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FRAUEN KIRCHE WELT

Santa Maria Maggiore, das allerälteste Marienheiligtum

Die von der Mutter Gottes gewünschte Kirche

 La chiesa voluta  dalla madre di Dio  DCM-006
03. Juni 2023

Du kehrst dem römischen Verkehr und dem kosmopolitischen Chaos der nahegelegenen Stazione Termini den Rücken, gehst durch den Metalldetektor und tauchst dann in den stillen und feierlichen Halbschatten in Santa Maria Maggiore ein. Als Allererstes fällt dir die Reihe von mehrsprachigen Beichtstühlen auf, die die beiden Seitenschiffe säumen und für jede Art von Beichtkindernzur Verfügung stehen: Englisch-Italienisch, Italienisch-Polnisch, Spanisch-Französisch, Deutsch, Portugiesisch… Die Hinweisschilder sind eindeutig, keiner riskiert, beim falschen Gesprächspartner zu landen, und die Sünder stellen sich in der Schlange an. Der Wunsch nach Spiritualität mischt sich mit der Kunstbetrachtung, der intimen Beziehung zu Gott und der überwältigenden Schönheit. Einmal abgesehen von den unvermeidlichen Selfies, Führungen und Stopps vor den Schätzen der Basilika, die auf jeder Touristenkarte verzeichnet sind, kommen die Menschen hierher, um zu beten. Unter dem Vorzeichen der Marienverehrung, die ununterbrochen mit Hilfe von Messfeiern, Begegnungen, Katechese-Zyklen verbreitet und gefördert wird. Die Besucher, mehr Gläubige als Touristen, die nicht vergessen, Gläubige zu sein, die alljährlich zu Tausenden von allen Ecken und Enden der Welt kommen und diese wahrlich besondere Kirche in jedem beliebigen Augenblick des Jahres füllen: sie ist das größte der Muttergottes geweihte Heiligtum des Westens und zugleich auch die älteste päpstliche Basilika, die auf direkte Inspiration von Maria errichtet wurde, die 358 n. Chr. Papst Liberius und dem römischen Patrizier Johannes erschien und darum bat, dass ihr an dem Ort, den sie selbst auf wundersame Weiseanzeigen werde, ein Tempel errichtet werden sollte. Das Wunder bestand in einem außerplanmäßigen Schneefall, der am 5. August genau hier, auf dem Esquilin-Hügel, erfolgte, und an den seitdem alljährlich an eben diesem Datum durch das Verstreuen weißer Blumen erinnert wird.

Wir befinden uns also an einer Kultstätte, die Respekt verdient, nicht in einem x-beliebigen Museum. Und schließlich wird sich dessen auch die französische Dame bewusst, die, als sie dabei überrascht wird, sich vor der Borghese-Kapelle am Handy zu unterhalten, von Don Ivan Ricupero, dem unermüdlichen Zeremonienmeister, höflich dazu aufgefordert wird zu schweigen. »Es sind viele Leute da, die eben zu dem Zweck herkommen, sich zu sammeln; in letzter Zeit hat die kollektive Religiosität in einem Umfang zugenommen«, erläutert der Priester, »der über den Besuch der Wunderwerke der katechetischen Kunst hinausgeht, in diese Kirche einzutreten heißt, eine spirituelle Reise anzutreten.« Und vielleicht unterscheidet sich Santa Maria Maggiore gerade deshalb von den anderen drei päpstlichen Basiliken, die Pflichtetappen jedweder Sightseeing-Tour in Rom darstellen: die nahegelegene Basilika St. Johann im Lateran, Sankt Peter und Sankt Paul vor den Mauern.

Hier drängen sich immer viele Menschen, und um den Besuchern die Pracht der Kosmaten-Mosaiken zu zeigen, die den Fußboden schmücken, wurden die Sitzbänke des Hauptschiffs entfernt. Samstags und an Festtagen werden sie wieder für die Messfeiern aufgestellt, zu denen vor allem die Römer kommen, deren Referenzkirche Santa Maria Maggiore ist. Und im Gegensatz zu den Touristen lassen sie sich mittlerweile nicht mehr sonderlich von den Wunderwerken beeindrucken, die sie bestens kennen, so etwa von dem majestätischen vergoldeten Thron hinter dem Hauptaltar in der Mitte der Apsis, der einst Papst Pius XII. geschenkt und dann von Paul VI. der Basilika gestiftet worden war. Die Woche über mischen sich die ortsansässigen Gläubigen mit den aus aller Herren Länder, auch aus Australien, Korea, Lateinamerika, kommenden Gruppen, aber die Mehrheit stellen die Spanier. Dem König von Spanien wird von alters her der Titel eines Honorarkanonikers verliehen. Felipe VI., der seit 2014 auf dem Thron sitzt, ist noch nicht gekommen, um den Titel verliehen zu bekommen, aber in der Zwischenzeit haben sein Vater Juan Carlos und dessen Gattin Doña Sofia die Beleuchtungsinstallation der Basilika gestiftet und, wie ein Schild vor der Sakristei informiert, am 19. Januar 2018 an der Einweihungsfeier teilgenommen.

Heute drängt sich die übliche Menschenmenge vor der Cesi-Kapelle und bis zur Kreuzigungs-Kapelle, vom vergoldeten Baptisterium mit Deckel von Valadier bis hin zur im 14. Jahrhundert von Arnolfo di Cambio geschaffenen Krippe, von einer Ikone zu einer Statue. Ohne die Heilige Pforte zu vergessen, ein Werk des Bildhauers Luigi Enzo Mattei, die bereit steht, sich zum Heiligen Jahr 2025 zu öffnen: »Wir sind bereits an der Arbeit, um die Pilger willkommen zu heißen, es werden Tausende aus aller Welt sein, dabei werden uns Freiwillige helfen«, erläutert Don Ivan.

Nach der Hälfte des Rundgangs sondert sich ein blondes kleines Mädchen von seiner Klasse ab und lässt sich erschöpft auf dem Sockel einer Säule nieder. Im selben Augenblick reinigt eine Restauratorin, die auf dem kostbaren Fußboden kniet, mit einem Pinsel das Gittertor aus Messing, das in die der Geburt Christi geweihten Krypta führt, in der in einem goldenen Schrein die wohl allerberühmteste Reliquie aufbewahrt wird, die von Besuchern bestürmt wird, die sich zu bestimmten Zeiten wie in einem Bus zur Hauptverkehrszeit drängen und Schlange stehen, um hinabzusteigen: fünf Holzstücke von der Krippe des Jesuskindes, die zusammen mit seiner Tuchreliquie und den Kreuzreliquien eine der Hauptattraktionen der Basilika darstellen. Hier werden auch Reliquien der Heiligen Matthäus, Matthias, Andreas, Hieronymus, Zacharias und Lukas aufbewahrt. Und hier befindet sich die hochberühmte byzantinische Ikone Salus populi Romani, bekannt als Madonna der Römer, die seit 1613 in der Cappella Paolina ausgestellt ist und von den Päpsten bei Gelegenheit jeder Apostolischen Reise sowie am 8. Dezember vor der Huldigung vor der Säule der Unbefleckten Empfängnis an der Piazza di Spagna besucht wird: Papst Franziskus war bereits 107 Mal da, das vorletzte Mal ganz überraschend im vergangenen April nach seiner Entlassung aus dem Gemelli-Krankenhaus, wo er sich stationär aufgehalten hatte, und dann aus Anlass seiner Ungarn-Reise. Unendlich viele Menschen zieht, insbesondere in diesen von Angst erfüllten Zeiten, die von Benedikt XV. am Ende des Ersten Weltkriegs in Auftrag gegebene Statue der Maria Regina Pacis an, die heute bestürzend aktuell ist. Sie stellt die Jungfrau mit ausgestreckter Hand dar, fast als wolle sie den Schrecken aller Kriege Einhalt gebieten, während das Kind in ihren Armen einer Taube einen Olivenzweig hinstreckt, die bereit ist ihn zu packen.

Eine Gruppe von Polen versammelt sich vor der Statue zum Gebet. »Maria, befreie uns vom Krieg«, flüstert eine Frau. Sie heißt Elzbieta und verspricht, aus Anlass des Schneefalls am 5. August in die Basilika zurückzukommen, wenn vom vierten der 105 vergoldeten Kassetten der Decke, da, wo sich das Hypogäum befindet, dreitausend weiße Dahlienblätter herabregnen werden.  Traditionell werden sie von den holländischen Blumenzüchtern gestiftet und eine nach der anderen von den Suore di Maria Sempre Vergine, den Schwestern von der Immerwährenden Jungfräulichkeit Marias, entblättert, der Gemeinschaft, die sich gemeinsam mit den Franziskanerpatres der Unbefleckten Jungfrau Maria, die sich um die Sakristei kümmern, der Basilika annehmen. »Der Schneefall im Sommer ist ein Wunder, das sich immer wieder neu vollzieht, das dürfen wir nicht verpassen«, erläutert Elzbieta ihren Reisegefährten. Neben ihr sammelt sich eine Römerin in Stille: Sie bittet die Jungfrau um Hilfe, vielleicht ein Wunder, für ihren kranken Sohn.

In Santa Maria Maggiore sind einige Päpste beigesetzt: Paul V., Clemens VIII., Pius V., Sixtus V., nach dem die Sixtinische Kapelle benannt ist, deren es auch hier eine gibt. Und hier ist auch das Grab der Paolina Borghese, der Schwester Napoleons. Die Reihe der Kunstschätze wird vervollständigt durch das Museum, das die Krippe des Arnolfo di Cambio beherbergt, außerdem haben die Ausgrabungen, die in den 1960er- und 1970er-Jahren vorgenommen wurden, hier die Überreste einer römischen Villa aus dem 2. oder 3. Jahrhundert n. Chr. freigelegt, und dann ist da die St.-Michaels-Kapelle, die sich eines uralten Fußbodens und einer von Piero della Francesca mit Fresken ausgestatteten Decke rühmen kann: sie ist das einzige frei zugängliche Werk dieses Künstlers in Rom. Es gibt aber auch ein Sicherheitsproblem, das mittlerweile überall da relevant geworden ist, wo ein großer Zustrom von Menschen herrscht. Der Detektor wurde 2015 installiert. Eklatante Akte des Vandalismus wie jener der Beschädigung der Pietà des Michelangelo, die vor über 50 Jahren im Petersdom erfolgte, gab es hier nie zu verzeichnen. Aber es wird erzählt, dass in den letzten Jahren ein Geistesgestörter versucht habe, einen Engel des Hauptaltars zu beschädigen, aber das Schlimmste wurde dank der in großer Zahl aber unsichtbar angebrachten Überwachungskameras verhindert, die die Kirche unter Kontrolle halten.

Ein auf dieser Welt einzigartiger Ort, wo sich die Bewunderung für die Wunderwerke der Kunst, die der Mensch geschaffen hat, ständig mit dem Sinn für das Heilige und die Verehrung Marias als greifbare Präsenz vermischt. Auch in den Augen der südamerikanischen Touristin, die von ihren Reisegefährten fast schon weggeschleppt werden muss. Wenn es nach ihr ginge, würde sie bis zum Äußersten bleiben, um zur Madonna der Römer zu beten: »Sie beschützt diese Stadt«, so erläutert sie, »und ist ein Licht für die ganze Welt.«

Von Gloria Satta