Audienz für Künstler, die am Treffen anlässlich des 50. Jahrestags der Eröffnung der Sammlung moderner Kunst in den Vatikanischen Museen teilgenommen haben

Verbündete von Gottes Traum

 Verbündete von Gottes Traum  TED-026
30. Juni 2023

Guten Tag, willkommen! Hier ist alles Kunst, dort [der Papst zeigt auf die Fresken], Sie, alle! Herzlich willkommen!

Ich danke Ihnen, dass Sie meine Einladung angenommen haben. Ihre Anwesenheit ist eine Freude für mich, weil die Kirche stets eine Beziehung zu den Künstlern gehabt hat, die man natürlich und zugleich besonders nennen kann. Es handelt sich um eine natürliche Freundschaft, weil der Künstler die unauslotbare Tiefe der Existenz, des Lebens und der Welt auch mit ihren Widersprüchen und tragischen Seiten ernst nimmt. Diese Tiefe droht unsichtbar zu werden aus dem Blickwinkel vieler Spezialkenntnisse, die unmittelbaren Notwendigkeiten entsprechen, aber Mühe haben, das Leben als polyedrische Realität zu sehen. Der Künstler erinnert alle daran, dass die Dimension, in der wir uns bewegen, auch wenn uns das nicht bewusst ist, die Dimension des Geistes ist. Ihre Kunst ist wie ein Segel, das der Geist füllt und so voranbringt. Die Freundschaft der Kirche zur Kunst ist also etwas Natürliches. Aber sie ist auch eine besondere Freundschaft, vor allem wenn wir an die vielen gemeinsam durchschrittenen Etappen der Geschichte denken, die zum Erbe aller gehören, der Gläubigen oder der Nicht-Glaubenden. Dessen eingedenk erwarten wir neue Früchte auch in unserer Zeit, in einer Atmo-sphäre des Hörens, der Freiheit und des Respekts. Die Menschen brauchen diese Früchte, diese besonderen Früchte.

Romano Guardini hat geschrieben, dass der Zustand des schaffenden Künstlers dem des Kindes und auch des Sehers ähnlich ist. Das scheinen mir zwei interessante Vergleiche zu sein. Seiner Ansicht nach »öffnet das Kunstwerk einen Raum, in welchen der Mensch eintreten, in dem er atmen, sich bewegen und mit den offen gewordenen Dingen und Menschen umgehen kann« (Romano Guardini, Über das Wesen des Kunstwerks, Tübingen 19659, S. 30). Das ist wahr: Wenn man in der Kunst arbeitet, dann werden die Abgrenzungen durchlässig und die Grenzen der Erfahrung und des Verstehens weiten sich. Alles erscheint offener und verfügbarer. Dann erwirbt man die Spontaneität des Kindes, das sich etwas vorstellt, und die Schärfe des Sehers, der die Realität erfasst.

Ja, der Künstler ist ein Kind, und das soll keine Beleidigung sein, denn es bedeutet, dass er sich vor allem im Raum des Erfindens, des Neuen, des Erschaffens bewegt, indem er etwas in die Welt setzt, dass man so zuvor noch nie gesehen hat. In dem er dies tut, widerlegt er die Vorstellung, dass der Mensch ein Sein zum Tode ist. Der Mensch muss seine Sterblichkeit annehmen, das ist wahr, aber er ist kein Sein zum Tode, sondern vielmehr ein Sein zum Leben. Eine große Denkerin wie Hannah Arendt sagt, dass es zum Wesen des menschlichen Seins gehört, zu leben, um Neues in die Welt zu bringen. Das ist die Dimension der Fruchtbarkeit des Menschen. Neues bringen. Auch in der natürlichen Fruchtbarkeit ist jedes Kind etwas Neues. Öffnen und Neues bringen. Sie verwirklichen dies als Künstler, indem Sie ihre Originalität geltend machen. In die Werke bringen Sie sich stets selbst ein als unwiederholbare Individuen, die wir alle sind, aber mit der Absicht, noch schöpferischer zu sein. Wenn das Talent Sie unterstützt, dann bringen Sie Noch-nie-Dagewesenes ans Licht und bereichern die Welt um eine neue Realität. Ich denke an einige Worte, die wir im Buch des Propheten Jesaja lesen, wo Gott sagt: »Siehe, nun mache ich etwas Neues. Schon sprießt es, merkt ihr es nicht?« (43,19). Und im Buch der Offenbarung steht: »Seht, ich mache alles neu« (21,5). Es scheint so zu sein, dass die Kreativität des Künstlers an der schöpferischen Leidenschaft Gottes teilhat, an dieser Leidenschaft, mit der Gott geschaffen hat. Sie sind Verbündete von Gottes Traum! Sie sind Augen, die sehen und träumen. Es reicht nicht aus, nur zu sehen, man muss auch träumen. Ein lateinamerikanischer Schriftsteller hat gesagt, dass wir, die Menschen, zwei Augen haben: eines, um das zu erblicken, was wir sehen, und das andere, um das zu sehen, was wir erträumen. Und wenn jemand nicht diese beiden Augen hat oder nur einen Teil von dem einen oder dem anderen, dann fehlt ihm etwas. Sehen, was wir träumen… Die Kreativität des Künstlers: Es reicht nicht aus, nur zu sehen, man muss träumen. Wir Menschen sehnen uns nach einer neuen Welt, die wir mit unseren Augen wahrscheinlich nicht ganz sehen, aber doch ersehnen wir sie, suchen wir sie, erträumen wir sie.

Sie haben als Künstler also die Fähigkeit, neue Versionen der Welt zu erträumen. Und das ist wichtig: neue Versionen der Welt. Die Fähigkeit, Neues in die Geschichte einzuführen. Daher sagt Guardini, dass Sie auch den Sehern ähnlich sind. Sie sind ein wenig wie die Propheten. Sie wissen die Dinge sowohl in der Tiefe als auch in der Ferne zu sehen, wie Wächter, die die Augen zusammenkneifen, um den Horizont abzusuchen und die Realität jenseits des Scheins zu ergründen. Dabei sind Sie aufgerufen, sich der suggestiven Macht jener heute weit verbreiteten vorgeblichen künstlichen und oberflächlichen Schönheit zu entziehen, die oft Komplizin wirtschaftlicher Mechanismen ist, die Ungleichheit verursachen. Diese Schönheit ist nicht anziehend, weil es eine totgeborene Schönheit ist. Dort gibt es kein Leben, sie zieht nicht an. Es ist eine vorgetäuschte, kosmetische Schönheit, eine Schminke, die verbirgt statt zu offenbaren. Auf Italienisch heißt es »trucco« [das Wort kann »Make-up« oder auch »Trick« bedeuten], weil es etwas von einem Betrug hat. Sie halten sich von dieser Schönheit fern, denn Ihre Kunst will als kritisches Bewusstsein der Gesellschaft wirken, indem sie den Schleier des Selbstverständlichen wegnimmt. Sie wollen das zeigen, was nachdenklich macht, was wachsam sein lässt, was die Realität auch mit ihren Widersprüchen offenbart, mit ihren Aspekten, die man aus Bequemlichkeit oder Opportunismus lieber verbirgt. Wie die biblischen Propheten stellen Sie uns vor Dinge, die zuweilen stören, weil sie die falschen Mythen der heutigen Zeit kritisieren, die neuen Idole, die banalen Diskurse, die Fallstricke des Konsumismus, die Umtriebe der Macht. Das ist interessant in der Psychologie, in der Persönlichkeit der Künstler: die Fähigkeit, weiter hinaus zu gehen, weiter hinaus, in der Spannung zwischen Realität und Traum.

Und häufig tun Sie dies auf ironische Weise, die eine wundervolle Tugend ist. Zwei Tugenden, die wir nicht genug pflegen: den Sinn für Humor und die Ironie. Wir müssen sie mehr pflegen. Die Bibel ist reich an ironischen Momenten, in der die Anmaßung der Selbstgenügsamkeit, die Übergriffigkeit, die Ungerechtigkeit, die Unmenschlichkeit verspottet werden, wenn sie sich in Macht und zuweilen sogar in Sakralität kleiden. Sie tun gut daran, auch Wächter der echten Religiosität zu sein, die zuweilen banalisiert oder kommerzialisiert wird. Wenn Sie Seher, Wächter und kritisches Bewusstsein sind, dann sehe ich Sie als Verbündete für viele Dinge, die mir am Herzen liegen, wie den Schutz des menschlichen Lebens, die soziale Gerechtigkeit, die Geringsten, die Sorge für das gemeinsame Haus, das Empfinden, dass wir alle Geschwister sind. Mir liegt die Menschlichkeit der Menschheit am Herzen, die menschliche Dimension des Menschen. Denn das ist auch die große Leidenschaft Gottes. Etwas, das die Kunst dem Glauben annähert, ist die Tatsache, dass sie ein wenig störend ist. Kunst und Glaube können die Dinge nicht so lassen, wie sie sind: sie verändern sie, sie verwandeln sie, sie formen sie um, sie bewegen sie. Kunst darf niemals ein Betäubungsmittel sein. Sie schenkt Frieden, aber sie schläfert die Gewissen nicht ein, sondern hält sie wach. Oft versuchen Sie als Künstler auch die Hölle, die Abgründe, die dunklen Seiten der menschlichen Situation auszuloten. Wir sind nicht nur Licht, und Sie erinnern uns daran. Aber es ist notwendig, das Licht der Hoffnung auf das Dunkel des Menschlichen, des Individualismus und der Gleichgültigkeit zu lenken. Helfen Sie uns, das Licht zu erahnen, die Schönheit, die rettet!

Kunst war immer mit der Erfahrung von Schönheit verbunden. Simone Weil hat geschrieben: »Die Schönheit verführt das Fleisch, um die Erlaubnis zu erhalten, in die Seele einzudringen« (Schwerkraft und Gnade, Berlin 2020, S. 160). Kunst berührt die Sinne, um den Geist zu beseelen, und sie tut dies durch die Schönheit, die ein Widerschein der Dinge ist, wenn diese gut, gerecht, wahr sind. Es ist ein Zeichen dafür, dass etwas eine Fülle besitzt, denn dann kommt es uns in den Sinn, dass wir spontan sagen: »Wie schön!« Die Schönheit lässt uns spüren, dass das Leben auf die Fülle ausgerichtet ist. Angesichts der wahren Schönheit beginnt man, Sehnsucht nach Gott zu empfinden. Viele hoffen, dass die Kunst wieder mehr die Schönheit frequentiert. Sicherlich gibt es, wie ich bereits gesagt habe, auch eine belanglose, eine künstliche, oberflächliche und sogar trügerische Schönheit, die Schönheit der Schminke.

Aber ich glaube, dass es ein wichtiges Unterscheidungskriterium gibt: das Kriterium der Harmonie. Denn wahre Schönheit ist ein Widerschein der Harmonie. In der Theologie – das ist interessant – beschreiben die Theologen die Vaterschaft Gottes, die Sohnschaft Jesu Christi, aber wenn es darum geht, den Heiligen Geist zu beschreiben, heißt es: der Geist ist Harmonie. »Ipse harmonia est.« Der Heilige Geist ist es, der Harmonie bewirkt. Und der Künstler hat etwas von diesem Geist, um Harmonie zu schaffen. Diese menschliche Dimension des Geistigen. Die wahre Schönheit ist also ein Widerschein der Harmonie. Sie ist, wenn ich es einmal so sagen darf, die operative Tugend der Schönheit. Es ist der ihr zugrungeliegende Geist, in dem Gottes Geist handelt, der große Schöpfer von Harmonie in der Welt. Harmonie entsteht dann, wenn es verschiedene Teile gibt, die eine Einheit bilden, verschieden in jedem Teil und verschieden in der Summe der Teile. Das ist etwas Schwieriges, das nur der Heilige Geist möglich machen kann: dass die Unterschiede nicht zu Konflikten werden, sondern Verschiedenheiten, die sich eingliedern, und dass zur selben Zeit die Einheit keine Gleichförmigkeit ist, sondern das, was vielfältig ist, beinhaltet. Die Harmonie bewirkt diese Wunder, wie an Pfingsten. Mich beeindruckt es immer, wenn ich an den Heiligen Geist als den denke, der es erlaubt, die größte Unordnung zu machen – denken wir an den Pfingstmorgen –, und der dann Harmonie schafft, die nicht Ausgleich ist, nein, um eine Harmonie herzustellen ist zuerst eine Unausgewogenheit notwendig. Harmonie ist etwas anders als Ausgeglichenheit. Wie aktuell ist doch diese Botschaft: Wir leben in einer Zeit ideologischer Kolonialisierungen in den Medien und zerreißender Konflikte; eine nivellierende Globalisierung koexistiert mit vielen sich abkapselnden Regionalismen. Das ist die Gefahr unserer Zeit. Auch die Kirche kann das spüren. Der Konflikt kann aktiv sein hinter der vorgeblichen Einforderung der Einheit, dasselbe gilt für Spaltungen, Parteiungen, verschiedene Arten des Narzissmus. Wir haben es nötig, dass das Prinzip der Harmonie in größerem Maße unsere Welt bewohnt und die Uniformität vertreibt. Sie als Künstler können uns helfen, dem Geist Raum zu geben. Wenn wir das Werk des Geistes sehen, das darin besteht, aus den Unterschieden eine Harmonie zu schaffen und sie nicht zu beseitigen, sie nicht zu vereinheitlichen, sondern sie zu harmonisieren, dann verstehen wir, was Schönheit ist. Schönheit ist jenes Werk des Geistes, der Harmonie schafft. Brüder und Schwestern, Ihre Begabung möge diesen Weg einschlagen!

Liebe Freunde, ich freue mich über diese Begegnung mit Ihnen. Bevor wir uns verabschieden, möchte ich Ihnen noch etwas sagen, das mir am Herzen liegt. Ich möchte Sie bitten, die Armen nicht zu vergessen, die »Lieblinge Christi«, in allen Arten und Weisen, auf die man heute arm sein kann. Auch die Armen brauchen die Kunst und die Schönheit. Einige erleben äußerst harte Formen der Entbehrung des Lebens, daher brauchen sie dies um so mehr. Gewöhnlich haben sie keine Stimme, um sich Gehör zu verschaffen. Sie können ein Sprachrohr ihres stummen Schreis sein.

Ich danke Ihnen und versichere Sie erneut meiner Wertschätzung. Ich wünsche Ihnen, dass Ihre Werke der Frauen und Männer dieser Erde würdig sein mögen und Gott die Ehre geben, der der Vater aller ist und den alle suchen, auch durch die Kunst. Und schließlich bitte ich Sie, für mich zu beten, auf harmonische Weise. Danke.

(Orig. ital. in O.R. 23.6.2023)