Liebe Brüder und Schwestern,
guten Tag!
Ich freue mich, euch zum Abschluss eurer Tagung über die Aktualität der alfonsianischen Morallehre zu empfangen und ebenso im Vorfeld des 75. Jahrestags der Gründung eures Päpstlichen Instituts, den ihr am 9. Februar kommenden Jahres begehen werdet. Ich danke dem Direktor für seine Worte und grüße den Generalmoderator, den Rektor der Lateranuniversität, die Professoren und Dozenten, die Beamten und Studenten; ich bin euch dankbar für den Dienst der Ausbildung, den ihr der Kirche im Bereich der Moraltheologie anbietet. Mein Gruß gilt auch den zahlreichen emeritierten Professoren, die in der Alfonsiana und in der Kirche durch ihre Arbeit prägende Spuren hinterlassen haben, sowie den vielen ehemaligen Studenten, die bei euch ihre Ausbildung empfangen haben und jetzt noch ihren Beitrag im Volk Gottes leis-ten. Danke für diesen kostbaren Dienst der Ausbildung!
Formung des Gewissens
Das Zweite Vatikanische Konzil bekräftigt, dass die Moraltheologie, gestützt auf die Heilige Schrift, den Gläubigen helfen muss, die Größe ihrer Berufung zu verstehen, die Liebe Christi in die Welt zu tragen (vgl. Dekret Optatam totius, 16). Jeder moraltheologische Ansatz hat letztlich dieses Fundament: die Liebe Gottes ist unser Orientierungspunkt, Richtungsweiser für unsere persönlichen Entscheidungen und für unseren Lebensweg. Folglich sind Moraltheologen, Missionare und Beichtväter aufgerufen, in eine lebendige Beziehung zum Volk Gottes einzutreten, indem sie sich besonders des Schreis der Letzten annehmen, um deren reale Schwierigkeiten zu verstehen, um das Leben aus ihrem Blickwinkel zu sehen und um ihnen Antworten anzubieten, die das Licht der ewigen Liebe des Vaters widerspiegeln.1 In der Treue zur alfonsianischen Tradition bemüht ihr euch, Leitlinien für ein christliches Leben anzubieten, die unter Achtung der Anforderungen der theologischen Reflexion doch keine kalte Moral ist, keine am Schreibtisch entworfene Moral, ich würde sagen, keine »kasuistische« Moral. Das sage ich aus Erfahrung, denn leider habe ich zu jener Zeit eine »kasuistische« Moral studiert. Stellt euch vor, dass es uns verboten wurde, das erste Buch von Häring, Das Gesetz Christi, zu lesen: »Das ist häretisch, das darf man nicht lesen!« Und ich habe studiert nach jener Moral: »Todsünde, wenn zwei Kerzen auf dem Altar fehlen, lässliche Sünde, wenn nur eine fehlt.« Und die gesamte Kasuistik ist so, das sage ich in aller Demut. Gott sei Dank ist das Vergangenheit, das war eine kalte Schreibtisch-
Moral. Von euch wird ein Ansatz verlangt, der einer von barmherziger Liebe erfüllten pastoralen Entscheidung entspricht und darauf ausgerichtet ist, zu verstehen, zu verzeihen, zu begleiten und vor allem zu integrieren (vgl. Nachsynodales Apostolisches Schreiben Amoris laetitia, 312). Kirchlich zu sein setzt dies voraus: integrieren.
In Übereinstimmung mit dem Werk des heiligen Alfons2 habt ihr eure Tagung mit der Reflexion über das Gewissen und die Dynamik seiner Formung begonnen. Das ist ein wichtiges Thema. Denn im komplexen und rasch vonstatten gehenden Epochenwandel, den wir erleben, werden nur Menschen mit einem reifen Gewissen in der Lage sein, in der Gesellschaft einen gesunden, evangeliumsgemäßen Protagonismus im Dienst an den Brüdern und Schwestern auszuüben.
Im Übrigen ist das Gewissen vor allem der Ort, wo jeder Mensch »allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem seinem Innersten zu hören ist« (Pastoralkonstitution Gaudium et spes, 16). Das Wort, das es spricht, ist nicht sein eigenes, sondern kommt vom Wort des Schöpfers selbst, der Fleisch geworden ist, um bei den Menschen zu sein.3
Und in seiner Schule, in der Schule des fleischgewordenen Wortes, lernt jeder mit den anderen im Dialog zu sein, indem er die Sehnsucht nach einer universalen Geschwis-terlichkeit pflegt, die in der Anerkennung der unantastbaren Würde jedes Menschen wurzelt (vgl. Enzyklika Fratelli tutti, 8; Gaudium et spes, 16).
Ihr habt auch einige Fragen der Bioethik behandelt. Ich lade euch ein, in diesem komplexen Bereich die Geduld des Zuhörens und des Austauschs zu pflegen, wie es der heilige Alfons für Konfliktsituationen empfiehlt. Keine Angst haben, zuzuhören. Das wird von grundlegender Notwendigkeit sein für die Suche nach gemeinsamen Lösungen, die die Achtung der Heiligkeit jedes Lebens – in jeder Situation – anerkennen und gewährleis-ten. Eine entscheidende Bereicherung wird dann dieses Hören aus der Anwendung von Methoden interdisziplinärer Forschung erhalten (vgl. Apostolische Konstitution Veritatis gaudium, 4c), die es erlauben, sich neuen Herausforderungen im Licht des Evangeliums und der menschlichen Erfahrung (vgl. Gaudium et spes, 46) mit mehr Kompetenz und kritischem Unterscheidungsvermögen zu stellen. Nur so wird man im Bereich der Bioethik eine vernünftige und solide Argumentation erarbeiten können, die im Glauben verwurzelt ist, einem reifen, verantwortlichen Gewissen entspricht und die sozial-
politische Diskussion inspirieren kann. Extremis-tische Dynamiken der Polarisierung sind zu vermeiden; sie sind eher typisch für die Debatte in den Medien als für eine gesunde, fruchtbare wissenschaftliche und theologische Forschung: Wendet vielmehr den Grundsatz des »Mittelweges« an, auf den der heilige Alfons stets hingewiesen hat, der aber kein diplomatischer Ausgleich ist. Nein. Der Mittelweg ist kreativ, er entsteht aus der Kreativität und ist schöpferisch. Nur wer studiert hat und sich darin geübt hat, kann das verstehen. Es handelt sich nicht um ein Gleichgewicht? Nein, das ist der Mittelweg nicht.
Der bioethische Ansatz muss die tatsächlichen Dramen der Menschen berücksichtigen, die angesichts der moralischen Dilemmata des Lebens häufig verwirrt sind.4 Daher fordere ich euch auf, die Ergebnisse eurer Arbeit zugänglich zu machen, indem ihr die »Sprache des Volkes« verwendet und realisierbare, humanisierende Vorschläge für ein moralisches Leben erarbeitet. »Die Sprache des Volkes«. Bitte, vergesst das heilige gläubige Gottesvolk nicht! Aber nicht auf der Ebene des Denkens, sondern ausgehend von deinen Wurzeln, die im heiligen Volk Gottes sind. Vergiss nicht, dass du aus der Herde genommen bist, du gehörst zu ihnen. Vergiss nicht die Atmosphäre des Volkes, das Denken des Volkes, das Empfinden des Volkes. Das ist kein Kommunismus, kein Sozialismus, nein! Das ist das heilige gläubige Gottesvolk, das »in credendo« unfehlbar ist: Vergesst das nicht, das sagt das Erste Vatikanum und dann das Zweite Vatikanum. Um immer auf der Seite der konkreten Menschen zu sein, sollt ihr die Mittel der ethischen Reflexion nutzen, um solide Dämme zu errichten, die sie gegen die allgemein verbreitete Mentalität des Effizientismus und der Aussonderung verteidigen (vgl. Enzyklika Laudato si’, 130-136).
Der dritte Teil eurer Tagung hat Fragen der Sozialmoral behandelt. Auch in diesem Bereich ist heute eine solide Reflexion notwendig. Die Umweltkrise, die ökologische Transition, der Krieg; ein Finanzsystem, das das Leben der Menschen so beeinflussen kann, dass es neue Sklaven hervorruft; die Herausforderung, Geschwisterlichkeit zwischen Menschen und Völkern aufzubauen: diese Themen müssen uns zu Forschung und Dialog anregen.
»Der Herr ist das Ziel der menschlichen Geschichte« (Gaudium et spes, 45), und das von Christus erneuerte Menschengeschlecht ist dazu bestimmt, als Familie Gottes zu wachsen (vgl. ebd., 40). Das ist das Ziel unserer Arbeit! Bemühen wir uns also, mit Demut und Weisheit in das komplexe Gefüge der Gesellschaft, in der wir leben, einzutauchen, um deren Dynamiken gut zu kennen und den Männern und Frauen unserer Zeit angemessene Wege der Reifung in dieser Richtung aufzuzeigen (vgl. ebd., 26). Und ich spreche von einem Weg, angemessenen Wegen, nicht von mathematischen Lösungen. Angemessene Wege. Die Probleme werden gelöst, indem man kirchlich als Volk Gottes unterwegs ist. Und indem man mit den Menschen geht, in der moralischen Situation, in der sie sich befinden. Mit ihnen gehen und einen Weg suchen, um ihre Probleme zu lösen, das heißt gehen, und nicht sitzenbleiben wie akademische Lehrmeister, die mit erhobenem Zeigefinger verurteilen, ohne sich zu sorgen. In den letzten Jahren haben wir gravierende moralische Fragen wie Migration und Pädophilie behandelt; heute sehen wir, dass es dringend notwendig ist, weitere Themen hinzuzufügen, darunter der in den Händen weniger konzentrierte Profit und die Teilung globaler Macht. Nehmen wir auch diese Herausforderungen vertrauensvoll an, bereit »Rede und Antwort zu stehen über die Hoffnung, die uns erfüllt« (vgl. 1 Petr 3,14).
Konkrete Antworten
Abschließend ist zu sagen, dass die Kirche sich von der Päpstlichen Accademia Alfonsiana erwartet, dass sie wissenschaftliche Genauigkeit mit der Nähe zum heiligen gläubigen Gottesvolk zu vereinen weiß, dass sie konkrete Antworten auf reale Probleme zu geben vermag, dass sie begleitet und humane moralische Vorschläge formuliert, aufmerksam auf die rettende Wahrheit und das Wohl der Menschen achtend. Der heilige Alfons war ein Schöpfer moralischen Lebens und hat Vorschläge gemacht… »Aber er ist ein großer Theologe.« Ja, aber er war auch fähig – in diesen Tagen habe ich die Lieder gehört, die ihr mir an Weihnachten geschenkt habt –, er war fähig, auch diese Dinge zu schreiben! Wie ist das zu erklären? Das ist der Weg, das ist die Schönheit der Seele, das Feingefühl, das ist die Zugehörigkeit zum Volk Gottes, die nicht verhandelbar ist, niemals. Der Heilige Geist möge euch helfen, Gewissensbildner zu sein, Meister jener Hoffnung, die das Herz öffnet und zu Gott führt. Ich segne euch von Herzen, ich danke euch vielmals für eure Arbeit und ich bitte euch, für mich zu beten. Danke.
Fußnoten
1 Vgl. Botschaft zum 150. Jahrestag der Erklärung des hl. Alfonso Maria de’ Liguori zum Kirchenlehrer, 23. März 2021.
2 Vgl. insbes. Alfonso Maria de’ Liguori, Trattato sulla coscienza.
3 Vgl. B. Häring, Frei in Christus. Moraltheologie für die Praxis des christlichen Lebens, I, 1981.
4 Vgl. Ansprache an Professoren und Studenten des Alfonsianum, 9. Februar 2019.
(Orig. ital. in O.R. 23.3.2023)