· Vatikanstadt ·

Leitartikel des Direktors unserer Zeitung

Der seidene Faden der Unruhe und der christliche Blick auf die Welt

Pilgrims kneel at Fatima shrine, in Fatima, on August 4, 2023, on the eve of Pope Francis' visit. ...
11. August 2023

»Unzufrieden zu sein heißt, ein Mensch zu sein.« In der Ansprache an die Studenten zitierte Papst Franziskus am zweiten Tag seiner Reise diese Worte des Dichters und Schriftstellers Fernando Pessoa, der in Lissabon geboren wurde und auch dort gestorben ist, den Autor eines außergewöhnlichen Werkes mit dem Titel Das Buch der Unruhe. Und »Unruhe« ist der rote Faden in den Ansprachen des Papstes in diesen ersten Tagen. Bereits in der Vesper am Mittwoch hatte er klar gesagt: »Das ist es, was der Herr von uns verlangt: Wieder die Unruhe für das Evangelium zu wecken.« […] »Und wir könnten sagen, dass dies die ›gute‹ Unruhe ist […], die die Unermesslichkeit des Ozeans euch Portugiesen übermittelt: das Ufer hinter sich zu lassen, nicht um die Welt zu erobern […], sondern um sie mit dem Trost und der Freude des Evangeliums zu beschenken.« Die Mission des Christen besteht darin, zu dieser seltsamen Form der »Eroberung« aufzubrechen, die nicht bedeutet, sich auf die Suche nach Feinden zu machen, die zu besiegen wären, sondern es bedeutet, die Herzen der traurigen und pessimistischen Menschen mit der Freude und der Hoffnung zu berühren. Die auf diese Weise »bewaffneten« Christen sind aufgerufen, Pilger in der Welt zu sein. Vor allem aufgrund einer ganz einfachen, realistischen Tatsache: Jeder Mensch ist bereits in dem Augenblick, in dem er auf die Welt kommt, ein Pilger. In seinen Worten an die Studenten hat der Papst bekräftigt: »Im Begriff ›Pilger‹ spiegelt sich das menschliche Verhalten wider, denn jeder ist aufgerufen, sich den großen Fragen zu stellen, auf die es keine Antwort gibt, keine simple oder unmittelbare Antwort, sondern die dazu einladen, sich auf eine Reise zu begeben, über sich selbst hinauszugehen, weiter zu gehen. Das ist ein Prozess, den ein Student gut versteht, denn so entsteht die Wissenschaft. Und so wächst auch die spirituelle Suche.« Und auch die Kunst, könnte man hinzufügen. Wie es Andrei Tarkowski ausgedrückt hat: »Den Künstler gibt es gerade deswegen, weil die Welt nicht perfekt ist. Und Kunst wäre für niemanden notwendig, wenn die Welt das Reich der Harmonie und Schönheit wäre.«

Jeder Mensch ist ein Pilger, sagt der Papst, und die beiden Grundverben des Pilgers sind »suchen und riskieren«. Hier finden wir die Unruhe, von der der Papst spricht, eine Unruhe, vor der man sich nicht zu fürchten braucht: »Wir sollten keine Angst davor haben, uns unruhig zu fühlen, zu denken, dass das, was wir tun, nicht genug sei. In diesem Sinne und im richtigen Ausmaß unzufrieden zu sein, ist ein gutes Gegenmittel gegen die Anmaßung der Selbstgenügsamkeit und gegen den Narzissmus. Die Unvollständigkeit kennzeichnet unseren Zustand als Suchende und Pilger, wie Jesus sagt, ›wir sind in der Welt, aber wir sind nicht von der Welt‹ (vgl. Joh 17,16). Wir sind unterwegs nach… Wir sind zu einem Stück mehr berufen, dazu, abzuheben, was Voraussetzung für das Fliegen ist. Seien wir also nicht beunruhigt, wenn wir uns innerlich durstig, unruhig, unerfüllt, voller Sehnsucht nach Sinn und Zukunft fühlen, com saudades do futuro! […] Wir sind nicht etwa krank, wir sind lebendig!« Das Wort von Pessoa über die Unzufriedenheit hat eine Entsprechung in der geistreichen Bemerkung des französischen Schriftstellers Julien Green: »Solange ich unruhig bin, kann ich beruhigt sein.« Dieses Thema der »Unvollständigkeit« liegt Bergoglio sehr am Herzen, der oft von der Notwendigkeit eines »unvollendeten Denkens« gesprochen hat. Dieses Gefühl der Unzufriedenheit darf nicht zur Mutlosigkeit führen und noch weniger zu Bedauern oder Verbitterung, sondern soll zu jener »guten« Nostalgie führen, die Sehnsucht nach der Zukunft ist.

Aus diesem Grund ist es wichtig, einen vom Glauben und vom Licht des Evangeliums inspirierten Blick auf die Wirklichkeit zu haben. In der bereits zitierten Predigt bei der Vesper rief der Papst dazu auf, nicht der Versuchung der Mutlosigkeit und der Angst zu erliegen: »Es ist nicht die Zeit anzuhalten, es ist nicht die Zeit aufzugeben, es ist nicht die Zeit das Boot am Ufer festzumachen oder zurückzublicken; wir dürfen nicht vor dieser Zeit fliehen, weil sie uns ängstigt, und uns in Formen und Stile der Vergangenheit flüchten. Nein, dies ist die Zeit der Gnade, die der Herr uns schenkt, damit wir auf das Meer der Evangelisierung und Mission hinausfahren können.« Und um das Thema wieder aufzugreifen, hat er dann zu den Studenten gesagt: »Sucht und riskiert. In diesem bedeutenden Augenblick der Geschichte sind die Herausforderungen enorm, das Klagen ist schmerzerfüllt – wir erleben einen dritten Weltkrieg in Stücken –, aber lassen wir uns auf das Risiko ein, zu denken, dass wir uns nicht in einem Todeskampf, sondern in einer Geburt befinden; nicht am Ende, sondern am Anfang eines großen Schauspiels. […] Seid also Protagonisten einer ›neuen Choreographie‹, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt, seid Choreographen des Lebenstanzes.«

Kein Todeskampf, sondern eine Geburt. Das ist der Blick des Christen, der Gottes Werk auch dann zu unterscheiden und zu erkennen weiß, wenn die äußeren Anzeichen der Geschichte nur in eine Richtung, die dunkelste und beunruhigendste, zu weisen scheinen, denn er weiß, wie Paulus schon ahnte, »dass die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt« (Röm 8,22).

Das gefährliche Risiko besteht vielmehr darin, Gefangene einer Unruhe und Nostalgie zu werden, die nicht gesund, sondern traurig und lähmend ist. In seiner Ansprache an die Universitätsstudenten unterstrich der Papst, dass »das Christentum nicht wie eine von Mauern umgebene Festung bewohnt werden [kann], die Schutzwälle gegen die Welt errichtet«. Bereits vor mehr als 70 Jahren veröffentlichte der Jesuit und Theologe von Balthasar einen Aufsatz mit dem Titel »Schleifung der Bastionen«, in dem er die Notwendigkeit bekräftigte, dass die Kirche ihre Verschanzung aufgeben und die Schutzwälle zerstören muss, die sie von der modernen Welt und ihrer Kultur trennen.

Das eigene »cor inquietum« zu erkennen bedeutet nicht, schließlich müde zu resignieren, sondern es ist ein notwendiger Schritt für einen Neubeginn voller Vertrauen und Hoffnung, denn, wie der Papst die Studenten erinnerte, muss sich das Samenkorn öffnen, um Leben hervorzubringen, und der Winter muss sich für das »Wunder des Frühlings« öffnen: »Habt also den Mut, Ängste durch Träume zu ersetzen; ersetzt Ängste durch Träume, seid nicht Verwalter von Ängsten, sondern Unternehmer von Träumen!«

(Orig. ital. in O.R. 3.8.2023)

Von Andrea Monda