· Vatikanstadt ·

Audienz für die Teilnehmer der von »La Civiltà Cattolica« und der Georgetown-Universität veranstalteten Konferenz

Poesie ist wie ein Stachel im Herzen

 Poesie ist wie ein Stachel im Herzen  TED-025
23. Juni 2023

Liebe Brüder und Schwestern,

herzlich willkommen!

Ich begrüße und danke Pater Antonio Spadaro, Direktor von La Civiltà Cattolica, und Prof. John DeGioia, Präsident der George-town University. Ich freue mich, euch am Rande der Konferenz zu treffen, die Dichter, Schriftsteller, Drehbuchautoren und Filmemacher aus verschiedenen Teilen der Welt zum Thema der poetischen Phantasie und der katholischen Inspiration zusammenbringt. Ich weiß, dass ihr in den letzten Tagen über die Art und Weise nachgedacht habt, wie der Glaube das heutige Leben hinterfragt und somit versucht, auf den Hunger nach Sinn zu antworten. Dieser »Sinn« ist nicht auf einen Begriff reduzierbar, nein. Es handelt sich um einen Gesamtsinn, der Poesie, Symbole und Gefühle umfasst. Der wirkliche Sinn ist nicht der des Wörterbuchs: Das ist der Sinn des Wortes, und das Wort ist ein Instrument für alles, was sich in uns verbirgt.

Ich habe in meinem Leben viele Dichter und Schriftsteller geliebt, ich erinnere vor allem an Dante, Dostojewski und noch andere. Ich muss auch meinen Schülern am Colegio de la Inmaculada Concepción in Santa Fe danken, mit denen ich in jungen Jahren meine Lektüren teilte, als ich Literatur unterrichtete. Die Worte der Schriftsteller haben mir geholfen, mich selbst, die Welt und mein Volk zu verstehen, aber auch das menschliche Herz, mein persönliches Glaubensleben und sogar meine pastorale Aufgabe zu vertiefen, selbst jetzt in diesem Amt. Das literarische Wort ist also wie ein Stachel im Herzen, der zum Nachdenken anregt und uns auf den Weg bringt. Die Poesie ist offen, sie reißt dich an einen anderen Ort fort. Aus dieser persönlichen Erfahrung heraus möchte ich euch heute einige Gedanken über die Bedeutung eures Dienstes mitgeben.

Das Erste, was ich sagen möchte, ist: Ihr seid Augen, die schauen und die träumen. Nicht nur schauen, sondern auch träumen. Wir Menschen sehnen uns nach einer neuen Welt, die wir wahrscheinlich nicht vollständig mit unseren eigenen Augen sehen werden, aber wir sehnen uns danach, wir suchen sie, wir träumen von ihr. Ein lateinamerikanischer Schriftsteller sagte, dass wir zwei Augen haben: eines aus Fleisch und das andere aus Glas. Mit dem fleischlichen schauen wir auf das, was wir sehen, mit dem gläsernen schauen wir auf das, was wir träumen. Wir Armen, wenn wir aufhören zu träumen, wir Armen!

Der Dichter ist der Mensch, der mit seinen Augen schaut und gleichzeitig träumt, tiefer sieht, prophezeit, eine andere Sichtweise und ein anderes Verständnis der Dinge verkündet, die uns vor Augen stehen. In der Tat spricht die Poesie nicht aus abstrakten Prinzipien über die Wirklichkeit, sondern indem sie der Wirklichkeit selbst zuhört: der Arbeit, der Liebe, dem Tod und all den kleinen großen Dingen, die das Leben erfüllen. Und in diesem Sinne hilft sie uns, »die Stimme Gottes auch aus der Stimme der Zeit herauszuhören«.1 Sie ist – um Paul Claudel zu zitieren – ein »hörendes Auge«. Die Kunst ist ein Gegenmittel gegen die Mentalität des Kalküls und der Gleichförmigkeit; sie ist eine Herausforderung an unsere Vorstellungskraft, an unsere Art, die Dinge zu sehen und zu verstehen. Und in diesem Sinne ist das Evangelium selbst eine künstlerische Herausforderung, mit einer »revolutionären« Energie, die ihr durch euer Genie zum Ausdruck bringen sollt, mit einem Wort, das protestiert, ruft, schreit. Heute braucht die Kirche eure Ge-nialität, denn sie muss protestieren, rufen und schreien.

Aber ich möchte noch etwas Zweites sagen: Ihr seid auch die Stimme der menschlichen Unruhe. Die Unruhe ist so oft tief im Herzen vergraben. Ihr wisst sehr wohl, dass künstlerische Inspiration nicht nur tröstlich, sondern auch verstörend ist, weil sie sowohl die schönen als auch die tragischen Realitäten des Lebens zeigt. Die Kunst ist der fruchtbare Boden, auf dem die »polaren Gegensätze« der Wirklichkeit zum Ausdruck kommen, die immer eine kreative und nicht starre Sprache erfordern, die in der Lage ist, kraftvolle Botschaften und Visionen zu vermitteln. Denken wir zum Beispiel daran, wie Dostojewski in Die Brüder Karamasow von einem kleinen Kind, dem Sohn einer Dienerin, erzählt, das einen Stein wirft und die Pfote eines der Hunde seines Herrn trifft. Daraufhin hetzt der Herr alle Hunde gegen das Kind auf. Das Kind rennt weg und versucht, sich vor der Wut des Rudels zu retten, wird aber schließlich unter den zufriedenen Augen des Generals und den verzweifelten Augen seiner Mutter zerfleischt. Diese Szene hat eine enorme künstlerische und politische Kraft: Sie spricht von der Realität von gestern und heute, von Kriegen, von sozialen Konflikten, von unseren persönlichen Egoismen. Dies ist nur eine poetische Passage, die uns herausfordert.

Und ich spreche nicht nur von der Sozialkritik in dieser Passage. Ich spreche von den Spannungen innerhalb der Seele, von der Komplexität der Entscheidungen, von der Widersprüchlichkeit der Existenz. Es gibt Dinge im Leben, die wir manchmal gar nicht verstehen können oder für die wir nicht die richtigen Worte finden: Das ist euer Nährboden, euer Aktionsfeld. Und dies ist auch der Ort, an dem man oft auch Gott erfährt. Eine Erfahrung, die immer »überbordend« ist: man kann sie nicht fassen, man spürt sie und sie geht darüber hinaus; sie ist immer überbordend, die Gotteserfahrung, wie ein Becken, in das ständig Wasser fließt, und nach einer Weile füllt es sich und das Wasser fließt über, es läuft über. Das ist es, worum ich auch euch heute bitten möchte: über geschlossene und festgelegte Grenzen hinauszugehen, kreativ zu sein, ohne eure Ängste und die der Menschheit zu zähmen. Ich habe Angst vor dieser Zähmung, denn sie nimmt die Kreativität, sie nimmt die Poesie weg. Sammelt mit dem Wort der Poesie die unruhigen Sehnsüchte, die im Herzen des Menschen wohnen, damit sie nicht erkalten und erlöschen. Dieses Werk ermöglicht es dem Geist, zu handeln, Harmonie in den Spannungen und Widersprüchen des menschlichen Lebens zu schaffen, das Feuer der positiven Leidenschaften am Brennen zu halten und zum Wachstum der Schönheit in all ihren Formen beizutragen, jener Schönheit, die gerade durch den Reichtum der Künste zum Ausdruck kommt.

Das ist eure Aufgabe als Dichter, Schriftsteller, Regisseure, Künstler: all das, was die Menschen erleben, fühlen, träumen, erleiden, zum Leben erwecken, ihm einen Leib verleihen, in Worte fassen, und somit Harmonie und Schönheit zu schaffen. Es ist eine evangeliumsgemäße Arbeit, die uns hilft, auch Gott als den großen Dichter der Menschheit besser zu verstehen. Wird man euch kritisieren? Nun gut, tragt die Last der Kritik, und versucht auch, aus ihr zu lernen. Aber hört trotzdem nicht auf, originell und kreativ zu sein. Verliere nicht das Staunen darüber, lebendig zu sein.

Also, Augen die träumen, Stimme der menschlichen Unruhe; und deshalb habt ihr auch eine große Verantwortung. Und was ist das? Das ist der dritte Punkt, den ich euch sagen möchte: Ihr gehört zu denjenigen, die unsere Vorstellungskraft gestalten. Das ist wichtig. Euer Werk hat nämlich eine Auswirkung auf die geistige Vorstellungskraft der Menschen unserer Zeit, vor allem in Bezug auf die Gestalt Christi. In unserer Zeit brauchen wir – wie ich schon einmal gesagt habe – »den Genius einer neuen Sprache, von kraftvollen Geschichten und Bildern, von Schriftstellern, Dichtern, Künstlern, die fähig sind, der Welt die Botschaft des Evangeliums zu verkünden, uns Jesus sehen zu lassen«.3

Euer Werk hilft uns, Jesus zu sehen, unsere Vorstellungskraft von allem zu heilen, was sein Antlitz verdunkelt oder, noch schlimmer, von allem, was ihn zähmen will. Das Antlitz Christi zu zähmen, ihn quasi definieren zu wollen und ihn in unsere Schemata einzuschließen, bedeutet, sein Bild zu zerstören. Der Herr überrascht uns immer, Chris-tus ist immer größer, er ist immer ein Geheimnis, das sich uns irgendwie entzieht. Es ist schwer, ihn in einen Rahmen zu stecken und an die Wand zu hängen. Er überrascht uns immer, und wenn wir nicht das Gefühl haben, dass der Herr uns überrascht, dann stimmt etwas nicht: Unser Herz ist erledigt und verschlossen.

Hier liegt die Herausforderung für die katholische Vorstellungskraft unserer Zeit, die Herausforderung, die euch gestellt wird: das Geheimnis Christi, das in Wirklichkeit unerschöpflich ist, nicht zu »erklären«, sondern uns dazu zu verhelfen, ihn zu berühren, ihn in unmittelbarer Nähe zu spüren, ihn uns als lebendige Wirklichkeit zu vermitteln und uns die Schönheit seiner Verheißung begreifen zu helfen. Denn seine Verheißung hilft unserer Phantasie: Sie hilft uns, uns unser Leben, unsere Geschichte und die Zukunft der Menschheit auf neue Weise vorzustellen! Und hier komme ich auf ein anderes Meisterwerk Dostojewskis zurück, ein kleines, aber eines, das all diese Dinge in sich trägt: die Aufzeichnungen aus dem Kellerloch. Darin ist die ganze Größe der Menschheit und der ganze Kummer der Menschheit, alles Elend, vereint. Das ist der Weg.

Liebe Freunde, ich danke euch für euren Dienst. Träumt weiter, bleibt ruhelos, denkt euch weiter Worte und Visionen aus, die uns helfen, das Geheimnis des menschlichen Lebens zu deuten und unsere Gesellschaften auf Schönheit und universelle Geschwisterlichkeit hin auszurichten. Helft uns weiterhin, unsere Vorstellungskraft zu entfalten, damit sie über die engen Grenzen des eigenen Ichs hinausgehen und sich dem heiligen Geheimnis Gottes öffnen kann. Geh voran, ohne zu ermüden, mit Kreativität und Mut! Ich segne euch und bete für euch; bitte betet auch ihr für mich. Danke.

Fußnoten

1 K. Rahner, La libertà di parola nella Chiesa. Le proposte del cristianesimo, Turin, Borla, 1964, 37.

2 Vgl. R. Guardini, Der Gegensatz: Versuche zu einer Philosophie des Lebendig-Konkreten, Mainz 1925.

3 »Vorwort«, in: A. Spadaro, Una trama divina. Gesù in controcampo, Venedig 2023, S. 10.

(Orig. ital. in O.R. 27.5.2023)