eine Ansammlung von Vorschriften sein, die Kirche möge ein Hafen der Hoffnung für die Entmutigten sein. Macht das Herz weit, bitte! Die Kirche möge ein Hafen der Stärkung sein, in dem die Menschen sich ermutigt fühlen, sich auf die hohe See des Lebens mit der unvergleichlichen Kraft der Freude Christi hinauszuwagen. Die Kirche sein kein Zoll. Erinnern wir uns an den Herrn: alle, alle, alle sind eingeladen.
3. So komme ich kurz zum letzten Bild, dem des Leuchtturms. Er leuchtet auf das Meer hinaus und zeigt den Hafen an. Welche Lichtzeichen können den Kurs der Kirchen am Mittelmeer leiten? Wenn wir an das Meer denken, das so viele verschiedene Glaubensgemeinschaften vereint, glaube ich, dass wir über mehr synergetische Wege nachdenken könnten und vielleicht sogar, wie der Kardinal [Aveline] sagte, die Möglichkeit einer kirchlichen Konferenz für den Mittelmeerraum in Betracht ziehen könnten, die weitere Möglichkeiten des Austauschs bieten und der Region eine größere kirchliche Präsenz bescheren würde. Auch mit Blick auf den Hafen und die Migrationsfrage könnte es fruchtbar sein, sich für eine spezifische Pastoral einzusetzen, die noch stärker vernetzt ist, damit die besonders betroffenen Diözesen ihren ankommenden Schwestern und Brüdern in Not besser geistlich und menschlich beistehen können.
Der Leuchtturm in diesem berühmten Gebäude, das seinen Namen trägt, lässt mich schließlich vor allem an die jungen Menschen denken: Sie sind das Licht, das den zukünftigen Kurs anzeigt. Marseille ist eine große Universitätsstadt mit vier Campus; von den rund 35.000 Studierenden, die sie besuchen, sind 5.000 Ausländer. Wo könnte man besser mit dem Aufbau von Beziehungen zwischen den Kulturen beginnen als an den Universitäten? Dort werden die jungen Menschen nicht von den Verlockungen der Macht verzaubert, sondern von dem Traum, die Zukunft zu gestalten. Die mediterranen Universitäten mögen zu Werkstätten der Träume und Baustellen des Zukünftigen werden, in denen junge Menschen reifen, indem sie sich treffen, kennenlernen und Kulturen und Zusammenhänge entdecken, die vertraut und zugleich anders sind. Auf diese Weise werden Vorurteile abgebaut, Wunden geheilt und fundamentalistische Rhetorik eingedämmt. Gut ausgebildete und einander geschwisterlich gesinnte junge Menschen können unverhoffte Türen des Dialogs öffnen. Wenn wir wollen, dass sie sich dem Evangelium und dem hohen Dienst der Politik widmen, müssen wir zuallererst glaubwürdig sein: selbstvergessen, frei von Selbstbezogenheit, bereit, uns unermüdlich für andere einzusetzen.
Aber die wichtigste Herausforderung der Bildung betrifft jedes Alter: Schon als Kind kann man, indem man sich unter die anderen »mischt«, viele Barrieren und Vorurteile überwinden und seine eigene Identität in gegenseitiger Bereicherung entwickeln. Dazu kann die Kirche einen guten Beitrag leisten, indem sie ihre Ausbildungsnetzwerke zur Verfügung stellt und eine »Kreativität der Geschwisterlichkeit« anregt.
Eine weitere Herausforderung besteht in einer mediterranen Theologie, die ein Denken entwickelt, das sich an der Realität orientiert, der »Heimat« des Menschen und nicht nur der technischen Daten, und das in der Lage ist, die Generationen zu vereinen, indem es Erinnerung und Zukunft miteinander verbindet, und mit Originalität den ökumenischen Weg zwischen den Christen und den Dialog zwischen den Gläubigen der verschiedenen Religionen fördert. Es ist schön, eine philosophische und theologische Forschung zu wagen, die aus den kulturellen Quellen des Mittelmeerraums schöpft und dem Menschen die Hoffnung zurückgibt; dem Menschen, der ein Geheimnis der Freiheit ist und Gott und den Nächsten braucht, um seiner Existenz einen Sinn zu geben. Und es ist auch notwendig, über das Geheimnis Gottes nachzudenken, von dem niemand behaupten kann, es zu besitzen oder zu beherrschen, und das in der Tat jedem gewaltvollen und instrumentellen Gebrauch entzogen werden muss, in dem Bewusstsein, dass das Bekenntnis seiner Größe in uns die Demut der Suchenden voraussetzt.
Liebe Brüder und Schwestern, ich danke euch für euer geduldiges Zuhören und euer Engagement. Macht weiter! Seid ein Meer des Guten, um der gegenwärtigen Armut mit einer solidarischen Synergie zu begegnen; seid ein einladender Hafen, um diejenigen aufzunehmen, die eine bessere Zukunft suchen; seid ein Leuchtturm des Friedens, um durch die Kultur der Begegnung die dunklen Abgründe von Gewalt und Krieg zu durchbrechen. Danke.