Liebe Brüder und Schwestern!
Die Migrationsströme unserer Tage sind Ausdruck eines komplexen und vielschichtigen Phänomens, dessen Verständnis eine sorgfältige Analyse aller Aspekte erfordert, die die verschiedenen Phasen einer Migration kennzeichnen, vom Aufbruch bis zur Ankunft, ein-schließlich einer eventuellen Rückkehr. In der Absicht, zu diesem Bemühen, die Realität zu verstehen, beizutragen, habe ich beschlossen, die Botschaft zum 109. Welttag des Migranten und des Flüchtlings der Freiheit zu widmen, die die Entscheidung, das eigene Land zu verlassen, immer kennzeichnen sollte.
»Frei zu gehen, frei zu bleiben« lautete der Titel einer Solidaritätsinitiative, die vor einigen Jahren von der Italienischen Bischofskonferenz als konkrete Antwort auf die Herausforderungen der heutigen Migration auf den Weg gebracht wurde. Und im beständigen Hören auf die Teilkirchen konnte ich feststellen, dass die Gewährleistung dieser Freiheit ein weit verbreitetes und gemeinsames pastorales Anliegen ist.
»Da erschien dem Josef im Traum ein Engel des Herrn und sagte: Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter und flieh nach Ägypten; dort bleibe, bis ich dir etwas anderes auftrage; denn Herodes wird das Kind suchen, um es zu töten« (Mt 2,13). Die Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten ist nicht das Ergebnis einer freien Entscheidung, so wie viele der Wanderungen, die die Geschichte des Volkes Israel gekennzeichnet haben, nicht freiwillig waren. Migration sollte immer eine freie Entscheidung sein, aber in vielen Fällen ist sie das auch heute noch nicht. Konflikte, Naturkatastrophen oder ganz einfach die Unmöglichkeit, in der Heimat ein würdiges und gedeihliches Leben zu führen, zwingen Millionen von Menschen zum Weggehen. Bereits 2003 erklärte der heilige Johannes Paul II.: »Im Blick auf die Migranten und Flüchtlinge konkrete Friedensbedingungen zu schaffen, bedeutet vor allem, sich ernsthaft für das Recht auf Sesshaftigkeit einzusetzen, also für das Recht, in Frieden und Würde in der eigenen Heimat zu leben« (Botschaft zum 90. Welttag der Migranten und Flüchtlinge, 3).
»Sie nahmen ihr Vieh und ihre Habe, die sie im Land Kanaan erworben hatten, und gelangten nach Ägypten, Jakob und mit ihm alle seine Nachkommen« (Gen 46,6). Eine schwere Hungersnot zwang Jakob und seine ganze Familie, nach Ägypten zu fliehen, wo sein Sohn Josef ihr Überleben gesichert hatte. Verfolgungen, Kriege, Wetterphänomene und Elend gehören zu den offensichtlichsten Ursachen heutiger Zwangsmigration. Migranten fliehen aus Armut, aus Angst, aus Verzweiflung. Um diese Ursachen zu beseitigen und damit der erzwungenen Migration ein Ende zu setzen, brauchen wir das gemeinsame Engagement aller, eines jeden, entsprechend seiner Verantwortung. Ein Engagement, das damit beginnt, dass wir uns fragen, was wir tun können, aber auch, was wir nicht mehr tun dürfen. Wir müssen uns bemühen, das Wettrüsten, den wirtschaftlichen Kolonialismus, den Raub der Ressourcen anderer und die Zerstörung unseres gemeinsamen Hauses zu beenden.
»Alle, die glaubten, waren an demselben Ort und hatten alles gemeinsam. Sie verkauften Hab und Gut und teilten davon allen zu, jedem so viel, wie er nötig hatte« (Apg 2,44-45). Das Ideal der ersten christlichen Gemeinschaft scheint so weit von der heutigen Realität entfernt zu sein! Um die Migration zu einer wirklich freien Entscheidung zu machen, braucht es das Bemühen, allen einen gerechten Anteil am Gemeinwohl, die Achtung der Grundrechte und den Zugang zu einer ganzheitlichen menschlichen Entwicklung zu gewährleisten. Nur so können wir einem jeden die Chance bieten, in Würde zu leben und sich persönlich und als Familie zu verwirklichen. Es ist klar, dass die Hauptaufgabe bei den Herkunftsländern und ihren Regierenden liegt, die aufgerufen sind, eine gute, transparente, ehrliche und weitsichtige Politik im Dienste aller, insbesondere der Schwächsten, zu betreiben. Sie müssen jedoch in die Lage versetzt werden, dies zu tun, ohne dass sie ihrer Natur- und Humanressourcen beraubt werden und ohne Einmischung von außen, welche die Interessen einiger weniger begünstigt. Und dort, wo die Umstände es erlauben zu wählen, ob man auswandert oder bleibt, muss sichergestellt werden, dass diese Entscheidung mit dem nötigen Wissen und wohlüberlegt getroffen wird, um zu verhindern, dass viele Männer, Frauen und Kinder risikoreichen Illusionen oder skrupellosen Menschenhändlern zum Opfer fallen.
»In diesem Jubeljahr soll jeder von euch zu seinem Besitz zurückkehren« (Lev 25,13). Die Feier des Jubeljahres stellte für das Volk Israel einen Akt kollektiver Gerechtigkeit dar: Alle konnten »in die ursprüngliche Situation zurückkehren. Jede Schuld wurde erlassen, Grund und Boden zurückgegeben, man
konnte sich wieder der den Gliedern des Volkes Gottes eigenen Freiheit erfreuen« (Katechese, 10. Februar 2016). Da wir uns dem Jubiläums-jahr 2025 nähern, ist es gut, sich an diesen Aspekt der Jubiläumsfeiern zu erinnern. Es bedarf einer gemeinsamen Anstrengung der einzelnen Länder und der internationalen Gemeinschaft, damit allen das Recht garantiert werden kann, nicht auszuwandern zu müssen, das heißt die Möglichkeit, in Frieden und in Würde im eigenen Land zu leben. Dieses Recht ist noch nicht kodifiziert, ist aber von grundlegender Bedeutung, und seine Gewährleistung ist als Bestandteil der Mitverantwortung aller Staaten für ein Gemeinwohl zu begreifen, das über die nationalen Grenzen hinausgeht. Da die Ressourcen der Welt nicht unbegrenzt sind, hängt die Entwicklung der wirtschaftlich ärmeren Länder in der Tat davon ab, ob es gelingt, unter den Völkern die Fähigkeit zum gegenseitigen Teilen zu erwecken. Solange dieses Recht nicht gewährleistet ist – und bis dahin ist es noch ein langer Weg –, werden noch viele auf der Suche nach einem besseren Leben auswandern müssen.
»Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen« (Mt 25,35-36). Diese Worte erklingen als eine beständige Mahnung, in dem Migranten nicht nur einen Bruder oder eine Schwester in Not zu erkennen, sondern Chris-tus selbst, der an unsere Tür klopft. Wenn wir uns also dafür einsetzen, dass jede Migration die Frucht einer freien Entscheidung sein kann, sind wir aufgerufen, die Würde jedes Migranten in höchstem Maße zu achten; das bedeutet, die Migrationsbewegungen so gut wie möglich zu begleiten und zu lenken, indem wir Brücken und nicht Mauern bauen und die Wege für eine sichere und reguläre Migration erweitern. Wo auch immer wir uns entscheiden, unsere Zukunft aufzubauen, in unserem Geburtsland oder anderswo, wichtig ist, dass es dort immer eine Gemeinschaft gibt, die bereit ist, alle aufzunehmen, zu schützen, zu fördern und zu integrieren, ohne Unterschied und ohne jemanden außen vor zu lassen.
Der Weg der Synodalität, auf den wir uns als Kirche begeben haben, lässt uns in den verletzlichsten Menschen – und unter ihnen viele Migranten und Flüchtlinge – besondere Weggefährten sehen, die wir als Brüder und Schwestern lieben und für die wir Sorge tragen müssen. Nur wenn wir gemeinsam gehen, werden wir weiter vorankommen und das gemeinsame Ziel unserer Reise erreichen.
Rom, St. Johannes im Lateran,
11. Mai 2023