Audienz für die Teilnehmer an der Vollversammlung von Caritas Internationalis

Echte missionarische Umkehr

 Echte missionarische Umkehr  TED-020
19. Mai 2023

Liebe Brüder und Schwestern!

Angesichts der Gräuel und Verwüstungen durch den Zweiten Weltkrieg wollte der ehrwürdige Papst Pius XII. die Sorge und Fürsorge der ganzen Kirche gegenüber der Menschheitsfamilie zum Ausdruck bringen, gegen-über den vielen Situationen, in denen das Leben von Männern, Frauen, Kindern und alten Menschen im Streben nach einer ganzheitlichen menschlichen Entwicklung durch das Toben kriegerischer Auseinandersetzungen bedroht und behindert wird. Von einem prophetischen Geist bewegt, sprach er sich für die Schaffung einer Institution aus, welche die Zusammenarbeit der zahlreichen bereits existierenden karitativen Organisationen unterstützen, koordinieren und vermehren sollte, Organisationen, durch die die universale Kirche in Wort und Tat die Liebe Gottes und die besondere Liebe Christi zu den Armen, Letzten, Ausgegrenzten verkündete und bezeugte.

Der heilige Johannes Paul II. wollte die enge Verbindung betonen, die Caritas Internationalis von Anfang an mit den Hirten der Kirche und insbesondere dem Nachfolger Petri verband, der in der universalen Gemeinschaft den Vorsitz in der Liebe führt.1 Dies tat er vor allem mit dem Verweis auf die Quelle der Liebe zur Kirche: die Hingabe, mit der Christus sich selbst beim Letzten Abendmahl den Seinen geschenkt hat.

Wir dürfen nie vergessen, dass am Ursprung all unserer karitativen und sozialen Tätigkeiten Christus steht: »Da er die Seinen liebte, die in der Welt waren, liebte er sie bis zur Vollendung« (Joh 13,1). Im Sakrament der Eucharistie – Zeichen der lebendigen, realen und fortwährenden Gegenwart Christi, der sich für uns hingibt, der uns zuerst liebt, ohne eine Gegenleistung zu verlangen – »kommt der Herr dem als Abbild Gottes (vgl. Gen 1,27) geschaffenen Menschen entgegen und wird sein Weggefährte«.2

Die Eucharistie ist für den Menschen. Als Speise und Trank stärkt sie uns auf dem Weg, schenkt uns Erholung in den Mühen, hebt uns vom Fallen auf, ruft uns auf, für uns und zu unserem Heil frei das Ganze Gottes anzunehmen.

Vor diesem großen und unaussprechlichen Geheimnis, vor dieser bedingungslosen, überreichen Gabe, zu der Christus sich selbst aus Liebe gemacht hat, erfüllt uns Staunen, und zuweilen sind wir überwältigt. Wie die Juden, die die Worte des Petrus am Pfingstfest mitten ins Herz trafen, müssen auch wir uns fragen: »Was sollen wir tun, Brüder?« (Apg 2,37).

Wir können in das freudige und alles übersteigende Geheimnis der »Rückerstattung« eintreten, des dankbaren, anerkennenden Gedächtnisses, das uns Gott Dank sagen lässt in der Entscheidung, den Blick auf den leidenden Bruder zu richten, der Fürsorge braucht, der unsere Hilfe braucht, um seine Würde als Kind wiederzufinden, der »nicht um einen vergänglichen Preis losgekauft wurde […], sondern mit dem kostbaren Blut Christi«
(1 Petr 1,18-19).

Wir können die Liebe erwidern, die Gott zu uns hat, indem wir für die anderen Zeichen und Werkzeug werden. Es gibt keine bessere Art und Weise, Gott zu zeigen, dass wir die Bedeutung der Eucharistie verstanden haben, als den anderen das zu geben, was wir empfangen haben. Das ist ein Weg, die echte Bedeutung von Tradition zu verstehen: Wenn wir als Antwort auf die Liebe Christi selbst zur Gabe für die anderen werden, dann verkünden wir den Tod und die Auferstehung des Herrn, bis er kommt (vgl. 1 Kor 11,26).

Es ist wichtig, zur Quelle zurückzukehren, der Liebe Gottes zu uns, weil die Identität von Caritas Internationalis auf direkte Weise von der Sendung abhängig ist, die sie empfangen hat. Was sie von den anderen Hilfswerken unterscheidet, die im sozialen Bereich tätig sind, das ist ihre kirchliche Berufung. Und was ihren Dienst innerhalb der Kirche gegenüber den vielen karitativen kirchlichen Einrichtungen und Vereinigungen auszeichnet, das ist ihre Aufgabe, den Bischöfen in der Ausübung der pastoralen Caritas helfend zur Seite zu stehen, in Gemeinschaft mit dem Apostolischen Stuhl und im Einklang mit dem kirchlichen Lehramt. Ich danke euch für eure derzeitige Arbeit im Hinblick auf brüderliche Partnerschaft und Zusammenarbeit als Grundpfeiler der katholischen Identität der Caritas, und ich fordere euch auf, diesen Weg fortzusetzen.

Um euch zu ermutigen, euer Engagement im Dienst an der Nächstenliebe großherzig und mit neuer Hoffnung fortzusetzen, möchte ich euch einladen, das nachsynodale Apostolische Schreiben Amoris laetitia nochmals aufmerksam zu lesen. Insbesondere das vierte Kapitel enthält, wenn es sich auch auf das Leben in Ehe und Familie bezieht, Anregungen, die nützlich sein können, um der Arbeit, die euch in Zukunft erwartet, Orientierung zu verleihen und eurer Mission neue Impulse zu geben.

Im Brief an die Christen in Korinth sagt der heilige Paulus, dass die Liebe der »überragende Weg« (1 Kor 12,31) ist, um Gott zu erkennen und das Wesentliche des christlichen Weges zu verstehen. Im berühmten Hohelied der Liebe präzisiert der Apostel, dass beim Fehlen der Liebe alles Handeln seinen Sinn verliert: Die äußere Form bleibt, aber nicht die Wirklichkeit. Auch die außergewöhnlichsten Taten, die heroischste Großherzigkeit, sogar das Verschenken der gesamten Habe, um sie den Hungernden zu geben (vgl. 1 Kor 13,3), ist ohne die Liebe nichts wert.

Ohne das Bekenntnis des Glaubens an den Vater, der Ursprung alles Guten ist; ohne die Erfahrung der Freundschaft mit Christus, der der Welt das Antlitz der dreifaltigen Liebe gezeigt hat; ohne die Führung des Heiligen Geis-tes, der die Geschichte der Menschheit zum Leben in Fülle lenkt (Joh 10,10), bleibt nur der äußere Schein. Nicht mehr das Gute, sondern nur ein Anschein des Guten.

Dann wird man leicht das Ziel der diaconia, zu der wir berufen sind, aus den Augen verlieren: die Freude des Evangeliums, Einheit, Gerechtigkeit und Frieden zu bringen. Und leicht wird man der weltlichen Logik folgen, die dazu verleitet, sich im pragmatischen Aktivismus und in den Partikularismen zu verlieren, die den Leib der Kirche zerreißen.

Die Liebe ist es, die uns sein lässt. Wenn wir die Liebe Gottes annehmen und wir in Ihm lieben, schöpfen wir aus der Wahrheit dessen, was wir sind, als Einzelpersonen und als Kirche, und wir verstehen zutiefst den Sinn unserer Existenz. Wir verstehen nicht nur die wichtige Bedeutung unseres Lebens, sondern auch, wie wertvoll das Leben der anderen ist. Wir sehen ganz klar, dass jedes Leben unverzichtbar ist und in den Augen Gottes als Wunder erscheint.

Die Liebe öffnet uns die Augen, weitet unseren Blick, erlaubt uns im Fremden, dem wir auf unserem Weg begegnen, das Antlitz eines Bruders zu erkennen, mit einem Namen, einer Geschichte, einem Drama, angesichts dessen wir nicht gleichgültig bleiben können. Im Licht der Liebe Gottes tritt die Physiognomie des anderen aus dem Schatten, tritt aus der Unbedeutendheit heraus und gewinnt Wert, Bedeutung. Die Nöte des Nächsten sind eine Anfrage an uns, holen uns aus unserer Bequemlichkeit, führen uns zur Herausforderung der Verantwortlichkeit. Und in eben diesem Licht der Liebe finden wir auch die Kraft und den Mut, auf das Übel, das den anderen bedrückt, zu antworten, persönlich zu antworten, mit unserem Namen, unserem Herzen dafür einzustehen und unsere Ärmel hochzukrempeln. Die Liebe Gottes lässt uns das Gewicht der Menschlichkeit des anderen wahrnehmen als »sanftes Joch« und »leichte Last« (Mt 11,30). Das veranlasst uns, die Wunden, die wir an seinem Leib sehen, so zu spüren, als wären es unsere eigenen, und wir werden gedrängt, den Balsam der Geschwis-terlichkeit auf die unsichtbaren Wunden zu gießen, die wir in den filigranen Zeichen der Seele des anderen sehen.

Willst du wissen, ob ein Christ die Nächs-tenliebe lebt?

Dann schau, ob er bereitwillig hilft, mit einem Lächeln auf den Lippen, ohne Murren und Zorn. Die Liebe ist langmütig, schreibt Paulus, und die Langmut ist die Fähigkeit, unerwartete Prüfungen, die täglichen Mühen zu ertragen, ohne die Freude und das Vertrauen in Gott zu verlieren. Daher ist sie das Ergebnis einer langen Anstrengung des Geistes, bei der man lernt, sich selbst zu
beherrschen und sich der eigenen Grenzen bewusst zu werden. Es ist eine Weise, wie man zu sich selbst steht, aus der dann jene Reife in den Beziehungen hervorgeht, die uns dazu führt anzuerkennen, »dass der andere genauso ein Recht hat, auf dieser Erde zu leben, gemeinsam mit mir und so wie er ist« (Amoris laetitia, 92). Die Selbstbezogenheit ebenso hinter sich zu lassen wie die Einstellung, bei der wir das, was wir für uns selbst wollen, als das Zentrum betrachten, um das sich alles dreht – um den Preis, den anderen unsere Wünsche aufzuzwingen –, das erfordert von uns nicht nur, die Tyrannei des Egozentrismus zu besiegen, sondern auch die dynamische, kreative Fähigkeit, die Qualitäten und Charismen der anderen hervortreten zu lassen.

In diesem Sinne die Liebe zu leben bedeutet, großherzig zu sein, wohlwollend, indem wir zum Beispiel anerkennen, dass es notwendig ist, dem anderen »Raum zu geben«, wenn man konstruktiv zusammenarbeiten will. Das tun wir, wenn wir uns dem Dialog und dem Zuhören öffnen, indem wir Meinungen, die anders sind als unsere eigenen, flexibel akzeptieren, ohne uns auf unsere Position zu versteifen, sondern indem wir vielmehr Begegnungspunkte suchen, einen Weg der Vermittlung.

Der Christ, der immer in die Liebe Gottes eingetaucht lebt, hegt keinen Neid, weil »in der Liebe kein Platz ist für Gefühle des Unbehagens gegenüber dem Wohl des anderen« (Amoris laetitia, 95).

Er prahlt nicht und bläht sich nicht auf, weil er einen Sinn für das Maß hat, und er gefällt sich nicht darin, sich über den Nächsten zu stellen, sondern er begegnet dem anderen mit Achtung und Feingefühl, mit Freundlichkeit und Erbarmen, unter Berücksichtigung seiner Schwächen. Er pflegt in seinem Inneren die Demut, »denn um die anderen von Herzen verstehen, sie entschuldigen oder ihnen dienen zu können, ist es unerlässlich, den Stolz zu heilen« (Amoris laetitia, 98).

Er sucht nicht seinen eigenen Vorteil, sondern setzt sich dafür ein, das Wohl des anderen zu fördern, und ihn in seinem Bemühen zu unterstützen, es zu erreichen.

Er trägt das Böse nicht nach und verbreitet auch nicht durch Klatsch das von anderen begangene Unrecht, sondern er vertraut diskret und in der Stille alles Gott an, ohne zu richten.

Die Liebe deckt alles zu, sagt Paulus, nicht damit die Wahrheit verborgen wird, an der sich der Christ vielmehr stets erfreut, sondern damit die Sünde und der Sünder voneinander unterschieden werden, so dass die eine verurteilt und der andere gerettet wird. Die Liebe entschuldigt alles, damit wir alle Trost finden können in der barmherzigen Umarmung des Vaters und bekleidet werden mit seiner Vergebung.

Paulus schließt seinen »Lobgesang auf die Liebe« mit der Aussage, dass sie größer ist als Glaube und Hoffnung, weil sie der überragende Weg ist, um zu Gott zu gelangen. Was der Apostel sagt, ist äußerst wahr. Während Glaube und Hoffnung »provisorische Gaben« sind – das heißt, sie sind an unsere Situation des Auf-dem-Weg-Seins geknüpft, als Pilger auf dieser Erde –, ist die Liebe eine »definitive Gabe«, ein Unterpfand und eine Vorwegnahme der letzten Zeiten, des Reiches Gottes. Daher wird alles andere vergehen, aber die Liebe niemals aufhören. Das Gute, das man im Namen Gottes tut, ist der gute Teil von uns, der nicht ausgelöscht, der nicht verloren gehen wird. Das Gericht Gottes über die Geschichte betrifft das Heute der Liebe, die Unterscheidung dessen, was wir in seinem Namen für die anderen getan haben.

Wie Jesus verheißt, wird es der Gewinn des ewigen Lebens sein: »Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, empfangt das Reich als Erbe, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist« (Mt 25,34).

Caritas Internationalis war gedacht und gewollt als Ausdruck der kirchlichen Gemeinschaft, der innerkirchlichen Agape, um deren Mittel und Ausdruck zu sein, indem sie zwischen der universalen Kirche und den Teilkirchen vermittelt und dabei den Einsatz des gesamten Gottesvolkes in der Übung der Liebe unterstützt.

Eure Aufgabe ist es vor allem, zur Aussaat in der universalen Kirche beizutragen durch die Verkündigung des Evangeliums mit guten Werken. Es geht nicht nur darum, Projekte und Strategien zu initiieren, die sich als er-folgreich erweisen sollen, die Effizienz verheißen, sondern sich selbst in einem konstanten und kontinuierlichen Prozess missionarischer Umkehr zu verstehen. Es bedeutet, zu zeigen, dass das Evangelium »die Antwort auf die
tiefsten Erwartungen des Menschen darstellt: auf seine Würde und auf die vollkommene Verwirklichung in der Gegenseitigkeit, in der Gemeinschaft und in der Fruchtbarkeit« (Amoris laetitia, 201). Daher ist es keineswegs zweitrangig, an die enge Verbindung zwischen dem Weg persönlicher Heiligkeit und der kirchlichen missionarischen Umkehr zu erinnern: Wer für die Caritas arbeitet, ist aufgerufen, gegenüber der Welt Zeugnis zu geben von dieser Liebe. Seid missionarische Jünger, lebt in der Nachfolge Jesu!

Zweitens seid ihr aufgerufen, die Ortskirchen bei ihrem tätigen Einsatz in der pastoralen Liebe zu begleiten. Sorgt dafür, kompetente Personen auszubilden, die in der Lage sind, die Botschaft der Kirche in das politische und gesellschaftliche Leben zu tragen. Die Herausforderung eines verantwortlichen und reifen Laienstands ist aktueller denn je, weil seine Präsenz sich auf all jene Bereiche erstreckt, die das Leben der Armen direkt berühren. Sie sind es, die mit kreativer Freiheit das mütterliche Herz und die Sorge der Kirche für soziale Gerechtigkeit zum Ausdruck bringen können, indem sie sich in der mühevollen Aufgabe engagieren, ungerechte soziale Strukturen zu
verändern und das Glück der menschlichen Person zu fördern.

Abschließend möchte ich euch die Einheit ans Herz legen. Euer Zusammenschluss besteht aus vielen Identitäten: Lebt die Unterschiedlichkeit als Reichtum, die Pluralität als Ressource. Übertrefft euch in gegenseitiger Achtung, indem ihr die Konflikte zu Austausch und Wachstum beitragen lasst und nicht zur Spaltung.

Ich bitte Maria, die Mutter der Kirche, um ihre Fürsprache, und während ich euch bitte, für mich zu beten, rufe ich gerne den Segen des Herrn herab auf euch und auf alle, die euch bei eurem Werk unterstützen.

Fußnoten

1 Schreiben von Johannes Paul II. Beim Letzten Abendmahl, 16. September 2004, 2.

2 Benedikt XVI., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Sacramentum caritatis, 2.

(Orig. ital. in O.R. 11.5.2023)