Liebe Brüder und Schwestern!
»Mögen Gerechtigkeit und Frieden strömen« – so lautet das diesjährige Thema der Ökumenischen Zeit der Schöpfung, das von den Worten des Propheten Amos inspiriert ist: »Das Recht ströme wie Wasser, die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach« (5,24).
Das ausdrucksstarke Bild aus dem Buch Amos sagt uns, was Gott ersehnt. Gott will, dass Gerechtigkeit regiert; sie ist für unser Leben als Kinder nach dem Bilde Gottes so wichtig, wie es das Wasser für unser körperliches Überleben ist. Diese Gerechtigkeit muss dort hervortreten, wo sie nötig ist, sie darf weder zu tief unter der Erde verborgen bleiben noch verschwinden wie verdunstendes Wasser, bevor es uns Stärkung geben kann. Gott möchte, dass alle danach streben, in jeder Situation gerecht zu sein, nach seinen Gesetzen zu leben und so zu ermöglichen, dass das Leben gedeihen kann. Wenn wir zuerst nach dem Reich Gottes streben (vgl. Mt 6,33) und eine rechte Beziehung zu Gott, zu den Mitmenschen und zur Natur pflegen, dann können Gerechtigkeit und Frieden strömen wie ein unerschöpflicher Strom reinen Wassers, der die Menschheit und alle Geschöpfe nährt.
An einem schönen Sommertag im Juli 2022, während meiner Pilgerreise zu den Ufern des Sankt-Anna-Sees in der Provinz Alberta, Kanada, dachte ich über diese Themen nach. Dieser See ist ein Wallfahrtsort für viele Generationen von Ureinwohnern gewesen. Umrahmt vom Schlagen der Trommeln, sagte ich: »Wie viele Menschenherzen sind hierhergekommen, sehnsüchtig und außer Atem, von der Last des Lebens niedergedrückt, und haben an diesem Wasser Trost und Kraft gefunden, um weiterzugehen! Auch hier, inmitten der Schöpfung, können wir einen anderen Schlag hören, den mütterlichen Herzschlag der Erde. Und so wie der Herzschlag der Kinder vom Mutterleib an mit dem ihrer Mütter harmoniert, müssen wir, um als Menschen zu wachsen, die Rhythmen des Lebens mit denen der Schöpfung, die uns das Leben schenkt, in Einklang bringen.«1
Lasst uns während dieser Zeit der Schöpfung bei diesen Herzschlägen verweilen: unseren eigenen, denen unserer Mütter und Großmütter, dem Herzschlag der Schöpfung und dem Herzschlag Gottes. Heute schlagen sie nicht in Harmonie, sie schlagen nicht im Einklang der Gerechtigkeit und des Friedens. Zu vielen Menschen wird es verwehrt, aus diesem mächtigen Fluss zu trinken. Folgen wir daher dem Aufruf, uns an die Seite der Opfer von Umwelt- und Klimaungerechtigkeit zu stellen und diesen sinnlosen Krieg gegen die Schöpfung zu beenden.
Wir sehen die Auswirkungen dieses Krieges an den vielen Flüssen, die austrocknen. »Die äußeren Wüsten wachsen in der Welt, weil die inneren Wüsten so groß geworden sind«, hat Benedikt XVI. einmal gesagt.2 Konsumistische Gier, die von egoistischen Herzen genährt wird, bringt den Wasserkreislauf des Planeten durcheinander. Die ungezügelte Verbrennung fossiler Brennstoffe und die Abholzung der Wälder lassen die Temperaturen steigen und verursachen große Dürre. Beängstigende Wasserknappheit befällt zunehmend sowohl kleine ländliche Gemeinden als auch großen Metropolen. Darüber hinaus erschöpfen und verschmutzen rücksichtslose Industrien unsere Trinkwasserquellen durch extreme Praktiken wie Fracking zur Öl- und Gasförderung, unkontrollierte Mega-Bergbauprojekte und Intensivtierhaltung. »Schwester Wasser«, wie der heilige Franziskus es nennt, wird geplündert und »in Ware verwandelt und den Gesetzen des Marktes unterworfen« (Enzyklika Laudato si’, 30).
Der Zwischenstaatliche Ausschuss für Klimaänderungen der Vereinten Nationen
(IPCC) stellt fest, dass nur ein unverzügliches Handeln zugunsten des Klimas gewährleisten kann, dass wir weiterhin die Möglichkeit haben, eine nachhaltigere und gerechtere Welt zu schaffen. Wir können, wir müssen verhindern, dass das Schlimmste eintritt. »Es gibt so vieles, was man tun kann!« (ebd., 180), wenn wir uns – wie viele Wasserläufe und Bäche – am Ende zu einem mächtigen Fluss vereinen, um das Leben unseres wunderbaren Planeten und unserer Menschheitsfamilie für die kommenden Generationen zu bewässern. Reichen wir uns die Hände und unternehmen wir mutige Schritte, damit Gerechtigkeit und Frieden die ganze Welt durchströmen.
Wie können wir in dieser Zeit der Schöpfung zu dem mächtigen Fluss der Gerechtigkeit und des Friedens beitragen? Was können wir tun, insbesondere als christliche Kirchen, um unser gemeinsames Haus zu sanieren, damit es wieder vor Leben wimmeln kann? Wir müssen uns entschließen, unsere Herzen, unseren Lebensstil und die Arten von Politik, die unsere Gesellschaften bestimmen, zu verändern.
Einen ersten Beitrag zu diesem mächtigen Fluss leisten wir, wenn wir unsere Herzen verwandeln. Das ist wesentlich für jede weitere Veränderung. Es ist jene »ökologische Umkehr«, zu der uns der heilige Johannes Paul II. ermutigt hat: Die Erneuerung unserer Beziehung zur Schöpfung, so dass wir sie nicht mehr als ein Objekt ansehen, das man ausbeutet, sondern sie als heiliges Geschenk unseres Schöpfers bewahren. Darüber hinaus sollten wir begreifen, dass ein ganzheitlicher Ansatz eine vierfache ökologische Achtsamkeit erfordert: gegenüber Gott, gegenüber unseren Brüdern und Schwestern von heute und morgen, gegenüber der gesamten Natur und gegenüber uns selbst.
Was die erste dieser Dimensionen betrifft, so hat Papst Benedikt XVI. von der dringenden Notwendigkeit gesprochen, zu erkennen, dass Schöpfung und Erlösung untrennbar miteinander verbunden sind: »Der Erlöser ist der Schöpfer, und wenn wir Gott nicht in dieser ganzen Größe verkünden – Schöpfer und Erlöser –, dann reduzieren wir auch die Erlösung«.3 Die Schöpfung bezieht sich sowohl auf Gottes geheimnisvolles, großartiges Werk, die Schöpfung dieses majestätischen, wunderschönen Planeten und dieses Universums aus dem Nichts, als auch auf das Ergebnis dieses Wirkens, das weiterhin im Gange ist und das wir als unerschöpfliches Geschenk erleben. Denken wir während der Liturgie und beim persönlichen Gebet in der »großen Kathedrale der Schöpfung«4 an den großen Künstler, der so viel Schönheit erschafft, und sinnen wir nach über das Geheimnis dieser liebevollen Entscheidung, den Kosmos zu erschaffen.
Lasst uns, zweitens, zum Fluss dieses mächtigen Stroms beitragen, indem wir unseren Lebensstil ändern. Ausgehend von der dankbaren Bewunderung des Schöpfers und seiner Schöpfung, sollten wir unsere »ökologischen Sünden« bereuen, wie mein Bruder, der Ökumenische Patriarch Bartholomaios, gesagt hat. Diese Sünden schaden der Natur und auch unseren Brüdern und unseren Schwes-tern. Lasst uns mit der Hilfe und der Gnade Gottes einen Lebensstil annehmen, der durch weniger Abfall und weniger unnötigen Konsum gekennzeichnet ist, insbesondere dort, wo die Produktionsprozesse giftig und nicht nachhaltig sind. Versuchen wir so gut wie möglich auf unsere Gewohnheiten und wirtschaftlichen Entscheidungen zu achten, damit es allen bessergeht – unseren Mitmenschen, wo immer sie auch sein mögen, und auch den künftigen Generationen. Lasst uns durch positive Entscheidungen an Gottes fortwährender Schöpfung mitwirken: indem wir Ressourcen möglichst maßvoll und mit heiterer Nüchternheit nutzen, Abfälle entsorgen und recyceln und stärker verfügbare Produkte und Dienstleistungen nutzen, die ökologisch und sozial verantwortbar sind.
Schließlich müssen wir, damit der mächtige Fluss weiter fließen kann, die Politik ändern, die unsere Gesellschaften bestimmt und das Leben der jungen Menschen von heute und morgen prägt. Eine Wirtschaftspolitik, die skandalösen Reichtum für einige wenige Privilegierte und unwürdige Bedingungen für viele andere fördert, bedeutet das Ende von Frieden und Gerechtigkeit. Es ist offensichtlich, dass die reicheren Nationen eine »ökologische Schuld« angehäuft haben, die bezahlt werden muss (vgl. Laudato si’, 51).5 Die Staats- und Regierungschefs, die vom 30. November bis zum 12. Dezember zum COP28-Gipfel in Dubai zusammenkommen, müssen auf die Wissenschaft hören und einen schnellen und gerechten Übergang einleiten, um die Ära der fossilen Brennstoffe zu beenden. Gemäß den im Pariser Abkommen eingegangenen Verpflichtungen zur Eindämmung der globalen Erwärmung ist es absurd, die weitere Erkundung und den Ausbau von Infrastrukturen für fossile Brennstoffe zuzulassen. Erheben wir unsere Stimme, um diese Ungerechtigkeit den Armen und unseren Kindern gegenüber zu stoppen, die am meis-ten unter den Auswirkungen des Klimawandels leiden werden. Ich appelliere an alle Menschen guten Willens, ihr Handeln nach diesen Überlegungen zu Gesellschaft und Natur auszurichten.
Eine andere parallele Perspektive hat insbesondere mit dem Einsatz der katholischen Kirche für Synodalität zu tun. In diesem Jahr fällt der Abschluss der Zeit der Schöpfung am 4. Oktober, dem Fest des heiligen Franziskus, mit der Eröffnung der Synode zur Synodalität zusammen. Ebenso wie die Flüsse in der Natur, die von unzähligen kleinen Bächen und größeren Wasserläufen gespeist werden, lädt der synodale Prozess, der im Oktober 2021 begonnen hat, alle, die auf persönlicher oder gemeinschaftlicher Ebene daran teilnehmen, dazu ein, in einen majestätischen Strom der Reflexion und Erneuerung einzugehen. Das ganze Volk Gottes wird mitgenommen auf einen Weg des synodalen Dialogs und synodaler Umkehr.
Die Kirche ist, wie ein Flussbecken mit seinen vielen kleinen und größeren Zuflüssen, eine Gemeinschaft unzähliger Ortskirchen, religiöser Gemeinschaften und Vereinigungen, die von demselben Wasser gespeist werden. Jede Quelle leistet ihren einzigartigen und unersetzlichen Beitrag, bis alle in den weiten Ozean der liebenden Barmherzigkeit Gottes einmünden. Wie ein Fluss für seine Umgebung eine Quelle des Lebens ist, so soll unsere synodale Kirche eine Quelle des Lebens für unser gemeinsames Haus und alle seine Bewohner sein. Und wie ein Fluss allen Arten von Tieren und Pflanzen Leben schenkt, so soll eine synodale Kirche Leben spenden, indem sie an jedem Ort, den sie erreicht, Gerechtigkeit und Frieden aussät.
In Kanada erinnerte ich im Juli 2022 an den See Gennesaret, wo Jesus vielen Menschen Heilung und Trost brachte und »eine Revolution der Liebe« ausgerufen hatte. Der Sankt-Anna-See, so erfuhr ich, ist auch ein Ort der Heilung, des Trostes und der Liebe, dieser Ort »erinnert uns daran, dass die Geschwisterlichkeit echt ist, wenn sie diejenigen vereint, die weit voneinander entfernt sind, dass die Botschaft der Einheit, die der Himmel auf
die Erde sendet, keine Angst vor Verschiedenheiten hat und uns zur Gemeinschaft einlädt, zur Gemeinschaft der Unter-schiede, um gemeinsam wieder aufzubrechen, weil wir alle – alle! – Pilger auf dem Weg sind«.6
Lasst uns in dieser Zeit der Schöpfung als Jünger Christi auf unserem gemeinsamen synodalen Weg leben, arbeiten und beten, dass unser gemeinsames Haus neu mit Leben erfüllt wird. Möge der Heilige Geist wieder über den Wassern schweben und uns anleiten, »das Angesicht der Erde zu erneuern« (vgl. Ps 104,30).
Rom, Sankt Johannes im Lateran,
13. Mai 2023
Fußnoten
1 Homilie am Sankt-Anna-See, Kanada, 26. Juli 2022.
2 Homilie in der Heiligen Messe zur Amts-einführung, 24. April 2005.
3 Begegnung von Benedikt XVI. mit Pries-tern, Diakonen und Seminaristen aus Südtirol, 6 August 2008.
4 Botschaft zum Weltgebetstag für die Bewahrung der Schöpfung, 16. Juli 2022.
5 »Denn es gibt eine wirkliche ›ökologische Schuld‹ – besonders zwischen dem Norden und dem Süden – im Zusammenhang mit Ungleichgewichten im Handel und deren Konsequenzen im ökologischen Bereich wie auch mit dem im Laufe der Geschichte von einigen Ländern praktizierten unproportionierten Verbrauch der natürlichen Ressourcen« (Laudato si’, 51).
6 Homilie am Sankt-Anna-See, Kanada, 26. Juli 2022.