Verehrte Dame,
verehrte Herren,
es ist mir eine Freude, Sie als Anwälte aus verschiedenen Mitgliedsländern des Europarates empfangen zu dürfen. Am 11. Juni 2022 haben Sie die Wiener Erklärung unterzeichnet, mit der die Mitgliedsstaaten des Rates aufgefordert werden, sich für Rechtsstaatlichkeit und eine unabhängige Justiz einzusetzen. Diese Erklärung hängt mit der aktuellen Lage in Europa zusammen, die in vielerlei Hinsicht schwierig ist, nicht zuletzt aufgrund des sinnlosen Krieges in der Ukraine. Ich danke Ihnen für Ihren wichtigen Beitrag zur Förderung der Demokratie und der Achtung der Freiheit und Menschenwürde. In diesen Zeiten der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Krise sowie der Krise von Identität und Sicherheit stehen die westlichen Demokratien vor der Herausforderung, wirksam zu reagieren, gleichzeitig aber stets ihren Grundsätzen treu zu bleiben. Diese Grundsätze gilt es immer wieder neu zurückzugewinnen, und ihre Verteidigung erfordert hohe Wachsamkeit. Die Angst vor Unruhen und Gewalt, die Erwartung von Umbrüchen in den etablierten Gleichgewichten, die Notwendigkeit, in dieser dringlichen Situation wirkungsvoll zu handeln, können in die Versuchung führen, Ausnahmeregelungen zu treffen und den Rechtsstaat – zumindest vorübergehend – auf der Suche nach einfachen und schnellen Lösungen einzuschränken. Daher halte ich Ihre Forderung für wichtig, dass »der Rechtsstaat niemals auch nur geringfügig eingeschränkt werden darf, auch nicht in Krisenzeiten«. Denn der Rechtsstaat steht im Dienste des Menschen und hat den Schutz der Menschenwürde zum Ziel, und hier sind keine Ausnahmen möglich. Das ist ein Grundsatz.
Doch nicht nur Krisen bedrohen in Demokratien Freiheiten und Rechtsstaatlichkeit. So verbreitet sich immer mehr ein irriges Bild vom Menschen und seiner Natur, ein Bild, das den Schutz des Menschen schwächt und Schritt für Schritt unter dem Deckmantel des Guten schwerwiegende Verstöße ermöglicht.
Wir dürfen nicht vergessen, dass die Grundlage der Würde des Menschen in seinem transzendenten Ursprung besteht, der folglich jegliche Verletzung verbietet; und es ist diese Transzendenz, die bei jedem menschlichen Tun verlangt, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und ihn nicht zum Spielball von Moden und aktuellen Mächten werden zu lassen (vgl. Ansprache an das Europaparlament, 25. November 2014). Denn »ein Europa, das nicht mehr fähig ist, sich der transzendenten Dimension des Lebens zu öffnen, ist ein Europa, das in Gefahr gerät, allmählich seine Seele zu verlieren und auch jenen ›humanistischen Geist‹, den es doch liebt und verteidigt« (ebd.).
Die Achtung der Menschenrechte und die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit können nur in dem Maße gewährleistet werden, wie die Völker ihren Wurzeln treu bleiben, den Wurzeln, die von der Wahrheit genährt werden und damit vom Lebenselixier einer jeden Gesellschaft, die wirklich frei, menschlich und solidarisch sein will (vgl. Ansprache an den Europarat, 25. November 2014). Ohne diese Suche nach der Wahrheit über den Menschen, wie sie dem Plan Gottes entspricht, wird das Individuum zum Maßstab seiner selbst und des eigenen Handelns. Tatsächlich gibt es heute die Tendenz, dass immer mehr Rechte für Einzelne gefordert werden, ohne zu berücksichtigen, dass jeder Mensch in einen sozialen Kontext eingebunden ist, in dem seine Rechte und Pflichten mit denen der anderen und zum Gemeinwohl der Gesellschaft verknüpft sind (vgl. Ansprache an das Europaparlament). Ein falsches Verständnis des Konzepts der Menschenrechte und ihr paradoxer Missbrauch könnten die Völker zu »engelhaften Purismen, [zu] Totalitarismen des Relativen, [zu] in Erklärungen ausgedrückten Nominalismen, [zu] mehr formalen als realen Projekte[n], [zu] geschichtswidrigen Fundamentalismen, [zu] Ethizismen ohne Güte, [zu] Intellektualismen ohne Weisheit (Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 231) führen, bei denen der Rechtsstaat nur noch im Dienste eines verzerrten Menschenbildes stünde, das wirtschaftlichen und ideologischen Interessen gemäß manipuliert würde.
Liebe Anwälte, ich habe bei Ihrer Erklärung, in der Sie auf den notwendigen Schutz Ihrer Arbeit eingehen, die Mahnung begrüßt, das grundlegende Prinzip des Berufsgeheimnisses zu achten, dessen Verletzung in einigen Mitgliedsstaaten Sie beklagen. Ich verstehe und teile Ihre Besorgnis und möchte Sie in Ihrem Einsatz ermutigen. In unseren Gesellschaften müssen vertrauliche Räume unbedingt erhalten bleiben, in denen sich die Menschen frei äußern und von einer Last befreien können. Dies ist sehr wichtig. In der Kirche gibt es das Beichtgeheimnis; auch Sie haben diesen Raum, in dem man frei ist, seinem Anwalt die Wahrheit zu sagen, damit dieser einem helfen kann…
Ich bin Ihnen dankbar für Ihre Sorge für unser gemeinsames Haus und Ihr Engagement, an der Ausarbeitung eines Rechtsrahmens zum Schutze der Umwelt mitzuwirken. Wir dürfen nie vergessen, dass die jungen Generationen das Recht haben, von uns eine schöne und lebenswerte Welt zu erhalten, und dass dies für uns große Verpflichtungen gegenüber der Schöpfung mit sich bringt, die wir aus Gottes großzügigen Händen erhalten haben. Vielen Dank für Ihren Beitrag. Ich schreibe derzeit an einem zweiten Teil von Laudato si’, um auf aktuelle Probleme einzugehen.
Noch einmal möchte ich Sie ermutigen, in der Ausübung Ihres Berufs beharrlich zu bleiben, der im Dienste der Wahrheit und der Gerechtigkeit steht, die Voraussetzung für Frieden in der Welt und Harmonie in unseren Gesellschaften sind. Die Jungfrau Maria und der heiige Ivo mögen Sie beschützen und behüten. Ich segne Sie von Herzen und bitte Sie: Beten Sie für mich. Danke.
(Orig. ital in O.R. 21.8.2023)