Thomas von Aquin ist »nicht nur ein Heiliger«, die Kirche »ehrt ihn auch als Kirchenlehrer«. Das schließe aber nicht aus, sondern vielmehr ein, »dass er stets ein Schüler des inneren Lehrmeisters« gewesen sei. So Kardinal Marcello Semeraro, Präfekt des Dikasteriums für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse und Sondergesandter des Papstes bei der Eucharistiefeier aus Anlass des 700. Jahrestags der Heiligsprechung des Dominikaners. Die heilige Messe fand am Nachmittag des 18. Juli in der Abtei Fossanova statt, wo der Aquinate auf dem Weg von Neapel zum Konzil von Lyon am 7. März 1274 verstarb.
Der Präfekt bezog sich in seiner Predigt auf den Brief, mit dem der Papst ihn zu seinem Sondergesandten ernannt hatte. Dort sei zu lesen, dass Thomas »von Gott mit dem Geist der Einsicht erfüllt war«, und »während er mit dem Verstand demütig die göttlichen Geheimnisse erforschte, betrachtete er sie in der Kontemplation mit glühendem Glauben«.
Beim Heiligsprechungsprozess in Neapel, der zwischen dem 21. Juli und dem
18. September 1319 stattfand, hätten die Zeugen einmütig ausgesagt, so der Kardinal, dass Thomas »ein Mann des Gebets und tiefer Kontemplation« gewesen sei. Zwar sei dies über fast alle Heilige gesagt worden, aber bei Thomas müsse es direkt »auf seine intellektuelle Arbeit bezogen werden«. Wilhelm von Tocco, den man heute als »Postulator« des Heiligsprechungsverfahrens für Thomas von Aquin bezeichnen würde, bezeugte, dass dieser »jedes Mal, wenn er sich anschickte eine Frage zu untersuchen, eine Disputation zu beginnen, zu lehren, zu schreiben oder zu diktieren, sich zunächst in die Stille des Gebets im Verborgenen zurückgezogen und unter Tränen Gott darum gebeten habe, die göttlichen Geheimnisse zu verstehen«. In diesem Zusammenhang erinnerte der Präfekt an eine Begebenheit aus dem Leben des Heiligen, die sich in Neapel ereignet habe und gut diese Gewohnheit beschreibe: »Als Thomas an seiner Summa theologiae arbeitete und über die Fragen in Bezug auf das Leiden und die Auferstehung des Herrn schrieb«, habe er wie gewohnt früh morgens in der Kapelle des heiligen Nikolaus gebetet. Dabei habe ihn Domenico von Caserta, der Sakristan, beobachtet und gesehen, wie er vor einem Holzkreuz in der Luft schwebte, während eine Stimme von dort zu ihm gesagt habe: »Du hast gut von mir geschrieben, Thomas, welchen Lohn verlangst Du?« Der Heilige habe geantwortet: »Nur Dich allein, Herr.« Dies seien, so der Kardinal, »die Worte eines Verliebten«.
Im Lebensstil des heiligen Thomas habe es ein konkretes Zeichen für die enge Verbindung zwischen Studium und Kontemplation gegeben, fuhr der Kardinal fort. Besser müsse man sagen: »studii contemplatione«, wie es Wilhelm von Tocco nenne, wörtlich: die »Kontemplation des Studiums«. Dieses Zeichen sei seine gewöhnliche »abstractio mentis«, seine scheinbare Zerstreutheit und Schweigsamkeit, gewesen, als »schwebte er in anderen Sphären«. Das sei so weit gegangen, dass seine Oberen »sich gezwungen sahen, ihm jemanden zur Seite zu stellen, der ihn in die Realität zurückholen sollte«. Die Wahl fiel auf Reginald von Piperno (heute Priverno), der für Thomas »gleichsam ein Kindermädchen« war. Studium und Kontemplation seien nicht zwei getrennte Vorgänge, sondern »ein einziger Akt, in dem Intelligenz und Liebe zusammenfließen«.
Das Schweigen des Aquinaten sei »Ausdruck seiner Versenkung in Gott« gewesen, der »nach und nach seinen Verstand zu entleeren und sein Herz zu füllen schien«. In den letzten Wochen seines Lebens habe er daher Reginald anvertraut: »Alles, was ich geschrieben habe, kommt mir wie Spreu vor!« Manche sähen in diesen Worten Anzeichen für eine »physische und sogar psychische Erschöpfung«, erklärte der Präfekt. Er selbst aber bevorzuge die Deutung von Antonin-Dalmace Sertillanges, einem großen Thomisten: »Wenn man das Schwierige leicht bewältigt hat, dann schaut man auf das Unmögliche, so dass für uns Menschen das Schweigen die höchste Verdichtung der Wissenschaft ist!«
Der Kardinal erwähnte dann, dass der Papst zum 700. Jahrestag der Heiligsprechung von Thomas ein Schreiben an drei Bischöfe gesandt habe, in deren Diözesen der Aquinate gewirkt hat. In diesem Brief fordert er die Hirten auf, die lebendige Erinnerung an den »Doctor communis« zu bewahren, der zudem »ein kostbarer Schatz für die Kirche von heute und morgen« sei, besonders in drei Bereichen: »der gemeinschaftlichen Dimension der Kirche, der Offenheit für die Wahrheit und der Aufmerksamkeit für die Herausforderungen der Geschichte«.
Der Präfekt konzentrierte sich auf den ers-ten Punkt. Im Brief an die Bischöfe habe der Papst geschrieben, dass wir berufen seien, »als lebendige und aktive Glieder des kirchlichen Leibes gemeinsam zu wachsen, eng miteinander vereint und verbunden«. Das Wort Jesu erinnere uns daran: »Nur einer ist euer Meister, ihr alle aber seid Brüder« (Mt 23,8). Diese Worte »überraschen etwas, denn unserer Logik zufolge hätte Jesus sagen müssen: Ihr seid alle Jünger.« Stattdessen, so der Kardinal, sage Jesus: »Ihr seid alle Brüder.« Das führe zu der Frage: »An was, oder besser an wen, sollen wir bei dem von Jesus verwendeten Wort ›Meister‹ denken?« Der heilige Thomas sage: Wenn man etwas wirklich verstehen wolle, dürfe man »nicht an einen guten Professor oder einen gelehrten, intelligenten Wissenschaftler« denken, sondern »an den inneren Meister, das heißt, an den Heiligen Geist«. Dieser sei nämlich »im Gegensatz zum menschlichen Lehrer, der von außen wirkt«, ein Meister, der »von innen erleuchtet« und »die Herzen darauf vorbereitet, die Lehre der Wahrheit aufzunehmen«. Das sei der Grund, warum »das Hören auf den einen Meister uns zu Brüdern untereinander macht«.
Der heilige Thomas habe dies zudem erläutert, als er in Neapel, wahrscheinlich während der Fastenzeit 1273, über das Gebet des Vaterunser predigte und sagte, dass »der göttliche Meister nicht gelehrt hat, nur Vater zu sagen, sondern Vater unser, wobei Thomas betonte, dass der Christ dieses Gebet nicht in seinem eigenen Namen, sondern in persona Ecclesiae, im Namen der Kirche, spricht«. Der »Geist des Auferstandenen« sei es, der dies möglich mache, habe der Heilige unterstrichen. Der Heilige Geist sei die »Quelle, die die Gnade Christi, des Hauptes, in den Leib zurückfließen lässt«, und er sei auch »das verbindende Prinzip aller Glieder untereinander«. In diesem Punkt, so der Präfekt, sei »Thomas zweifellos der Erbe des heiligen Augustinus. Jedoch weist er darauf hin, dass der Geist nur unter der Bedingung wirkt, dass wir ihm durch einen tätigen Glauben entsprechen, das heißt durch brüderliche Liebe.« Gott erwarte »immer eine freie Antwort von uns«, um zu handeln. Das habe der Papst in seinem Brief an die drei Bischöfe betont, wo er sage, dass die gemeinschaftliche Dimension der Kirche »genährt und bezeugt wird im sakramentalen Leben und in der Liturgie, in der Spiritualität, in der kulturellen und intellektuellen diakonia, im glaubwürdigen Zeugnis, in der Nächstenliebe und in der Zuwendung zu den Ärmsten und Schwächsten«.
(Orig. ital. in O.R. 19.7.2023)
Von Nicola Gori