Audienz für Führungskräfte und Mitarbeiter des Nationalen Instituts für Unfallversicherung am Arbeitsplatz (INAIL)

Keiner darf sich alleingelassen fühlen

 Keiner darf sich alleingelassen fühlen  TED-014
07. April 2023

Liebe Brüder und Schwestern,

guten Tag!

Ich begrüße euch und danke dem Präsidenten für seine Worte. Danke für den Bezug auf die Soziallehre der Kirche. Ich freue mich über dieses Treffen, um euch in eurem Einsatz zu bestärken, der, wie der Präsident sagte, darauf abzielt, »eine Gesellschaft aufzubauen, in der niemand zurückgelassen wird«. Ihr tut dies, indem ihr euch dafür einsetzt, dass die Würde der Menschen in der Arbeitswelt geschützt wird. Wir wissen, dass dies nicht immer und nicht überall der Fall ist. Oft wird die Last eines Unfalls auf die Schultern der Familie gelegt, und diese Versuchung manifestiert sich in verschiedenen Formen. Die jüngste Pandemie hat die Zahl der Anträge in Italien erhöht, insbesondere in den Bereichen Gesundheit und Verkehr.

Schutz von Frauen
am Arbeitsplatz

Ich danke euch für den zusätzlichen Einsatz, den ihr auf dem Höhepunkt der Gesundheitskrise vor allem gegenüber den schwächsten Bevölkerungsgruppen an den Tag gelegt habt. In den letzten Monaten hat auch die Zahl der Unfälle von Frauen zugenommen, was uns daran erinnert, dass der vollständige Schutz der Frauen am Arbeitsplatz noch nicht erreicht ist. Und auch hier würde ich sagen, dass es eine präventive Ausgrenzung von Frauen gibt, aus Angst, dass sie schwanger werden; eine Frau ist weniger »sicher«, weil sie schwanger werden kann. So wird bei der Anstellung der Frau gedacht: Wenn sie anfängt, »runder« zu werden, ist es besser, sie wegzuschicken. Das ist eine Mentalität, gegen die wir ankämpfen müssen.

Die Arbeit eures Instituts ist doppelt wertvoll, sowohl auf der Ebene der Ausbildung zur Verhütung von Arbeitsunfällen als auch auf der Ebene der Begleitung von Verletzten und der konkreten Unterstützung ihrer Familien. Der Dienst, dem ihr euch widmet, sorgt dafür, dass sich niemand im Stich gelassen fühlt. Das ist entscheidend. Ohne Schutz wird die Gesellschaft mehr und mehr zum Sklaven einer Wegwerfkultur. Sie verfällt schließlich einer utilitaristischen Sichtweise des Menschen, anstatt seine Würde anzuerkennen. Die ungeheure Logik, die das Aussondern verbreitet, lässt sich in dem Satz zusammenfassen: »Du bist etwas wert, wenn du produzierst«. So zählt nur derjenige, dem es gelingt, im Getriebe der Arbeitsmaschinerie zu verbleiben, und die Opfer werden beiseitegeschoben, als Last betrachtet und der Gutherzigkeit der Familien anvertraut.

Die Enzyklika Fratelli tutti weist darauf hin, dass die »Aussonderung […] sich auf vielfältige Weise [zeigt], wie etwa in der Versessenheit, die Kosten der Arbeit zu reduzieren, ohne sich der schwerwiegenden Konsequenzen bewusst zu werden, die eine
solche Maßnahme auslöst; denn die entstandene Arbeitslosigkeit führt direkt zu einer zunehmenden Verbreitung der Armut«
(Nr. 20). Zu den Folgen des Verzichts auf Investitionen in die Sicherheit am Arbeitsplatz gehört die Zunahme der Unfälle. Angesichts dieser Mentalität müssen wir uns daran erinnern, dass das Leben keinen Preis hat. Die Gesundheit eines Menschen lässt sich nicht gegen ein paar Euro mehr oder das Interesse eines Einzelnen eintauschen. Und wir müssen leider hinzufügen, dass ein Aspekt der Wegwerfkultur die Tendenz ist, den Opfern die Schuld zu geben. Wir sehen das ständig, es ist eine Rechtfertigungsmethode, und es ist ein Zeichen für menschliche Armut, in die wir die Beziehungen versinken lassen, wenn wir die richtige Wertehierarchie aus dem Blick verlieren, in der die Würde der menschlichen Person an erster Stelle steht.

Liebe Freunde, eure Anwesenheit gestattet es uns heute, über die Bedeutung der Arbeit nachzudenken und darüber, wie man das Gleichnis des Evangeliums vom barmherzigen Samariter (vgl. Lk 10,25-37) in verschiedenen historischen Kontexten damit verbinden kann. Die Sorge um die Qualität der Arbeit sowie um die der Arbeitsstelle und des Transports ist von grundlegender Bedeutung, wenn die zentrale Stellung des Menschen gefördert werden soll; wenn die Arbeit herabgewürdigt wird, verarmt die Demokratie und die sozialen Bindungen lockern sich. Es ist wichtig, dass die Sicherheitsvorschriften eingehalten werden: Sie dürfen niemals als Belas-tung oder unnötige Last angesehen werden. Wie immer wird uns der Wert der Gesundheit erst dann bewusst, wenn es an ihr mangelt. Auch der Einsatz von Technologie kann helfen. Sie hat zum Beispiel die Entwicklung der »Fernarbeit« gefördert, die in bestimmten Fällen eine gute Lösung sein kann, solange sie die Arbeitnehmer nicht isoliert und sie daran hindert, sich als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen. Die strikte Trennung von Familie und Beruf hat sich nicht nur auf die Familie, sondern auch auf die Arbeitskultur negativ ausgewirkt. Sie hat die Vorstellung verstärkt, dass die Familie der Ort des Konsums und das Unternehmen der Ort der Produktion ist. Das ist zu simpel. Es hat den Eindruck erweckt, dass die Fürsorge ausschließlich eine Domäne der Familie ist und nichts mit der Arbeit zu tun hat. Es besteht die Gefahr, dass sich die Mentalität entwickelt, dass der Mensch nur so viel wert ist, wie er produziert, so dass er außerhalb der Produktionswelt seinen Wert verliert, der ausschließlich mit Geld identifiziert wird. Dies ist ein üblicher Gedankengang, ein Gedanke, der, wie ich sagen würde, nicht ganz be-wusst, sondern unterschwellig vorhanden ist.

Solidarität
und Nächstenliebe

Eure Tätigkeit erinnert uns daran, dass der Stil des barmherzigen Samariters immer aktuell ist und einen sozialen Wert hat. »Mit seinen Gesten hat der barmherzige Samariter gezeigt, dass ›die Existenz eines jeden von uns an die der anderen gebunden ist: das Leben ist keine verstreichende Zeit, sondern Zeit der Begegnung‹« (Fratelli tutti, 66). Wenn ein Mensch um Hilfe ruft, in Not ist und Gefahr läuft, am Rande der Gesellschaft ausgesetzt zu werden, ist das schnelle und wirksame Engagement von Einrichtungen wie der euren, die die Verben des Gleichnisses aus dem Evangelium in die Praxis umsetzen, von entscheidender Bedeutung: sehen, mitfühlen, nahe sein, Wunden verbinden, Verantwortung übernehmen. Und das ist kein gutes Geschäft, es ist immer ein Verlust!

Ich ermutige euch, allen Formen von Arbeitsunfähigkeit, die auftreten, ins Gesicht zu sehen. Nicht nur die körperlichen, sondern auch die psychologischen, kulturellen und geistigen. Die soziale Vernachlässigung wirkt sich auf die Art und Weise aus, wie jeder von uns sich selbst sieht und wahrnimmt. Den anderen zu »sehen« bedeutet auch, den Menschen in seiner Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit zu behandeln und ihn aus der Logik der Zahlen herauszunehmen. Der Mensch ist keine Nummer. Es gibt nicht den »Verunfallten«, sondern den Namen und das Gesicht der Person, die einen Unfall erlitten hat. Es gibt das Substantiv, nicht das Adjektiv: einen Verunfallten? Nein, es ist eine Person, die einen Unfall erlitten hat. Wir haben uns daran gewöhnt, zu viele Adjektive zu verwenden, wir leben in einer Zivilisation, die ein wenig darin verfallen ist, zu viele Adjektive zu verwenden, und wir laufen Gefahr, die Kultur des Substantivs zu verlieren. Dies ist kein Verunfallter, es ist eine Person, die einen Unfall erlitten hat, aber es ist eine Person.

Lasst nicht vom Mitgefühl ab – das ist keine dumme Sache für Frauen, für alte Damen, nein, es ist eine sehr große menschliche Realität: Ich teile, weil ich Mitgefühl habe, was nicht dasselbe ist wie lástima [Spanisch: Mitleid], sondern es ist das Teilen des Schicksals. Es bedeutet, das Leiden des anderen am eigenen Leib zu spüren. Es ist das Gegenteil von Gleichgültigkeit – wir leben in einer Kultur der Gleichgültigkeit –, die dazu führt, dass man woanders hinschaut, dass man geradeaus weitergeht, ohne sich innerlich berühren zu lassen. Mitgefühl und Zärtlichkeit sind Haltungen, die den Stil Gottes widerspiegeln. Wenn wir uns fragen, was der Stil Gottes ist, geben drei Worte Aufschluss darüber: Nähe, Gott ist immer nahe, er versteckt sich nicht; Barmherzigkeit, er ist barmherzig, er hat Mitleid und ist deshalb barmherzig; und drittens, er ist zärtlich, er besitzt Zärtlichkeit. Nähe, mitleidvolle Barmherzigkeit und Zärtlichkeit. Das ist der Stil Gottes und das ist der Weg, den wir gehen müssen.

Denken wir an die Nähe: die Überbrückung der Kluft und das sich auf die gleiche Ebene der gemeinsamen Zerbrechlichkeit begeben. Je mehr sich jemand als zerbrechlich empfindet, desto mehr braucht er Nähe. Auf diese Weise werden Barrieren abgebaut, um eine gemeinsame Ebene der Kommunikation zu finden, die unsere Menschlichkeit ist.

Das Verbinden der Wunden kann für euch bedeuten, sich Zeit zu nehmen und jede bürokratische Versuchung zu vermeiden. Die Person, die einen Unfall erlitten hat, verlangt, dass man sich erst ihrer annimmt, noch bevor sie entschädigt wird. Und jede finanzielle Entschädigung erhält ihren vollen Wert, wenn man die Person aufnimmt und versteht.

Es geht dann darum, die dramatische Situation eines Menschen, der aufgrund eines Unfalls seine Arbeit aufgeben muss, gemeinsam mit der Familie zu meistern und ihn ganzheitlich zu betreuen. Dies erfordert auch Kreativität, damit sich die Person so begleitet und unterstützt fühlt, wie sie ist, und nicht mit falschem Mitleid. Es ist kein Almosen, es ist ein Akt der Gerechtigkeit.

Liebe Freunde, lassen wir uns von den Wunden unserer Schwestern und Brüder herausfordern – diese Wunden fordern uns heraus, lassen wir uns herausfordern – und gehen wir Wege der Geschwisterlichkeit. Unsere Versicherung ist in erster Linie die Solidarität und die Nächstenliebe. Sie entspricht nicht nur den Kriterien der juristischen Gerechtigkeit, sondern ist die Sorge um die Menschlichkeit in ihren verschiedenen Dimensionen. Wenn dies nicht gelingt, wird aus dem »rette sich, wer kann« schnell ein »jeder gegen jeden« (vgl. Fratelli tutti, 33). Gleichgültigkeit ist ein Zeichen für eine hoffnungslose und mittelmäßige Gesellschaft. Ich sage hoffnungslos in dem Sinne, dass sie keine Hoffnung hat.

Ich vertraue euch dem Schutz des heiligen Josef an, dem Schutzpatron aller Arbeiter. Möge der Herr euch segnen und die Gottesmutter euch beschützen. Und bitte betet für mich. Danke!

(Orig. ital. in O.R. 9.3.2023)