Botschaft von Papst Franziskus an die Teilnehmer des Internationalen Kongresses WOOMB: 70 Jahre »Billings-Revolution«

Eine integrierte und ganzheitliche Sicht der menschlichen Sexualität

 Eine  integrierte und ganzheitliche Sicht  der menschlichen Sexualität  TED-020
19. Mai 2023

Vor 70 Jahren hat das australische Ärzte-ehepaar John und Evelyn Billings eine natürliche Methode zur Bestimmung der fruchtbaren und unfruchtbaren Zeit im weiblichen Zyklus entwickelt. Am 28. und 29. April versammelten sich Ärzte, Psychologen, Studenten und Ehepaare, die die Billings-Methode anwenden oder unterrichten am römischen Sitz der Universität vom Heiligsten Herzen zu einem großen internationalen Kongress. Papst Franziskus richtete die folgende Botschaft an die Teilnehmer:

Liebe Brüder und Schwestern!

Gerne lasse ich den Organisatoren und allen Teilnehmern am Internationalen Kongress WOOMB: 70 Jahre »Billings-Revolution«: vom Wissen um die Fruchtbarkeit zur personalisierten Medizin meinen Gruß zukommen. Ich möchte meiner aufrichtigen Wertschätzung für diese Initiative Ausdruck verleihen, die die Aufmerksamkeit auf die Schönheit und den Wert der menschlichen Sexualität lenkt.

Während in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts die pharmakologische Forschung zur Kontrolle der Fruchtbarkeit entwickelt wurde und sich die Kultur der Verhütung ausbreitete, hat das Ehepaar John und Evelyn Billings sorgfältige wissenschaftliche Forschungen durchgeführt und im Hinblick auf ein natürliches Wissen um die Fruchtbarkeit eine einfache Methode verbreitet, die verfügbar ist für Frauen und Ehepaare. Damit boten sie ein wertvolles Mittel an für einen verantwortungsvollen Umgang mit Entscheidungen hinsichtlich der Fortpflanzung. In jenen Jahren erschien ihr Vorschlag wenig modern und weniger zuverlässig zu sein als die vorgebliche Unmittelbarkeit und Sicherheit der pharmakologischen Mittel. In Wirklichkeit bot und bietet sie immer noch aktuellen, grundlegenden Anlass und Stoff zum Nachdenken, was neu aufzugreifen und zu vertiefen wäre: zum Beispiel die Erziehung in Bezug auf die Bedeutung der Körperlichkeit, eine integrierte und ganzheitliche Sicht der menschlichen Sexualität, die Verwirklichung der Fruchtbarkeit der Liebe auch in Zeiten der Unfruchtbarkeit, die Kultur der Annahme des Lebens und das Problem des demographischen Wandels mit dem Einbruch der Geburtenraten. In dieser Hinsicht hat das, was als »Billings-Revolution« bezeichnet wurde, den Anfangsimpuls noch nicht erschöpft, sondern stellt weiterhin eine Ressource dar für das Verstehen der menschlichen Sexualität ebenso wie für die volle Wertschätzung der Aspekte der ehelichen Beziehung und Fruchtbarkeit.

Eine solide Bildung in diesem Sinne scheint heute dringend notwendig zu sein, in einer Welt, die von einer relativistischen und banalen Sicht der menschlichen Sexualität beherrscht wird. Diese muss vielmehr unter anthropologischem und ethischem Gesichtspunkt betrachtet werden, wobei Fragen der Lehre ohne unzulässige Vereinfachungen oder strikte Verengungen vertieft werden sollen. Insbesondere ist es gut, sich stets der unlösbaren Verknüpfung der beiden Sinngehalte – liebende Vereinigung und Fortpflanzung – des ehelichen Aktes bewusst zu sein (vgl. hl. Paul VI., Enzyklika Humanae vitae, 12). Ers-terer ist Ausdruck des Wunsches der Eheleute, eins, ein Leben zu sein; letzterer bringt den gemeinsamen Willen zum Ausdruck, Leben zu zeugen, der auch in Zeiten der Unfruchtbarkeit und im Alter erhalten bleibt. Wenn diese beiden Sinngehalte bewusst bejaht werden, entsteht und verstärkt sich im Herzen der Eheleute die Großherzigkeit der Liebe, die sie bereit macht, ein neues Leben anzunehmen. Fehlt dies, verarmt die Erfahrung der Sexualität, sie beschränkt sich auf die Gefühle, die sehr schnell selbstbezogen werden, und sie verliert ihre menschliche Dimension sowie den Aspekt der Verantwortlichkeit. Die Tragödie der Gewalt zwischen Sexualpartnern – ich denke an die Plage des Femizids – hat hier eine ihrer Hauptursachen.

In der Tat ist man dabei, die Verbindung zwischen der Sexualität und der grundlegenden Berufung jedes Menschen zur Selbsthingabe, die eine besondere Verwirklichung in der ehelichen und familiären Liebe findet, aus den Augen zu verlieren. Diese Wahrheit ist zwar in das Herz des Menschen eingeschrieben, aber sie setzt, um umfassend zum Ausdruck zu kommen, einen Prozess der Bildung und Erziehung voraus. Es handelt sich um eine Dringlichkeit, die die Kirche sowie all jene herausfordert, denen das Wohl der Menschen und der Gesellschaft am Herzen liegt, und die konkrete, kreative und mutige Antworten verlangt, wie das in Amoris laetitia in Bezug auf die Sexualerziehung betont wird: »Die Körpersprache verlangt eine geduldige Lehrzeit, die ermöglicht, das eigene Verlangen zu deuten und zu erziehen, um sich wirklich hinzugeben. Wenn man alles auf einmal hingeben will, ist es möglich, dass man gar nichts hingibt. Verständnis zu haben für die Schwachheiten oder Verwirrungen der Heranwachsenden ist etwas anderes, als sie zu ermutigen, die Unreife ihrer Art zu lieben in die Länge zu ziehen. Doch wer spricht heute über diese Dinge? Wer ist fähig, die jungen Menschen ernst zu nehmen? Wer hilft ihnen, sich ernsthaft auf eine große und großherzige Liebe vorzubereiten?« (Nr. 284). Nach der sogenannten sexuellen Revolution, die Tabus eingerissen hat, ist eine neue Revolution der Mentalität notwendig: beim Blättern im großen Buch der Natur die Schönheit der menschlichen Sexualität zu entdecken und im Hinblick auf echte Erfahrungen familiärer Liebe den Wert des Leibes und der Weitergabe des Lebens respektieren zu lernen.

Ein weiterer Aspekt der Sexualität ist nicht weniger reich an Herausforderungen für unsere Zeit. Sie besteht genau in dieser Beziehung zur Weitergabe des Lebens. Denn das Wissen um die Fruchtbarkeit hat nicht nur einen allgemein erzieherischen Wert, sondern hat noch mehr Bedeutung in dem Augenblick, wo das Paar sich entscheidet, sich für Kinder zu öffnen. Die Billings-Methode ist neben anderen ähnlichen Methoden eine der geeignetsten Formen, um in verantwortlicher Weise den Wunsch zu verwirklichen, Eltern zu werden. Heute hat die ideologische, praktische Trennung der sexuellen Beziehung von ihrer potentiellen Fruchtbarkeit zur Suche nach alternativen Formen zur Erfüllung des Kinderwunsches geführt, die den Weg nicht mehr über die eheliche Beziehung nehmen, sondern sich künstlicher Prozesse bedienen.

Während es gut ist, den berechtigten Wunsch der Fortpflanzung mit den moderns-ten wissenschaftlichen Kenntnissen und mit Techniken zur Behandlung und Potenzierung der Fruchtbarkeit zu unterstützen und so Hilfe zu leisten, ist es nicht gut, Embryonen im Reagenzglas zu erzeugen und sie dann zu vernichten, mit Keimzellen Handel zu betreiben und sich der Praxis der Leihmutterschaft zu bedienen. Zu den Ursachen der aktuellen demographischen Krise gehört neben unterschiedlichen gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren auch eine Diskrepanz in der Sichtweise der Sexualität, und nicht zufällig ist die Billings-Methode auch eine Ressource, um auf natürliche Weise die Probleme der Unfruchtbarkeit zu behandeln und den Ehegatten zu helfen, mit Hilfe des Bestimmens der fruchtbaren Phasen Eltern zu werden. In diesem Bereich könnte eine bessere Kenntnis der Prozesse der Weitergabe des Lebens, das sich auf die modernen wissenschaftlichen Errungenschaften stützt, vielen Ehepaaren helfen, Entscheidungen zu treffen, die bewuss-ter und in ethischer Hinsicht die menschliche Person und ihren Wert respektieren.

Das ist eine Aufgabe, derer sich die katholischen Universitäten mit erneuertem Engagement annehmen müssen, insbesondere die medizinischen und chirurgischen Fakultäten. Wie es für das Ehepaar Billings grundlegend wichtig war, an der medizinischen Fakultät der Universität von Melbourne zu praktizieren, so ist es auch wichtig, dass das Studien- und Forschungszentrum für natürliche Regelung der Fruchtbarkeit, das seit 1976 an der Katholischen Universität vom Heiligen Herzen besteht, Teil eines der angesehensten Hochschulzentren Italiens ist und von den fortschrittlichsten wissenschaftlichen Kenntnissen profitieren kann, um seine Mission der Forschung und Bildung zu erfüllen.

Im Übrigen zeigt die wissenschaftliche Perspektive dieses internationalen Kongresses, wie grundlegend wichtig es ist, der Besonderheit jedes Ehepaares und jeder Person Aufmerksamkeit zu schenken, vor allem der Frau. Der Horizont der personalisierten Medizin erinnert uns daran, dass jeder Mensch einzigartig und unwiederholbar ist und dass ihm – noch bevor er aufgrund von Fehlfunktionen oder Krankheit Gegenstand der Behandlung ist – geholfen werden muss, in
bester Weise sein Potential zum Ausdruck zu bringen, mit Blick auf jenes Wohlergehen, das vor allem die Frucht einer Harmonie des Lebens ist.

Das Wissen über Fruchtbarkeit und natürliche Methoden zu fördern hat schließlich auch einen hohen pastoralen Wert, insofern es den Eheleuten hilft, sich ihrer ehelichen Berufung bewusster zu sein und Zeugnis zu geben von den im Evangelium verankerten Werten in Bezug auf die menschliche Sexualität. Ein Beweis für diese Bedeutsamkeit ist auch die hohe Teilnehmerzahl an diesem Kongress, bei dem Personen aus vielen Ländern und allen Kontinenten in Rom (oder über Videoschaltung) versammelt sind. Das positive Feedback, das ihren zuweilen in sehr schwierigen sozialen und kulturellen Umfeldern gesammelten Erfahrungen zu entnehmen ist, bestätigt, wie wichtig es ist, in diesem Bereich beharrlich und engagiert zu arbeiten, um die Würde der Frau ebenso zu fördern wie eine von der Annahme des Lebens geprägte Kultur – Werte, die im Übrigen auch von anderen Religionen geteilt werden.

Es handelt sich dabei um einen keineswegs sekundären Aspekt der Familienpastoral, wie meine Vorgänger gelehrt haben und wie auch ich in Amoris laetitia gesagt habe: »In diesem Sinn gilt es, die Enzyklika Hu-manae vitae (vgl. 10-14) und das Apostolische Schreiben Familiaris consortio (vgl. 14, 28-35) wiederzuentdecken« (Nr. 222). Die Anwendung der auf den natürlichen Fruchtbarkeitsrhythmus gestützten Methoden soll unterstützt werden, denn sie »achten den Leib der Eheleute, ermutigen diese zur Zärtlichkeit und begünstigen die Erziehung zu echter Freiheit« (Katechismus der Katholischen Kirche, 2370).

Meine Lieben, ich wünsche euch erfolgreiche Arbeit und danke euch für das, was ihr tut. Setzt mit Leidenschaft und Großherzigkeit diesen wertvollen Dienst an der kirchlichen Gemeinschaft und an allen fort, die die menschlichen Werte der Sexualität vertiefen wollen. Wir müssen uns stets bewusst sein, dass in diesem Bereich des Lebens der Ursegen Gottes besonders hell erstrahlt (vgl. Gen 1,26-30) und dass wir berufen sind, ihm auch in diesem Bereich die Ehre zu geben, wie der heilige Paulus mahnt: »Verherrlicht also Gott in eurem Leib!« (1 Kor 6,20). Ich segne euch von Herzen und bitte euch, für mich zu beten.

Rom, St. Johannes im Lateran,

24. April 2023

(Orig. ital. in O.R. 28.4.2023)