Wenn die Sonne über der kleinen Kirche in Arwaicheer aufgeht, dann ist das wie der Beginn eines Traums. Die Lichtstrahlen lassen die Querbalken des Kreuzes neben dem Ger, der mongolischen Jurte, länger erscheinen. Hinter dem Holzzaun erstreckt sich die Steppe in Grün- und Brauntönen, während die Sonne in den blauen Himmel steigt. Eine unendliche Weite. Das ist der Zeitpunkt, wo in der 29.000-Einwohner-Stadt im Zentrum des Landes, der Hauptstadt der Provinz Öwörchangai, die Frauen aufstehen, um mit Spänen und Brennholz oder Pferdemist das Feuer im Ofen zu entzünden – in der Kälteperiode, die von Oktober bis April dauert, mit gefrorenen Wimpern. Wenn die Familie aufwacht, überschreiten die Hausherrinnen die Schwelle des Zeltes – ohne auf sie zu treten, wie es eine jahrhundertealte Regel vorschreibt – und verlassen es. Dann verspritzen sie etwas Milch gen Himmel, »als Segen und Zeichen der Ehrfurcht vor der Welt des Unsichtbaren«.
Lucia Bortolomasi, Italienerin aus der Nähe von Turin und im vergangenen Mai zur Generaloberin der Consolata-Missionsschwestern gewählt, hat 14 Jahre in der Mongolei gelebt und sagt: »Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Frauen eine sehr wichtige Rolle in der mongolischen Gesellschaft spielen. Sie bekleiden in ihren Traditionen, in der Familie und in der Arbeit die wichtigsten Positionen. Es ist immer die Frau, die dem Ehrengast eine Tasse Milch reicht, zusammen mit einem himmelblauen Baumwoll- oder Seidenstreifen als Zeichen des Willkommens, der Ehrerbietung und Achtung.« Die Frau ist es auch, die dem Kind bei einer Zeremonie am Ende des ersten Lebensmonats vor der versammelten Familie seinen Namen ins Ohr flüstert…
Kurz vor Sonnenaufgang sind die beiden Priester und die vier Ordensschwestern im Missionshaus mit den ersten Tätigkeiten beschäftigt, auch die kleine Kirche wird etwas geheizt, weil um 7.30 Uhr die ersten Pfarreimitglieder zum Rosenkranzgebet kommen. Bis zur heiligen Messe füllt sich die Kirche etwas mehr, je nach Wochentag, und wieder sind es die Frauen, die zuerst kommen. Norgim gehört oft zu den Allerersten. Heute leitete die 70-Jährige, die vor zehn Jahren bei ihrer Taufe den Namen Agata gewählt hat, das Gebet. Ihre kristallklare, deutliche Sprache und ihr schönes Gesicht mit den leuchtenden Augen sind Ausdruck einer entschlossenen Persönlichkeit. Seit vor einigen Jahren ihr Mann gestorben ist, verkauft sie auf dem Markt Felle. Das ist ein schwieriges Geschäft, aber sie ist eine echte Geschäftsfrau. Eine Kämpferin.
In ihrem Haus, wo sie allein wohnt, empfängt sie uns mit einem Teller dampfender Buuds, köstlicher Teigtaschen, mit Lammfleisch gefüllt und gewürzt mit Zwiebeln und Kräutern. Die Gebetsecke hat einen Ehrenplatz: Auf einem lackierten, mit Blumen und Früchten verzierten Möbelstück aus Holz steht ihre Taufkerze neben der Bibel, einem Zweig in einer weißen Plastikvase und einem als Weihwassergefäß wiederverwendeten Honigglas. Die Bibel ist in brauner Lederimitation gebunden und dient nicht nur der Dekoration. Die zerknitterten Seiten sind Beweis für eine regelmäßige Lektüre. Norgim liest, wenn sie auf dem Markt ist. Das Matthäusevangelium hat sie am liebsten und die Psalmen, vor allem: »Der Herr ist mein Hirt.«
Die Begegnung war
eine Fügung
Der Markt ist der Ort, an dem das Abenteuer für sie begann: »Im Jahr 2000 sprach ich gerade mit einem Kunden, als Don Giorgio vorbeiging«, erzählt sie und meint damit Giorgio Marengo, der am 27. August 2022 von Papst Franziskus zum Kardinal erhoben wurde. Er ist Missionar, Apostolischer Präfekt von Ulaanbaatar und seit über 20 Jahren in der Mongolei. »Die Person, mit der ich sprach, hat zu mir gesagt: ›Siehst du die? Das sind tüchtige Leute, sie tun viel für die Kranken und helfen ihnen.‹ Und weil mein Mann gelähmt war, habe ich beschlossen, ihnen nachzugehen.« Sie folgt den Missionaren, kreuzt absichtlich ihren Weg und grüßt sie. Als sie in ihrer Muttersprache, dem schwer zu erlernenden Mongolisch, antworten, sagt sie sich: »Diese Begegnung war eine Fügung.« So ist sie mit ihnen gegangen und hat zum ersten Mal in ihrem Leben unbekannten Boden, das heißt eine Kirche, betreten. »Am Anfang habe ich nichts verstanden«, erinnert sich die Frau, die in der buddhistischen Kultur, verbunden mit etwas Schamanismus, groß geworden ist, wie die Mehrheit der Bevölkerung. Aber wie der Mann aus dem Gleichnis vom Schatz im Acker spürte sie in der Tiefe ihres Seins, dass sie etwas sehr Kostbares gefunden hatte, und das wollte sie nicht mehr loslassen. Beharrlich kam sie regelmäßig zur heiligen Messe. Sie war unter den ers-ten Neugetauften, zusammen mit Perlima, heute ebenfalls eine Stütze der Pfarrei: eine Frau in den Siebzigern, die Augenränder mit schwarzem Kajalstift nachgezogen und kastanienbraunes Haar. Weitere Frauen kamen hinzu, nachdem sie einige Zeit die Stickwerkstatt besucht hatten, ein von den Missionaren ins Leben gerufenes Sozialprojekt, das nun von Sr. Tireza aus Äthiopien geleitet wird. Manchmal staunen die Leute, dass sie ihr Land verlassen hat, um so weit weg zu leben, ohne Gehalt und ohne verheiratet zu sein. Sr. Tireza erzählt uns von ihrem Leben als Missionarin und erklärt: »Die Frauen hier sind sehr stark. Sie sind es, die zuerst kommen.«
Perlima, deren Taufname Rita ist, gehört ebenfalls zu den Pionierinnen. Wie Norgim scheint auch sie eine Persönlichkeit zu sein, die direkt aus der Apostelgeschichte kommen könnte. In ihrem Ger mit seinen orangefarbenen Möbeln und den Fotos ihrer Kinder und Enkel hat sie ein regelrechtes Festmahl vorbereitet. In der Mongolei ist die Gastfreundschaft eine ernste Angelegenheit, und auch hier haben die Frauen das Sagen. Auf dem Tisch im hinteren Teil des Zeltes, das heißt auf dem Ehrenplatz gegenüber dem Eingang und hinter dem Hausaltar, türmen sich das in Schafsfett frittierte und mit Süßigkeiten und Trockenobst verzierte Brot für das Mondneujahr und in einer Fleischbrühe schwimmende »Buuds«. Auch der buttrige, gesalzene Tee mit sehr viel Milch fehlt nicht.
Während ihre Enkelin, Messdienerin in der Pfarrei, mit ihrem Smartphone beschäftigt ist, erzählt sie ihre Geschichte, unter dem wachsamen Auge von Renchen-Augustin, ihrem Mann. »Bevor ich katholisch geworden bin, habe ich in einer Stadt im Norden gelebt, in Erdenet, wo es ein Bergwerk gibt. Ich war Kranführerin.« Sie war in der Sowjetzeit in Russland ausgebildet worden: »Ich glaubte an gar nichts. In den 1990-er Jahren habe ich begonnen, in verschiedene evangelische Kirchen zu gehen, und so habe ich Jesus entdeckt.«
Nach der Rückkehr in ihr Dorf Arvayheer hört sie, wie die Leute von der Kirche im Ger erzählen. Wie Norgim ist sie am Anfang etwas verwirrt. »Als ich das erste Mal dort war, ist mir vor allem aufgefallen, dass so viele Ordensleute aus fremden Ländern da waren, die eifrig unsere Sprache lernten und in unserer Sprache predigten. Warum machten sie sich diese Mühe? Das hat mich beeindruckt.« Sie nimmt sich kaum Zeit, um Luft zu holen, während sie fortfährt: »Es ist nicht leicht zu erklären, aber die Tatsache, dass es Ausländer waren, hat mir Vertrauen eingeflößt. Die Tatsache, dass diese Personen von weither kamen und sich so sehr einsetzen, ist ein Zeichen für die Echtheit. Denn sie selbst haben auf etwas verzichtet, um hier zu sein, und ihr Leben offenbart die Qualitäten von gläubigen Menschen: ihre Freundlichkeit, ihre Demut… Als ich sie gesehen habe, wollte ich so werden wie sie. Das hat mich angezogen.« Stolz sagt sie: »Ich bin die Taufpatin von zehn Gemeindemitgliedern, und in meiner Familie sind fünf Personen getauft worden, unter ihnen auch mein Mann.« Eine ihrer Schwes-tern ist Christin geworden, die beiden anderen sind Buddhistinnen und sprechen oft vom Glauben. Vor allem der Tod gehört zu den Hauptsorgen von Perlima. Auch sie ist von der Bibel begeistert, die sie gemeinsam mit ihrem Mann liest und die sich auch ihrem Sohn geschenkt hat, der derzeit im Gefängnis ist. »Was mich am meisten fasziniert, das ist die Auferstehung des Fleisches«, murmelt sie. »Das finde ich wundervoll. Ich habe aufgehört, Angst zu haben und wütend zu sein.« Wir fragen ihre Enkelin: Und die Jugendlichen? Sie blickt vom Smartphone auf: »In der Schule stellen mir die Lehrer und meine Freunde Fragen über die Kirche und über das, was wir machen.« Manche bringen Freunde mit, aber das geschieht noch häufiger in Ulaanbaatar, der Hauptstadt, wo die jungen Leute zum Studieren hingehen.
Großmut und Geduld
in Schwierigkeiten
So wie die Frauen morgens den Ofen anzünden und sich tagsüber um ihn kümmern, sind sie es häufig, die in ihren Häusern das Licht des Glaubens entzünden und trotz der schwierigen Lebensbedingungen dafür sorgen, dass es nicht erlischt. Im Gespräch erwähnt Perlima das Gewicht der Wasserkanis-ter, die weder sie selbst noch ihr Mann tragen können. Das ist ein Problem, weil es in den Ger kein fließendes Wasser gibt. »Mich hat die innere Stärke der mongolischen Frauen immer beeindruckt«, sagt Sr. Lucia Bortolomasi. »Bei vielen von ihnen kann man an den Gesichtern ihre Großmut und Geduld ablesen. Es sind mutige Frauen, die sich vom eiskalten mongolischen Winter nicht erschüttern lassen, die sich nicht entmutigen lassen von den sozialen Ungerechtigkeiten und den vielen täglichen Schwierigkeiten, die sie bewältigen müssen, um ihre Familien würdig zu versorgen.« In der Steppe mit ihrem unendlichen Horizont lehren die Mütter ihre Kinder, die Augen zu trainieren, wenn sie sie bitten, die Schafe zu zählen, die am Horizont kaum Nadelkopfgröße haben… Sie lehren sie, in die Weite zu blicken. Ohne Angst.
(Orig. ital. in Frauen-Kirche-Welt,
September 2023)
Von Marie-Lucile Kubacki