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FRAUEN KIRCHE WELT

Merkzettel
Anselmi, die katholische Politikerin, die bei allem die Erste war

Was die Frauen Tina schulden

 Quello che le donne debbono a Tina  DCM-006
03. Juni 2023

Tina Anselmi, eine Katholikin, die die Politik liebt. Eine Frau, die keine Angst vor der Welt der Männer hat. So kommt es, dass sie sich im italienischen Befreiungskrieg auf die Seite der Partisanen schlägt, mit kaum 17 Jahren macht sie die Meldegängerin mit der Aufgabe, die Verbindungen zwischen den verschiedenen Partisanenbrigaden sicherzustellen, setzt ihr Leben aufs Spiel.

Dass sie als Gewerkschaftlerin in einer rückschrittlichen und herrschsüchtigen Region wie Venezien mit Mut und Selbstaufopferung die Arbeiterinnen, die allerärmsten und am meisten diskriminierten aller Arbeitnehmer, in einer schutz- und rechtlosen Arbeitswelt verteidigt.

Dass sie zu einer Zeit Abgeordnete der Republik wird, als es nur sehr wenige Frauen im Parlament und noch keine »Frauenquote« gab, um sie zu beschützen.

Dass sie es fertigbringt, eine wichtige Rolle in der größten italienischen Partei, der Democrazia cristiana, einzunehmen, die in ihrem Inneren nur extrem wenige Vertreterinnen des anderen Geschlechts aufzuweisen hat. Und dass sie von den vielen Männern, die in der Partei und im Land Macht ausüben, angehört uns geschätzt wird.

Tina Anselmi ist keine »Feministin«, aber sie ist sich von Jugend an der Grenzen der von den Männern gemachten Politik bewusst. »Dank dessen, was die Männer wussten, haben wir den Krieg und den Faschismus gehabt«, antwortet sie denen, die unterstellen, dass die Politik keine Frauensache sei.

Es kommt auch dazu, dass sie die erste »Frau auf einem Ministerposten« wird, in einer Republik, die, nachdem sie gegründet wurde auf der Grundlage einer Verfassung, die die Gleichberechtigung der Geschlechter festschreibt, auch dreißig Jahre nach ihrer Gründung noch keiner einzigen Frau die Leitung eines Ministeriums anvertraut hatte. Sie aber schafft es.

Und es kommt (was in der Tat eine Seltenheit ist) dazu, dass die Politik mit der Gewerkschaftlerin übereinstimmt, und dass sie als »Arbeitsminister« (es war noch nicht üblich, bei öffentlichen Ämtern die weibliche Form zu verwenden) in Italien - wo die Lohngleichheit zwischen Männern und Frauen noch weit entfernt ist, wo es möglich ist, eine Frau zu entlassen, wenn sie heiratet, und wo die Diskriminierung bereits im Klassenzimmer beginnt - 1977 ein Gesetz zur Chancengleichheit einbringt. Und im Folgejahr, nachdem sie »Gesundheitsminister« geworden ist, das Gesetz über das Nationale Gesundheitswesen.

All das war Tina Anselmi: Eine 1927 geborene Frau, die in der italienischen Republik Geschichte geschrieben hat, eine Frau voller Mut, zutiefst gläubig, die aber trotzdem ihr politisches Wirken am Säkularitätsprinzip ausrichtete. In ihrer Eigenschaft als Gesundheitsminister unterzeichnete sie 1978 das Gesetz 194 über den freiwilligen Schwangerschaftsabbruch.

Und all das und noch vieles andere wird in dem ihr gewidmeten Film Una vita per la democrazia (»Ein Leben für die Demokratie«) nacherzählt, der vom italienischen Fernsehsender Rai 1 ausgestrahlt wurde, der Regisseur war Luciano Manuzzi, während Tinas Rolle von der Schauspielerin Sarah Felberbaum gespielt wurde.

Ein Film, der Aufmerksamkeit, Sorgfalt und Interesse demonstriert. Und gerechtfertigte Neugier auf eine Frau, die ganz allein alle Stereotypen kippt, die in den 70er-Jahren immer noch sehr aktuell sind und das ohne Geschrei und offensichtliche Rebellionen tut. Sondern durch Aktion, mit Überzeugung, mit Entschlossenheit, in der Gewissheit, im Recht zu sein.

Tina Anselmi hat wichtige Positionen in der Regierung des Landes wie auch in der Partei innegehabt, die in jenen Geburtsjahren des Feminismus der Dreh- und Angelpunkt jener Regierung war, als die Frauen die Straßen und die Plätze eroberten und Freiheit und Rechte einforderten. Der Film (und das ist schade) sagt uns nicht, was Tina von diesen Bewegungen und Forderungen hielt. Wir wissen aber, dass sie Gesetze zu Bildung, Arbeit und Gesundheitswesen einbrachte, die ihnen in der Tat halfen. »Die Gesetze müssen Vorreiter der Gesellschaft sein«, sagte sie. Bei ihrer Arbeit begleiten sie deren Wandel. Und sie wissen, wie sie nach Lösungen zu suchen haben.

Die Konkretheit dieser Frau, ihre Feinfühligkeit als Katholikin und ihre Kompetenzen als Politikerin führten dazu, dass es nach vierzehn Jahren ermüdender Diskussionen zur Reform des Gesundheitswesens kam. »Die Gesundheit ist das Allerwichtigste, und sie ist und sollte für alle gleich sein«, sagte sie, während sie gegen Bürokratie und Pharma-Firmen ankämpfte. Polarstern dieses Kampfes, der unser Land bis heute im Hinblick auf die öffentliche Verwaltung des Gesundheitswesens eines der besten sein lässt, ist die Gleichstellung. Der Markt der Gesundheit - so erwidert sie denen, die Rechenschaft über die Reform verlangen – ist asymmetrisch, der Kranke ist schwach, die Pharmakonzerne sehr stark. Diese Asymmetrie muss durch das Gewicht der Entscheidungen des Staates ausgeglichen werden. Durch ein Gesetz, das die Gesundheitsversorgung zum grundlegenden öffentlichen Gut erklärt.

Sodann wird »la Tina«, wie sie in ihrem Venezien weiterhin liebevoll gerufen wird, zur unbeugsamen Gegnerin der okkulten Mächte und wird Vorsitzende der Kommission P2, des Untersuchungsausschusses über die 1981 entdeckte und als geheime und subversive Vereinigung eingestufte Freimaurerloge. Erneut als einzige Frau gegen Männer, die in aller Stille, in einem Vakuum und auch mit der Komplizenschaft der Institutionen die gefährlichen Komplotte gestrickt haben, die zur Aushöhlung der Demokratie führen. Tina entdeckt eine okkulte Welt, die von einer mächtigen Gruppe unterstützt wird. Und realisiert, dass »die Politik« keineswegs nur das ist, woran sie geglaubt hatte. Die Gegner sind nicht nur jene, die sie im Parlament und in den Institutionen sieht, sie kämpfen nicht mit offenem Visier. »Die Demokratie ist die schönste, aber auch die mühsamste Regierungsform, die es gibt«, folgert sie.

Sie wusste es zwar schon immer, aber nach ihrem Vorsitz der Untersuchungskommission zur Loge P2 ist sie dann vollends davon überzeugt. Eben deshalb macht sie weiter. Konkret, fleißig, unnachgiebig. Bis zu ihrem Rücktritt, wieder heim in Castelfranco Veneto, einige Zeit noch als Abgeordnete, dann ab 1992 als einfache Bürgerin.

In ihrem Leben – wie auch im Film über ihr Leben – scheinen das Gebet, der Glaube, die Beziehung zum Transzendentalen völlig zu fehlen. Wir sehen nur die Szene einer Messe und ein Kreuzzeichen. Erst das Mädchen und dann die Frau, die Politikerin, bewegen sich immer in der Immanenz, in der Wirklichkeit, im Dienst, in der Konkretheit der zu erledigenden Aufgaben. Seien es nun Aktionen als Partisanin, die Entscheidungen der Partei oder die Entscheidungen für das Land. Und dabei war »die Politikerin Anselmi« Katholikin, überzeugte Katholikin, und es ist unmöglich, den Wert und den Sinn ihres Lebens zu verstehen, ohne dies zu berücksichtigen. Ohne der tiefen Verbindung nachzugehen, die es zwischen ihrem Gläubig-Sein, ihrem Frau-Sein und ihrem politischen Handeln gab. Ohne das zu sehen, was im Gegenlicht erscheint, gleichwohl aber ihre Existenz beleuchtet.

In den 89 Jahren ihres Lebens – sie starb 2016 – bricht diese Verbindung niemals ab. Der Glaube hat es nicht nötig, proklamiert zu werden, er zeigt sich in den Werken, auch jenen der Regierungstätigkeit. Ihre Identität als Frau durchdringt ihr ganzes Dasein als Politikerin. Auch ohne Feminismus. Tina Anselmi bewegt sich allein in der Welt der Männer. Aber sie bleibt sie selbst und bringt es sogar fertig, diese Welt zu verändern. Vielleicht kann sie nicht mehr als Vorbild dienen, aber es ist keine bloße Rhetorik, zu sagen, dass die Nacherzählung ihres Lebens auch heute noch bereichert. Und für die Zukunft hilfreich ist.

Von Ritanna Armeni