Begegnung mit der Welt der Wissenschaft und der Kultur an der Katholischen Péter-Pázmány-Universität

Wie das Leben lebendig bleiben kann

 Wie das Leben lebendig bleiben kann  TED-019
12. Mai 2023

Liebe Brüder und Schwestern,

guten Tag!

Ich grüße jeden Einzelnen von euch und danke euch für die schönen Worte, die gesagt worden sind und auf die ich gleich noch eingehen werde. Dies ist das letzte Treffen während meines Besuchs in Ungarn, und ich denke dankbaren Herzens gern an den Lauf der Donau, die dieses Land mit vielen anderen verbindet, nicht nur geographisch, sondern auch geschichtlich. Die Kultur ist in gewisser Weise wie ein großer Fluss: Sie verbindet, und sie fließt durch verschiedene Regionen des Lebens und der Geschichte und setzt sie miteinander in Beziehung, sie ermöglicht es, sich in der Welt zurechtzufinden und ferne Länder und Gegenden zu umfassen, sie stillt den Durst des Geistes, bewässert die Seele und lässt die Gesellschaft wachsen. Das Wort Kultur selbst leitet sich von dem Verb kultivieren ab: Das Wissen bringt eine tägliche Aussaat mit sich, es trägt Früchte, wenn es in die Ackerfurchen der Wirklichkeit hineinfällt.

Vor einhundert Jahren hatte Romano Guar-dini, ein großer Intellektueller und Mann des Glaubens, inmitten einer aufgrund der Schönheit ihrer Gewässer einzigartigen Landschaft, eine fruchtbare kulturelle Erkenntnis. Er schrieb: »Dieser Tage ist mir so deutlich zu Bewusstsein gekommen, dass es zwei Arten des Erkennens gibt. Eine führt zur Versenkung in das Ding und den Zusammenhang. Der Erkennende sucht einzudringen, inne zu werden, mitzuleben. Die andere Weise aber packt, zergliedert, ordnet in Fächer, nimmt in Besitz, herrscht« (Briefe vom Comer See, Mainz 1927, S. 52). Er unterscheidet zwischen einem bescheidenen und beziehungsorientierten Erkennen, das ist wie »ein Herrschen durch Dienst; ein Schaffen aus natürlich-gewiesenen Möglichkeiten heraus, das […] gesetzte Grenzen nicht überschritt« (S. 54), und einer anderen Art des Wissens, von dem gilt: es »schaut nicht, sondern analysiert. Es versenkt sich nicht, sondern packt zu« (S. 53).

Und in dieser zweiten Art des Erkennens »sind Kräfte und Stoffe in zweckgerichteten Zustand gebracht: Maschinen« (S. 55), und »so bildet sich eine Technik der Beherrschung des lebendigen Menschen aus«
(S. 59-60). Guardini verteufelt die Technik nicht, welche es erlaubt, ein besseres Leben zu führen, zu kommunizieren und viele Vorteile zu haben, aber er spürt die Gefahr, dass sie regulierend oder gar dominierend auf das Leben wirkt. In diesem Sinne sah er eine große Gefahr: »Während der Mensch alle inneren Bindungen durch organisches Maßgefühl und naturfolgende Bildungsgestalt verliert, während er innerlich bild-, maß-, richtungslos wird, bestimmt er willkürlich seine Ziele, und zwingt die beherrschten Naturkräfte, sie zu verwirklichen« (S. 57). Und er hinterließ der Nachwelt eine beunruhigende Frage: »Was wird aus dem Leben, wenn es in die Gewalt dieser Herrschaft gerät? [...] Was wird, wenn es […] in die Gewalt technischen Zwanges gerät? Ein System von Maschinen legt sich um das Leben. […] Kann Leben lebendig bleiben in diesem System?« (S. 58-59).

Kann das Leben lebendig bleiben? Das ist eine Frage, die man sich gerade an diesem Ort, an dem Informationstechnologie und »bionische Wissenschaften« vertieft werden, stellen sollte. Was Guardini erahnte, scheint heute nämlich offensichtlich zu sein: Man denke an die ökologische Krise, in der die Natur einfach auf die zweckdienliche Benutzung reagiert, die wir ihr haben zukommen lassen. Man denke an das Fehlen von Grenzen, an die Logik des »es ist machbar, also ist es erlaubt«. Denken wir auch an den Willen, nicht den Menschen und seine Beziehungen in den Mittelpunkt zu stellen, sondern das Individuum, das auf seine eigenen Bedürfnisse zentriert ist, gierig nach Gewinn und unersättlich, die Wirklichkeit zu erfassen. Und denken wir folglich an die Zersetzung gemeinschaftlicher Bindungen, wodurch Einsamkeit und Angst sich von existenziellen Zuständen zu sozialen Zuständen zu verwandeln scheinen. Wie viele isolierte Individuen – sehr den »Social Media« zugetan, aber wenig sozial – greifen wie in einem Teufelskreis zum Trost der Technik, wie zu einem Füllmittel für die Leere, die sie spüren. Dadurch hetzen sie noch hektischer umher und empfinden dabei – einem wilden Kapitalismus unterworfen – ihre eigenen Schwächen als noch schmerzlicher, und das in einer Gesellschaft, in der die äußere Geschwindigkeit mit der inneren Zerbrechlichkeit Hand in Hand geht. Dies ist das Drama. Wenn ich das sage, möchte ich keinen Pessimismus hervorrufen – das würde dem Glauben widersprechen, den ich mit Freude bekenne –, sondern über diese »Anmaßung des Seins und des Habens« nachdenken, die Homer schon in der Morgendämmerung der europäischen Kultur als bedrohlich empfand und die das technokratische Paradigma mit einem bestimmten Gebrauch von Algorithmen, das ein weiteres Risiko für die Destabilisierung des Menschlichen darstellen kann, noch verschärft.

In einem Roman, aus dem ich schon mehrfach zitiert habe, Der Herr der Welt von Robert Benson, wird die Beobachtung gemacht, »dass mechanische Komplexität nicht gleichbedeutend ist mit wahrer Größe und dass sich in ausladender Äußerlichkeit ein Hinterhalt subtiler verbergen kann« (Verona 2014, 24-25). In diesem gewissermaßen »prophetischen« Buch, das vor mehr als einem Jahrhundert verfasst wurde, wird eine Zukunft beschrieben, die von der Technik beherrscht wird und in der im Namen des Fortschritts alles vereinheitlicht wird: Überall wird ein neuer »Humanitarismus« gepredigt, der die Unterschiede aufhebt, das Leben der Völker zunichtemacht und die Religionen beseitigt. Der die Unterschiede aufhebt, alle. Gegensätzliche Ideologien kommen in einer Vereinheitlichung überein, die ideologisch kolonisiert. Dies ist das Drama, die ideologische Kolonialisierung; der Mensch wird im Kontakt mit Maschinen immer flacher, während das gemeinschaftliche Leben traurig und dünn wird. In dieser fortschrittlichen, aber düsteren Welt, die Benson beschreibt und in der alle gefühllos und betäubt zu sein scheinen, ist es naheliegend, Kranke auszusondern und die Euthanasie anzuwenden sowie nationale Sprachen und Kulturen abzuschaffen, um einen weltweiten Frieden zu erreichen. Dieser verwandelt sich in Wirklichkeit jedoch in eine Verfolgung, die auf dem Zwang zum Konsens beruht, und zwar so sehr, dass einer der Protagonisten behauptet: »Die Welt scheint einer perversen Vitalität ausgeliefert zu sein, die alles verdirbt und verwirrt« (S. 145).

Ich habe mich auf diese düstere Untersuchung eingelassen, weil gerade in diesem Kontext die Rollen der Kultur und der Universität am besten zum Vorschein kommen. Die Universität ist nämlich, wie ihr Name schon sagt, der Ort, an dem das Denken geboren wird, wächst und reift, in Offenheit und im Zusammenklang; nicht je einzeln klingend, nicht verschlossen: in Offenheit und im Zusammenklang. Sie ist der »Tempel«, in dem die Erkenntnis aufgerufen ist, sich aus den engen Grenzen des Habens und Besitzens zu befreien, um zur Kultur zu werden, das heißt zur »Kultivierung« des Menschen und seiner grundlegenden Beziehungen: mit dem Transzendenten, mit der Gesellschaft, mit der Geschichte, mit der Schöpfung. Das Zweite Vatikanische Konzil sagt diesbezüglich, »dass die Kultur auf die Gesamtentfaltung der menschlichen Person und auf das Wohl der Gemeinschaft sowie auf das der ganzen menschlichen Gesellschaft auszurichten ist. Darum muss der menschliche Geist so gebildet werden, dass die Fähigkeit des Staunens, der eigentlichen Wesenserkenntnis, der Kontemplation, der persönlichen Urteilsbildung und das religiöse, sittliche und gesellschaftliche Bewusstsein gefördert werden« (Pastoralkonstitution Gaudium et spes, 59). Schon in der Antike sagte man, dass der Beginn der Philosophie das Staunen ist, die Fähigkeit zum Staunen. In dieser Hinsicht habe ich eure Worte sehr geschätzt. Ihre Worte, hochwürdiger Msgr. Rektor, als Sie sagten, dass »in jedem wahren Wissenschaftler etwas vom Schriftgelehrten, vom Priester, vom Propheten und vom Mystiker ist« und weiter, dass »wir mit Hilfe der Wissenschaft nicht nur verstehen, sondern auch das Richtige tun wollen, nämlich eine menschliche und solidarische Gesellschaft, eine nachhaltige Kultur und Umwelt aufbauen. Mit einem demütigen Herzen können wir nicht nur den Berg des Herrn, sondern auch den Berg der Wissenschaft erklimmen«.

Es stimmt: Die großen Intellektuellen sind in der Tat bescheiden. Das Geheimnis des Lebens offenbart sich im Übrigen denen, die es verstehen, sich auf die kleinen Dinge einzulassen. In dieser Hinsicht ist schön, was Dorottya uns gesagt hat: »Indem wir immer kleinere Details entdecken, tauchen wir in die Komplexität von Gottes Werk ein«. So verstanden, stellt die Kultur wirklich die Rettung des Menschen dar. Sie taucht in die Kontemplation ein und formt Menschen, die nicht den Moden des Augenblicks ausgeliefert, sondern fest in der Wirklichkeit der Dinge verwurzelt sind;
und die als demütige Jünger des Wissens spüren, dass sie offen
und kommunikativ sein müssen, niemals starr und kampflustig. Wer die Kultur liebt, hat nie das Gefühl, am Ziel angekommen zu sein und ist nie einfach zufrieden, sondern trägt eine gesunde Unruhe in sich. Er forscht, hinterfragt, riskiert und erkundet; er weiß, wie er aus seinen eigenen Gewissheiten heraustreten kann, um sich demütig in das Geheimnis des Lebens zu wagen, das sich mit der Unruhe und nicht mit der Gewohnheit gut verbindet; das sich anderen Kulturen gegenüber öffnet und das Bedürfnis verspürt, das Wissen zu teilen. Das ist der Geist der Universität, und ich danke euch, dass ihr ihn so lebt, wie Professor Major es uns gesagt hat, als er uns von der Schönheit der Zusammenarbeit mit anderen Bildungseinrichtungen erzählte, mittels gemeinsamer Forschungsprogramme und auch durch die Aufnahme von Studenten aus anderen Regionen der Welt, wie dem Nahen Osten, insbesondere aus dem heimgesuchten Syrien. Gerade indem man sich anderen gegenüber öffnet, lernt man sich selbst besser kennen. Die Offenheit, das sich anderen gegenüber Öffnen, ist wie ein Spiegel: Es ermög-licht mir, mich selbst besser kennenzulernen.

Die Kultur begleitet uns dabei, uns selbst zu erkennen. Daran erinnert das klassische Denken, das niemals untergehen darf. Es kommen die berühmten Worte des Orakels von Delphi in den Sinn: »Erkenne dich selbst.« Das ist einer der beiden Leitsätze, die ich euch zum Abschluss hinterlassen möchte. Aber was heißt erkenne dich selbst? Es bedeutet, die eigenen Grenzen zu erkennen und damit die eigene Anmaßung der Selbstgenügsamkeit zu zügeln. Das tut uns gut, denn vor allem, wenn wir uns selbst als Geschöpfe erkennen, werden wir kreativ und tauchen dabei in die Welt ein, statt sie zu beherrschen. Und während das technokratische Denken nach einem Fortschritt strebt, der keine Grenzen zulässt, hat der reale Mensch auch Schwachstellen, und oft begreift er gerade dadurch, dass er von Gott abhängig und mit den anderen und der Schöpfung verbunden ist. Der Satz des Orakels von Delphi lädt daher zu einer Erkenntnis ein, die, ausgehend von der Demut, ausgehend von der Begrenztheit, ausgehend von der demütig machenden Erfahrung der eigenen Begrenztheit, die eigenen wunderbaren Potenziale entdeckt, die weit über die der Technik hinausgehen. Sich selbst zu erkennen, bedeutet, mit anderen Worten, die Schwäche und die Größe des Menschen in einer virtuosen Dialektik zusammenzuhalten. Aus dem Staunen über diesen Gegensatz entspringt die Kultur: niemals gesättigt und immer auf der Suche, unruhig und gemeinschaftlich, diszipliniert in ihrer Begrenztheit und offen für das Absolute. Ich wünsche euch, dass ihr diese fesselnde Entdeckung der Wahrheit pflegt!

Der zweite Leitsatz bezieht sich eben auf die Wahrheit. Er ist ein Satz von Jesus
Chris-tus: »Die Wahrheit wird euch befreien« (Joh 8,32). Ungarn hat eine Abfolge von Ideologien erlebt, die sich als Wahrheit aufdrängten, aber keine Freiheit brachten. Und auch heute ist die Gefahr noch nicht gebannt: Ich denke da an den Übergang vom Kommunismus zum Konsumismus. Was beide »Ismen« gemeinsam haben, ist eine falsche Vorstellung von Freiheit; jene des Kommunismus war eine gezwungene »Freiheit«, die von außen eingeschränkt, begrenzt und von jemand anderem bestimmt wurde; jene des Konsumismus ist eine zügellose, hedonistische, flache »Freiheit«, die uns zu Sklaven des Konsums und der Dinge macht. Und wie einfach ist es, von den Grenzen, die dem Denken auferlegt werden – wie im Kommunismus –, dahin zu gelangen, dass man denkt, es gäbe keine Grenzen mehr – wie im Konsumismus! Von einer gehemmten Freiheit zu einer hemmungslosen Freiheit. Jesus jedoch bietet einen Ausweg an, indem er sagt, dass das wahr ist, was befreit, was den Menschen von seinen Abhängigkeiten und den verschiedenen Formen der Verschlossenheit befreit. Der Schlüssel zu dieser Wahrheit ist ein Erkennen, das nie von der Liebe losgelöst ist, beziehungsorientiert, demütig und offen, konkret und gemeinschaftlich, mutig und konstruktiv. Das ist es, was die Universitäten pflegen sollen und was der Glaube nähren soll. Deshalb wünsche ich dieser und jeder anderen Universität, ein Zentrum von Universalität und Freiheit, eine fruchtbare Baustelle des Humanismus und ein Labor der Hoffnung zu sein. Ich segne euch von Herzen und danke euch für das, was ihr tut: Vielen Dank!