Audienz für die Teilnehmer an der Vollversammlung der Päpstlichen Bibelkommission

Sich in Krankheit und Leid einer größeren Liebe öffnen

 Sich in Krankheit und Leid einer größeren Liebe öffnen  TED-019
12. Mai 2023

Herr Kardinal,

liebe Mitglieder der Päpstlichen

Bibelkommission!

Ich freue mich, euch zum Abschluss eurer jährlichen Vollversammlung zu begrüßen. Ich danke Kardinal Luis Ladaria für seine Grußworte und für seine Darlegungen in Bezug auf das von euch behandelte Thema »Krankheit und Leid in der Bibel«. Es handelt sich um ein Thema, das alle angeht, Gläubige und Nicht-Glaubende. Denn die von der Sünde verwundete menschliche Natur trägt in sich diese Wirklichkeit der Begrenztheit, der Gebrechlichkeit und des Todes.

Dieses Thema entspricht darüber hinaus einer Sorge, die mir besonders am Herzen liegt, und zwar die Sorge, dass Krankheit und Endlichkeit im modernen Denken oft als Verlust, als Unwert, als Ärgernis gesehen werden, die um jeden Preis minimiert, bekämpft und beseitigt werden müssen. Man will sich die Frage nach ihrer Bedeutung nicht stellen, vielleicht weil man deren moralische und existentielle Implikationen fürchtet. Und doch kann sich niemand der Frage nach diesen »Warum« entziehen (vgl. hl. Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Salvifici doloris, 9).

Auch der Glaubende kann zuweilen durch die Erfahrung des Schmerzes ins Wanken geraten. Das ist eine Wirklichkeit, die Angst macht, und wenn sie über den Menschen hereinbricht und ihn befällt, kann sie ihn so stark erschüttern, dass der Glaube Risse bekommt. Der Mensch steht dann an einem Scheideweg: Er kann zulassen, dass das Leid ihn zum Rückzug auf sich selbst führt bis hin zur Verzweiflung und zur Rebellion. Oder er kann es annehmen als Chance des Wachsens und der Unterscheidung hinsichtlich dessen, was im Leben wirklich zählt bis zur Begegnung mit Gott.

Letzteres ist die Sichtweise, die wir in der Heiligen Schrift finden.

Der Mensch des Alten Testaments lebt die Krankheit, indem er seine Gedanken be-ständig auf Gott richtet: Er vertraut sich ihm unter Tränen an (vgl. Ps 38), von ihm
erfleht er die Heilung von Krankheit (vgl.
Ps 6,3; Jes 38), in Augenblicken der Prüfung wendet er sich mit einer Haltung der Bereitschaft zur Umkehr an ihn (vgl. Ps 38,5.12; Jes 53,11).

Im Neuen Testament bricht das Jesus-Ereignis herein (vgl. Joh 3,16): Der Sohn offenbart die Liebe des Vaters, seine Barmherzigkeit, seine Vergebung und seine fortwährende Suche nach dem sündigen, verirrten, verwundeten Menschen. Nicht ohne Grund ist das öffentliche Wirken Chris-ti zum großen Teil gerade vom Kontakt zu den Kranken geprägt. Heilungswunder gehören zu den Hauptmerkmalen seiner Sendung (vgl. Mt 9,35; 4,23): Er macht Kranke und Gelähmte gesund (vgl. Mk 1,40-42; 2,10-12); er heilt die Schwiegermutter des Simon Petrus und den Diener des Hauptmanns (vgl. Mt 8,5-15); er befreit die Besessenen und heilt alle Kranken, die auf ihn vertrauen (vgl. Mk 6,56).

Gerade sein Mitleid mit ihnen und
die zahlreichen von ihm gewirkten Heilungen werden als das Zeichen gesehen, dass
»Gott sein Volk heimgesucht hat« (Lk 7,16) und dass das Reich Gottes nahe ist (vgl.
Lk 10,9): Sie offenbaren seine göttliche Identität, seine messianische Sendung (vgl. Lk 7,20-23) und seine Liebe zu den Schwachen, die so weit geht, sich mit ihnen zu identifizieren, wenn er sagt: »Ich war krank und ihr habt mich besucht« (Mt 25,36).

Der Höhepunkt dieser Identifikation geschieht in der Passion, so dass das Kreuz Christi zum Zeichen par excellence der Solidarität Gottes mit uns wird und zugleich zur Möglichkeit für uns, uns in seinem Heilswerk mit ihm zu verbinden (vgl. Kol 1,24). Auch als der Herr nach der Auferstehung die Jünger beauftragt, sein Werk fortzusetzen, sagt er ihnen, dass sie die Kranken heilen sollen, indem sie ihnen die Hände auflegen und sie in seinem Namen segnen (vgl. Mk 16,15-18).

Damit gibt die Bibel weder eine banale, utopische Antwort auf die Frage nach Krankheit und Tod, noch eine fatalistische Antwort, die alles rechtfertigt, indem sie es einem unergründlichen göttlichen Ratschluss zuschreibt oder schlimmer, einem unerbittlichen Schicksal, dem man sich nur beugen kann, ohne zu verstehen. Der Mensch der Bibel sieht sich vielmehr aufgefordert, die universale Situation des Leids als Ort der Begegnung mit der Nähe und dem Mitleid Gottes, des guten Vaters, zu verstehen, der sich mit unendlicher Barmherzigkeit der verletzten Geschöpfe annimmt, um sie zu heilen, aufzurichten und zu retten.

So verwandelt sich in Christus auch das Leiden in Liebe, und das Ende der Dinge dieser Welt wird zur Hoffnung auf Auferstehung und Rettung, wie es der Verfasser der Offenbarung sagt (vgl. 21,4). Im Grunde wird für den Christen auch die Krankheit zu einer großen Gabe der Gemeinschaft, mit der Gott ihn an seiner Fülle des Guten teilhaben lässt, gerade durch die Erfahrung seiner Schwachheit.

Dabei sagt die Art und Weise, wie wir den Schmerz leben, etwas über unser Vermögen, zu lieben und uns lieben zu lassen, über unsere Fähigkeit, den Geschehnissen des Lebens im Licht der Nächstenliebe einen Sinn zu geben, und über unsere Bereitschaft, die Einschränkung als Anlass zu Wachstum und Erlösung anzunehmen.1 Das hat der heilige Johannes Paul II. betont, als er ausgehend von seiner persönlichen Erfahrung den Weg des Leidens aufzeigte als einen Weg, sich einer größeren Liebe zu öffnen (vgl. Apostolisches Schreiben Salvifici doloris, 20).

Abschließend möchte ich einen letzten Aspekt der Erfahrung von Krankheit unterstreichen: Sie lehrt uns menschliche und christliche Solidarität zu leben, dem Stil Gottes entsprechend, der Nähe, Mitleid und Zärtlichkeit ist. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter erinnert uns: Sich über den Schmerz der anderen zu beugen ist für den Menschen nicht eine mögliche Option, sondern vielmehr eine unverzichtbare Bedingung, und zwar sowohl für seine volle Verwirklichung als Person als auch für den Aufbau einer inklusiven und wirklich auf das Gemeinwohl ausgerichteten Gesellschaft (vgl. Enzyklika Fratelli tutti, 67-68).

Liebe Mitglieder der Päpstlichen Bibelkommission, ich möchte euch allen meinen persönlichen Dank zum Ausdruck bringen und meine Ermutigung für die anspruchsvolle Arbeit aussprechen, die ihr in Forschung und Lehre im Dienst von Gottes Wort vollbringt. Ihr befasst euch mit einem für die Inkulturation des Glaubens äußerst wichtigen Feld, das grundlegender Teil der Sendung der Kirche ist. Denkt jedoch daran, dass euer Werk um so mehr wachsen kann, je mehr ihr das Geheimnis der Menschwerdung in eurem Glaubensleben persönlich anzunehmen wisst.

Dazu wünsche ich euch eine erfolgreiche Fortsetzung eurer Arbeit und rufe das Licht des Heiligen Geistes auf euch herab. Von Herzen segne ich euch. Und bitte vergesst nicht, für mich zu beten. Danke!

1 Vgl. Predigt aus Anlass des Jubiläums der Kranken und Behinderten, 12. Juni 2016.

(Orig. ital. in O.R. 20.4.2023)