Seiten der Geschichte
Es geschah am Weißen Sonntag, 17. April 1814, auf einer Straße in Turin, der kleinen Hauptstadt eines zwischen Frankreich und Italien eingeklemmten Königreiches. Der napoleonische Wirbelsturm war vorüber. Die junge Juliette Colbert, Erbin eines uralten französischen Adelsgeschlechts, Urenkelin jenes Jean-Baptiste Colbert, der der mächtige Finanzminister des «Sonnenkönigs« Ludwig XIV. von Frankreich gewesen war, war seit acht Jahren mit dem Markgrafen Tancredi Falletti di Barolo verheiratet und lebte mit ihm am Fuß der Alpen, in Turin. An jenem Sonntagmorgen war die Markgräfin auf den Knien, als die Prozession vorbeizog, und hörte eine Stimme, die von dem Wohnhaus hinter ihr rief: »Wir wollen Suppe, nicht die Sterbesakramente!« Es folgten Schreie und Lästerungen.
Die erschütterte Markgräfin wollte der Sache nachgehen. Instinktiv betrat sie das Haus, aus dem die Schreie gekommen waren, und entdeckte eine fürchterliche Wirklichkeit. Es handelte sich um ein Gefängnis. Im für gefangene Frauen bestimmten Haftraum wurde sie von einer brutalen Szene empfangen. In ihren Erinnerungen an die Gefängnisse notierte sie: »Ihr Zustand der Erniedrigung rief Schmerz und Scham in mir hervor. Diese armen Frauen und ich gehörten derselben Spezies an, Kinder desselben Vaters, auch sie waren eine Himmelspflanze, hatten eine Zeit der Unschuld durchlebt und waren zum selben himmlischen Erbe berufen.«
Die Markgräfin von Barolo sah an jenem Tag alte und junge, verrohte, in Lumpen gehüllte Frauen, die in einer kalten und dunklen Umgebung auf dreckigen Heuhaufen ausgestreckt herumlagen. Ein Schwindelgefühl körperlicher und moralischer Verrohung, das sie erschüttert und zutiefst davon überzeugt verließ, den Stand der Dinge ändern zu müssen. Diese Begegnung sollte zu einer außergewöhnlichen Erfahrung führen, die die Geschichte der Frauenhaft verändert hat, erst in Turin, dann in Italien und schließlich in ganz Europa. Ein unglaubliches Erbe. Juliette Falletti di Barolo war 29 Jahre alt und hatte keine Kinder. Zusammen mit ihrem adeligen und frommen Gatten widmete sie sich bereits intensiv der Wohltätigkeit. Sie war von einem tiefen, starken Glauben bewegt. Nicht ohne Grund stammte ihre Familie aus der Vandée, wo sie heimlich den Aufstand gegen die atheistischen Revolutionäre angeführt hatte.
Mittlerweile hatte sie den italienischen Markgrafen geheiratet, den sie vor der Revolution am französischen Königshof kennengelernt hatte. Nach einigen Wechselfällen hatten sie sich auf seinen Ländereien niedergelassen. Und in der kleinen Provinzstadt Turin glänzte die schöne und elegante, reiche, kultivierte Markgräfin Juliette im eigenen Licht. Selbstsicher, ja allzu selbstgerecht.
Eine Beziehung zu den Frauen im Gefängnis herzustellen war ein langer und steiler Weg. Er führte über Trinkgelder zu sauberer Kleidung und zur Verteilung von Suppe. Um Zutritt zu den Zellen zu bekommen, musste sich Juliette bei der Erzbruderschaft der Barmherzigkeit einschreiben. Langsam wurde ihr mehr Zeit zugestanden, die sie allein mit den Gefangenen verbringen durfte. Anfangs stieß sie nur auf Geringschätzung, wenn sie von Reue, christlicher Nächstenliebe und Gebet sprach. Aber sie gab nicht auf. Sie sammelte Geld, Arznei und Kleider, gab viel aus eigener Tasche. Jene Orte besserten sich. Die Verpflegung auch. Mit der Menschlichkeit kam endlich auch das Vertrauen. Und mit diesem, und auch mit einer gewissen Gelassenheit, die Bereitschaft zum Gebet, erste Schritte in der Alphabetisierung. Fünf schwierige Jahre vergingen, aber am Ende war, wie die Historikerin Simona Trombetta schreibt, »ein strukturierteres Umerziehungsprogramm« bereit, »nach einem Modell, das in erster Linie Gehorsam und Unterwerfung verlangte, gefolgt von Resignation und schließlich christlichen Belohnungen in Form von kleinen Preisen, die an diejenigen verteilt wurden, die sich beim Zuschneiden und Nähen hervorgetan und am gemeinsamen Gebet und am Religionsunterricht mit Beständigkeit teilgenommen hatten.« Eine ziemlich ausgefallene Form des ora et labora.
Tatsächlich war gerade das die von der Markgräfin von Barolo eingeführte Revolution: Das Gefängnis sollte nicht länger nur ein Ort sein, an dem von der Gesellschaft ausgeschlossen wurde, sondern ein Ort der geistigen und gleichzeitig auch materiellen Umerziehung. Diese von der Gesellschaft marginalisierten Frauen bedurften einer Beschäftigung, um sich von der Armut zu befreien, um außerhalb des Gefängnisses dann unabhängig zu sein und nicht wieder zurückzufallen ins Verbrechen. Und deshalb, sagte sie, mussten sie ein Handwerk erlernen, aber es war erforderlich, die Männer von den Frauen zu trennen, denn die Promiskuität war eine Quelle des Skandals und unablässiger Probleme. Die Markgräfin berichtete auch, dass Frauen in Untersuchungshaft von bereits Verurteilten getrennt werden sollten, da ihre jeweils rechtliche Stellung und ihre persönlichen Aussichten sehr unterschiedlich waren.
Ihr Projekt fand so großen Anklang (und natürlich machte sie allen nötigen Druck, weil es ihrem Charakter keineswegs an Ungestüm mangelte), dass man ihr das zweite Frauengefängnis von Turin anvertraute. Andere Damen unterstützten sie. Die Zahl der Spenden wuchs, angefangen bei jenen des Königs. Und diese in Piemont gemachte Erfahrung wurde auch jenseits der Grenzen registriert. So kam etwa Francis Cunningham zu Besuch, ein Vetter von Elizabeth Fry, einer Londoner Dame und Philanthropin, die sich mit Leidenschaft für eine Verbesserung des elenden Lebens inhaftierter Frauen einsetzte, der Religion der Quäker anhing und auch ihrerseits von einem glühenden Glauben beseelt war. Von diesem Augenblick an fingen Juliette und Elizabeth an, sich oft zu schreiben. Was Fry in London experimentierte, das machte Juliette in Turin. Und umgekehrt.
1817 war in London die British Society of Ladies for Promoting the Reformation of Female Prisoners (Britische Gesellschaft von Damen zur Förderung der Reformierung weiblicher Gefangener) gegründet worden. Vier Jahre später, als die Markgräfin nunmehr so weit war, den piemontesischen Obrigkeiten ein fertiges Projekt für die Einrichtung eines neuen, modernen, zivilisierten Frauengefängnisses vorzulegen, das nach ihren Kriterien geführt werden sollte, zitierte Juliette die in London gemachte Erfahrung. Sie regte an, dass die Häftlinge einem Damenkomitee, den Signore, anvertraut werden sollten, die sich ihrerseits zur Leitung der Einrichtung auf Ordensfrauen verlassen wollten.
So entstand der Carcere delle Forzate (das »Gefängnis für Zuchthäuslerinnen«); der Markgräfin wurde der Titel einer Oberaufseherin verliehen, außerdem sogar die Macht, darüber zu entscheiden, wer hier aufgenommen werden sollte. Hier gab es endlich Licht und Luft, saubere Betten und Decken, eine Krankenstation, eine Kapelle, Örtlichkeiten für die Arbeit (das Spinnen von Hanf und Leinen, die Herstellung von Strümpfen und Kleidung), einen Innenhof. Sie ließ auch auf eigene Kosten Blumen und Obstbäume pflanzen. Wie im Londoner Newgate-Gefängnis, auf das Elizabeth Frys Aufmerksamkeit gerichtet war, bereitete Juliette auch in Turin die Vorschriften vor und diskutierte sie mit den inhaftierten Frauen. Das Kartenspiel und der Schnapskonsum waren verboten. An Büchern waren nur jene erlaubt, die von den Damen und vom Gefängniskaplan genehmigt wurden. Die Arbeit wurde seitens der Damen zugeteilt; zwei Drittel der Einkünfte wurden sofort verteilt, ein Drittel wurde auf die hohe Kante gelegt bis zu dem Augenblick, in dem sie wieder freigelassen wurden. Für das Alltagsgeschäft der Gefängnisverwaltung kamen die St. Josephschwestern von Chambéry.
Die Markgräfin hatte allerdings ein noch umfangreicheres und ambitionierteres Projekt im Sinn. Sie wusste aus eigener Anschauung, dass die materielle und spirituelle Armut das heimliche Drama war, das sich hinter dem Gefängnis verbarg. Ergo bedurfte es einer gut begleiteten Wiedereingliederung in das Leben in Freiheit. In einem auf eigene Kosten von der Regierung erstandenen und renovierten Landhaus gründete sie 1823 die Opera Pia del Rifugio (»Frommes Hilfswerk der Zuflucht«), das 70 aus der Haft entlassene Frauen beherbergte und äußerst strenge Regeln hatte: einzig und allein die Oberin konnte entscheiden, wann die ehemaligen Sträflinge soweit waren, bei Familien in Stellung zu gehen.
Sie wollte dadurch vorbeugen, damit niemand rückfällig wurde. 1831 entstand die »Kleine Zufluchtsstätte« für Waisenmädchen unter 15 Jahren, die »Opfer der allerbedauerlichsten Ausschreitungen« [Opfer von Kinderprostitution] geworden waren. Dann gründete sie das Institut der heiligen Anna, dessen Aufgabe es war, »Mädchen zu unterrichten und christlich zu erziehen und sie zu guten Christinnen und guten Familienmüttern zu machen«. Dessen Charisma nahm 1834 Gestalt an durch die Gründung einer Ordenskongregation, der Sankt-Anna-Schwestern, die auch heute noch in Italien und in aller Welt aktiv sind in der Betreuung und Erziehung von Kleinkindern und der Ärmsten der Armen. Und da viele Frauen im Gefängnis dank ihres Katechismusunterrichts den Glauben wiederentdeckt hatten, entstand eine weitere Kongregation, die Reuigen Schwestern der heiligen Maria Magdalena, heute Schwestern von Jesus, dem Guten Hirten, für diejenigen, die ihre Vergangenheit mit Hilfe von Gebet und Buße wiedergutmachen wollten.
In der Zwischenzeit hatte die Markgräfin einen enthusiastischen jungen Priester namens Don Bosco kennengelernt, der Hauskaplan der »Zufluchtsstätte« wurde. Er fing an, sich um die jungen Gäste der Zufluchtsstätte zu kümmern, beanspruchte aber auch zwei Zimmer für seine Straßenjungen, die verlassenen Jungen aus Turin.
Sehr bald sah man aber ein, dass die beiden Realitäten nicht funktionierten. Und ihre Wege trennten sich. Die Markgräfin stellte nämlich den Anspruch, dass sich der Priester ausschließlich der jungen Frauen annehmen sollte. »In der Zufluchtsstätte gibt es genug zu tun. Suchen Sie sich keine anderweitigen Beschäftigungen…«. Und er, der Einzige, der ihr die Stirn zu bieten wusste: »Ich suche keine Beschäftigungen. Bei allem gebotenen Respekt, ich bin ein Priester, kein Sekretär!«
Ihre Zusammenarbeit endete mit der Entlassung Don Boscos, aber paradoxerweise war sie es, die vor dem Heiligen niederkniete, als er ging, und ihm auch weiterhin bei seinem Werk in Valdocco für arme und aus dem Gleis gekommene Jugendliche half.
Der Geschichte war kein Happy End beschieden. 1850 geriet Juliette Falletti in Konflikt mit den Turiner Zivilbehörden. Sie ging keine Kompromisse ein und beschloss, die Leitung der Frauengefängnisse aufzugeben. Als Zeichen der Stärke verlangte sie all das zurück, was sie in den dreißig Jahren ihrer Tätigkeit aus ihrem Privatbesitz beigesteuert hatte. Das Ergebnis war eine endlose Liste von Betten, Bänken, Stühlen, Tischen, Tischdecken, Matratzen, Decken, Geschirr und so weiter.
Die Markgräfin schmiss alles hin, hatte aber ihre Herausforderung gewonnen. Das Frauengefängnis war so geworden, wie sie es sich vorgestellt hatte: ein abgesonderter Ort, an dem die Emanzipation auch Erlösung war, mit Unterstützung der Ordensfrauen, die Festigkeit mit Sanftmut verbinden sollten, und in Italien hatte ihr Modell bis 1970 Bestand, als die Ordensfrauen durch Staatsdiener ersetzt wurden.
Sie wurde von zahlreichen Intellektuellen des italienischen Risorgimento hochgeschätzt. So beispielsweise seitens des berühmten Silvio Pellico. Dieser war ein Patriot, der in Mailand gegen die österreichische Herrschaft intrigierte. Nach seiner Verhaftung, Verurteilung und 10-jähriger harter Festungshaft auf dem Spielberg wurde Pellico durch sein Buch Le mie prigioni (»Meine Gefängnisse«) in ganz Europa berühmt. Nach seiner Freilassung wurde er vom Markgrafenpaar von Barolo angestellt und unterstützte die Adelige bei ihrer epischen Gefängnisaktion, die er später in dem Buch La marchesa Giulia Falletti di Barolo nata Colbert. Memorie verewigen sollte. Ein durchschlagender publizistischer Erfolg.
So lautete seine Zusammenfassung von so viel Arbeit: »Jener Ort der Bestrafung, so christlich geordnet, nahm zunehmend eher das Aussehen eines lieblichen und vernünftigen Klosters an als jenes eines Gefängnisses.« In einer Zeit des Liberalismus und Antiklerikalismus bezahlte Pellico den Preis harter Kritik für ein so günstiges Urteil, aber er fühlte sich in ihrer Schuld und wollte, dass man sich der Markgräfin in Ewigkeit erinnern sollte. Außerdem trat der Patriot zusammen mit ihr 1851 als Tertiär in den Laienstand der Franziskaner ein. Sowohl Juliette als auch ihr Gatte, Tancredi Falletti di Barolo, wurden seitens der katholischen Kirche zu ehrwürdigen Dienern Gottes ernannt.
Von Francesco Grignetti
Journalist der Tageszeitung »La Stampa«