Audienz für die Teilnehmer an einer von der »Fraterna Domus« von Sacrofano veranstalteten Begegnung

Eine Kultur der Gastfreundschaft fördern

 Eine Kultur der Gastfreundschaft fördern  TED-017
28. April 2023

Liebe Brüder und Schwestern,

guten Tag und herzlich willkommen!

Ich danke Sr. Milena Pizziolo für ihre Worte und begrüße euch alle, die ihr am Bildungskongress der »Cattedra dell’Accoglienza« teilnehmt, der von den Schwestern der »Fraterna Domus« veranstaltet wird. Und ich möchte zunächst euch, liebe Schwestern, beglückwünschen zu dieser Initiative, mit der ihr euer Charisma, eure Erfahrung und auch eure Häuser in den Dienst jener gestellt habt, die auf verschiedene Weise auf dem Gebiet der Gastfreundschaft tätig sind: ein Gebiet, das reich ist an Werten und an Spiritualität, das aber auch von den Dramen unserer Zeit durchzogen ist. Ich danke euch für euren Einsatz; und ich danke auch den anderen Verbänden, Instituten, Stiftungen und Gemeinschaften, die an der »Cattedra dell’Ac-coglienza« mitwirken.

Ich möchte einige Überlegungen mit euch teilen, wobei ich Bezug nehme auf die Enzyklika Fratelli tutti (FT).

Die Gastfreundschaft ist einer der Wesenszüge, die das charakterisieren, was ich als »eine offene Welt« bezeichnet habe (FT,
Kap. III). Die Enzyklika ist ein Aufruf »eine offene Welt zu denken und zu schaffen« (vgl. ebd.) – gegen die Verschlossenheit »in die Sakristei«, die wir manchmal erleben! –, und ihr antwortet auf diesen Aufruf: Ihr tut das durch die Arbeit, die ihr Tag für Tag tut, ohne Aufsehen zu erregen, ohne euch ins Rampenlicht zu stellen, und ihr tut es auch durch diese Bildungsbegegnungen. Denn um Gastfreundschaft zu leisten, um Gastfreundschaft erzeugen zu können, muss man auch über die Gastfreundschaft nachdenken. Das ist der große Wert von Augenblicken wir diesem, den ihr gerade erlebt, in denen ihr gemeinsam die verschiedenen Aspekte vertieft: den anthropologischen, den religiösen, den historischen Aspekt und so weiter. Eure »Cattedra« ist jedoch kein keimfreies Labor, in dem abstrakte Formeln erarbeitet werden: Sie ist ein Augenblick der Reflexion, der untrennbar ist von der Arbeit vor Ort, sie gehören zusammen. Während ihr zuhört und studiert, habt ihr die Gesichter, die Geschichten, die konkreten Probleme vor Augen und teilt sie mit den Referenten und in den Arbeitsgruppen. Und das ist sehr wichtig.

Kehren wir zurück zur Enzyklika. Es gibt zwei Abschnitte, die, wie mir scheint, für euch besonders interessant sein könnten. Ich konzentriere mich auf diese.

Den ersten findet ihr im dritten Kapitel, unter dem Titel »Die fortschreitende Öffnung der Liebe«. Ich zitiere ihn: »Die Liebe richtet uns schließlich auf die universale Gemeinschaft hin aus. Niemand reift oder gelangt zu Erfüllung, wenn er sich isoliert. Durch die ihr innewohnende Dynamik verlangt die Liebe eine fortschreitende Öffnung, eine immer größere Fähigkeit, andere anzunehmen, in einem nie endenden Abenteuer, das alle Ränder zu einem vollen Bewusstsein gegenseitiger Zugehörigkeit zusammenwachsen lässt. Jesus sagte uns: ›Ihr alle aber seid Brüder‹ (Mt 23,8)« (FT, 95). Die Annahme ist ein Ausdruck der Liebe, jener Dynamik der Öffnung, die uns dazu bringt, die Aufmerksamkeit auf den anderen zu richten, das Beste für sein Leben zu suchen (vgl. FT, 91-94) und die in ihrer Reinheit die von Gott eingegossene Liebe ist. In dem Maße, indem sie durchdrungen wird von dieser Haltung der Öffnung und der Annahme, wird eine Gesellschaft fähig, alle ihre Glieder zu integrieren, auch jene, die aus verschiedenen Gründen »existentiell Fremde« oder »verborgene Exilanten« sind, wie zuweilen Menschen mit Behinderung oder ältere Menschen (vgl. FT, 97-98). Für diesen Aspekt der Liebe ist der grundlegende Bezugspunkt die erste Enzyklika von Benedikt XVI., Deus caritas est (25. Dezember 2005).

Der zweite Abschnitt aus Fratelli tutti, den ich euch vorlege, ist die Nummer 141. Ich zitiere ihn in ganzer Länge: »Wie es um die verschiedenen Länder der Welt wirklich bestellt ist, lässt sich an dieser Fähigkeit abmessen, nicht nur an das eigene Land, sondern an die ganze Menschheitsfamilie zu denken, und das wird besonders in kritischen Zeiten offenbar. In sich verschlossene Nationalismen manifestieren eine Unfähigkeit, unentgeltlich zu geben, und die irrige Überzeugung, dass sie vom Niedergang der anderen profitieren können und dass sie sicherer leben, wenn sie sich anderen gegenüber abschotten. Der Einwanderer wird als Usurpator gesehen, der nichts bringt. So kommt man zu der naiven Auffassung, dass die Armen gefährlich oder nutzlos und die Mächtigen großzügige Wohltäter sind. Nur eine soziale und politische Kultur, die eine Aufnahme ohne Gegenleistung einschließt, wird eine Zukunft haben.« Wir sind im vierten Kapitel mit dem Titel »Ein offenes Herz für die ganze Welt«, wo die Rede ist von der »unentgeltlichen Annahme« (vgl. Nr. 139-141). Der Aspekt der Unentgeltlichkeit ist wesentlich, um Geschwis-terlichkeit und soziale Freundschaft zu erzeugen. Für euch unterstreiche ich den letzten Satz: »Nur eine soziale und politische Kultur, die eine Aufnahme ohne Gegenleistung einschließt, wird eine Zukunft haben« (Nr. 141). Die unentgeltliche Annahme. Oft ist die Rede von dem Beitrag, den die Migranten zu den Gesellschaften, die sie aufnehmen, leisten oder leisten können. Das ist wahr, und es ist wichtig. Aber das grundlegende Kriterium liegt nicht im Nutzen der Person, sondern im Wert an sich, den diese darstellt. Der andere hat es verdient, angenommen zu werden nicht wegen dem, was er hat oder was er haben kann oder was er geben kann, sondern wegen dem, was er ist.

Im Alten Testament hat mich stets die Erwähnung – bei den Propheten, in den Geschichtsbüchern – der drei Personen beeindruckt, denen man besondere Aufmerksamkeit entgegenbringen muss: der Witwe, der Waise und dem Migranten. Und es wird wiederholt im Deuteronomium, im Exodus – im Exodus nicht so sehr, aber im Deuteronomium –, im Levitikus wird es wiederholt: »Wenn du die Ernte einbringst, dann fahre kein zweites Mal über das Feld: Was dortbleibt, was dort übrig ist, lass es dort für die Witwe, die Waise, den Migranten.« Immer gibt es das. Es ist wichtig, diese Tradition der Annahme wiederaufzugreifen, der Annahme jener, die nichts haben oder die in einer schwierigen Situation leben.

Liebe Brüder und Schwestern, ich gebe euch diese Überlegungen mit, und ich ermutige euch, euren Bildungsweg fortzusetzen, um die Gastfreundschaft immer besser zu leben und eine Kultur der Gastfreundschaft zu fördern. Die Gottesmutter begleite euch. Von Herzen segne ich euch und bitte euch, für mich zu beten. Danke!

(Orig. ital. in O.R. 9.3.2023)