Heute begegnen wir im Evangelium
(Mt 10, 37-42) einer sehr herausfordernden Botschaft Jesu, die nicht nur leicht missverstanden werden, sondern die auch zur Ablehnung der Botschaft Christi führen kann: Wie kann es sein, dass Jesus, der sonst dazu aufruft, die Menschen zu lieben, sagen kann, wir seien seiner nicht wert, wenn wir den eigenen Vater oder die eigene Mutter mehr lieben als ihn? Sollen wir nicht, wie es heißt, Vater und Mutter ehren (vgl. Ex 20,12)? Gibt es eine Rangunterscheidung in der Liebe?
Diese Worte Jesu mögen zunächst verwirrend oder gar hart klingen, aber sie offenbaren uns einen wichtigen Aspekt des Christseins: die Priorität der Nachfolge Christi. Liebe ist die Grundlage der Nachfolge und zugleich ihr Ziel. Wir sollen Liebende werden, um dadurch die durch die Sünde verlorene Ebenbildlichkeit Gottes wieder zu erlangen.
In diesem Evangelium zeigt uns der Herr, dass die Liebe zu Gott und die Liebe zu unseren Mitmenschen untrennbar miteinander verbunden sind. Wenn wir Jesus wirklich nachfolgen wollen, dann müssen wir bereit sein, alles andere in unserem Leben in den Hintergrund zu stellen. Das bedeutet nicht, dass wir unsere Familien oder unsere Beziehungen vernachlässigen sollen, sondern dass wir die Liebe zu Gott als die Quelle und den Antrieb für all unsere Beziehungen betrachten sollen. Wenn wir Christus lieben, wird unsere Liebe vollkommen; das befruchtet auch unsere Liebe zu unseren Mitmenschen. Umgekehrt aber dürfen wir aus Liebe zu den anderen – selbst zu unseren Verwandten – nicht die übergeordnete und grundlegende Liebe Gottes vergessen.
Der heilige Benedikt schreibt in seiner Klos-terregel, wir sollen der Liebe zu Christus nichts vorziehen (vgl. RB 4,21) und an einer anderen Stelle, wir sollen die Gäste aufnehmen, als seien sie Christus (vgl. RB 53,1). Es ist klar: die Liebe hat eine einzige Quelle: Gott selbst, der die Liebe ist (vgl. 1 Joh 4,8). Wenn wir aus dieser Quelle schöpfen, werden wir wirklich Christus nachfolgen können. Das Maß unserer Liebe soll die Liebe ohne Maß sein, wie der Heilige Bernhard von Clairvaux lehrt. Gott ist maßlose Liebe.
Wie diese Liebe konkret aussehen kann, sehen wir am Fest Mariä Heimsuchung, das wir heute auch feiern. Es erinnert uns daran, wie Maria ihre Verwandte Elisabeth besuchte, um ihr beizustehen und sie zu unterstützen. Maria gab ein lebendiges Zeugnis dieser maßlosen Liebe Gottes, indem sie ihre eigenen Bedürfnisse und Interessen zurückstellte, um anderen zu dienen. Sie zeigt uns, dass wahre Liebe bedeutet, sich auf andere Menschen auszurichten und ihnen in Zeiten der Freude und des Leidens beizustehen.
Als Christen sind wir dazu aufgerufen, Marias Beispiel zu folgen und die Liebe Got-tes in die Welt zu tragen. Das kann bedeuten, dass wir manchmal Opfer bringen müssen, um anderen zu dienen. Es kann bedeuten, dass wir uns von den Erwartungen und Versuchungen dieser Welt lösen müssen, um den Willen Gottes zu erfüllen. Es kann auch bedeuten, dass wir unsere Komfortzone verlassen müssen, um die Bedürfnisse anderer zu erkennen und zu erfüllen.
In einer Welt, die oft von Egoismus und Eigeninteressen geprägt ist, fordert uns das Evangelium heraus, eine radikale Liebe zu leben. Jesus ruft uns dazu auf, unsere Herzen zu öffnen und großzügig zu sein, selbst wenn es unbequem ist oder Opfer erfordert. Denn nur durch diese bedingungslose Liebe können wir die Gegenwart Gottes in unserer Welt widerspiegeln.
Denken wir immer wieder in dieser Woche, dass die Liebe zu Gott und die Liebe zu unseren Mitmenschen untrennbar miteinander verbunden sind. Lassen wir uns von Maria inspirieren, die ihr Leben in den Dienst an anderen stellte. Möge die Liebe Gottes in uns wachsen und uns befähigen, Liebe und Fürsorge in unsere Familien, Gemeinschaften und die Welt zu bringen, denn das einzige Maß der Liebe ist die Liebe ohne Maß.
Br. Immanuel Lupardi OSB ist Missions-benediktiner von St. Ottilien in Oberbayern und Student am Päpstlichen Athenäum Sant’Anselmo in Rom.