Liebe Brüder und Schwestern,
guten Tag und herzlich willkommen!
Ich danke P. Tullio Locatelli von Herzen für die Worte, die er an mich gerichtet hat, ich begrüße die anwesenden Bischöfe sowie die Mutter Generaloberin, und ich heiße euch alle willkommen.
Wir befinden uns im 150. Gründungsjahr eurer Kongregation. Denn am 19. März 1873 gründete der heilige Leonardo Murialdo die »Pia Società Torinese di San Giuseppe« für die Fürsorge und Bildung vor allem der jungen Arbeiter. Es stimmt mich sehr nachdenklich: diese Zeit, dort, sozusagen im »Brennpunkt«, im Zentrum der Freimaurerei, in Turin, in Piemont, so viele Heilige, so viele! Und wir müssen untersuchen warum, warum in jener Zeit. Und gerade im Zentrum der Freimaurerei und der »Priesterfresser«: die Heiligen, und zwar viele, nicht einer, viele. Er hat also in Turin gegründet, in diesem harten Umfeld, das von viel moralischer, kultureller und wirtschaftlicher Armut geprägt war, der gegenüber er nicht gleichgültig geblieben ist: Er hat die Herausforderung angenommen und sich an die Arbeit gemacht, inmitten der Freimaurerei.
So ist eine Wirklichkeit entstanden, die im Laufe von anderthalb Jahrhunderten mit Menschen, Werken, unterschiedlichen kulturellen Erfahrungen und vor allem mit viel Liebe bereichert wurde. Eine Wirklichkeit, die sich heute zusammensetzt aus etwa 500 Ordensmännern – es sind wenige, ihr müsst etwas wachsen – und außerdem den Ordensschwestern, den »Suore Muraldine di San
Giuseppe« – denen wir ebenfalls unsere Segenswünsche zum Ausdruck bringen, im
70. Jahr ihrer Gründung –, dem Säkularinstitut und zahlreichen Laien, alle vereint in einer einzigen Familie. So sehr ist das Samenkorn gewachsen, das Gott durch die großherzigen Hände des heiligen Leonardo Murialdo in die Kirche gelegt hat!
Im vergangenen Jahr, anlässlich der Eröffnung dieser Jubiläumsfeierlichkeiten, habe ich eurem Generaloberen geschrieben und euch gewünscht, zu wachsen in der »Kunst, die Bedürfnisse der Zeiten zu erfassen und mit der Kreativität des Heiligen Geistes für sie Sorge zu tragen«. Man kann den Heiligen Geist nicht kontrollieren, er ist es, der uns voranbringt. Es bedarf nur der Entscheidungsfindung und der Treue. Ich habe euch ermahnt, besonders Sorge zu tragen für die »jungen Menschen, die heute mehr denn je glaubwürdige Zeugen brauchen«. Und ich habe euch ermutigt, nie aufzuhören zu träumen, nach dem Vorbild des heiligen Josef, eures Schutzpatrons, und des heiligen Leonardo, im Geist echter Väterlichkeit.1
Wenn ich heute diese Einladung an euch erneuere, möchte ich drei Aspekte davon hervorheben, die mir wichtig erscheinen für euer Leben und für euer Apostolat. Es sind folgende: der Primat der Liebe Gottes, die Aufmerksamkeit gegenüber der sich verändernden Welt und die väterliche Sanftmut der Liebe.
Die Erfahrung der Liebe Gottes hat das Leben des heiligen Leonardo zutiefst geprägt. Er spürte sie in sich, stark, konkret, unwiderstehlich, wie er selbst bezeugte, indem er schrieb: »Gott liebt mich. Welche Freude! […] Er vergisst mich nie, er folgt mir, und er leitet mich immer!« Und er lud die Geschwis-ter ein, sich vor allem von Gott lieben zu lassen. Sich von Gott lieben lassen: Das war das Geheimnis seines Lebens und seines Apostolats. Nicht nur lieben, nein, sich lieben lassen. Jene Passivität – das betone ich – jene Passivität des geweihten Lebens, das in der Stille, im Gebet, in der Liebe und im Dienen wächst. Und die Einladung gilt auch für uns: Lassen wir uns von Gott lieben, um glaubwürdige Zeugen seiner Liebe zu sein; lassen wir unsere Gefühle, unsere Gedanken und unser Handeln immer mehr von seiner Liebe leiten. Nicht die Regeln, nicht die Vorschriften.
Eine Anekdote: Als ein General der Gesellschaft Jesu, P. Ledochowski, die ganze Spiritualität der Jesuiten in einem Buch zusammenfassen wollte, um alles zu »regeln« – alles wurde geregelt, es gab die Regel für den Koch, alles geregelt, um der Gesellschaft Jesu das Ideal vor Augen zu stellen –, sandte er das erste Exemplar an den Abt der Benediktiner, und der antwortete ihm: »Lieber Pater General, mit diesem Dokument haben Sie die Gesellschaft Jesu getötet!« Wenn man alles regeln will, sperrt man den Heiligen Geist sozusagen in einen »Käfig«. Und es gibt viele Menschen – Ordensleute, geweihte Personen, Priester und Bischöfe –, die den Heiligen Geist in einen Käfig gesperrt haben. Bitte, lasst Freiheit zu, lasst Kreativität zu. Man muss immer unterwegs sein unter der Führung des Heiligen Geistes.
Der heilige Leonardo Murialdo war gewiss ein zutiefst mystischer Mensch. Gerade das hat ihn jedoch auch sehr aufmerksam und empfänglich gemacht für die Nöte der Männer und Frauen seiner Zeit (vgl. 2 Kor 5,14), deren scharfsinniger Beobachter und mutiger Prophet er war. Er hat erkannt, dass um ihn herum neue schwere und oft verborgene Probleme existierten, und er hat nicht gezögert, sich ihrer anzunehmen. Insbesondere hat er die jungen Arbeiter gelehrt, ihre Zukunft zu planen, ihrer Stimme Gehör zu verschaffen und sich gegenseitig zu helfen. Er hat sich in einer von Wirtschafts- und Machtinteressen beherrschten Welt zum Sprachrohr des prophetischen Wortes der Kirche gemacht, indem er den Ausgegrenzten eine Stimme gegeben hat. Außerdem hat er es verstanden, den Wert der Laien im Leben und im Apostolat des Gottesvolkes zu begreifen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ein Jahrhundert vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil, sagte er: »Der Laie, aus jeder sozialen Schicht, kann […] ein Apostel sein, nicht weniger als der Priester und in einigen Bereichen mehr als der Priester«.2 Für jene Zeit klingt das wie Protestantismus. Er war mutig! Er war ein intelligenter, offener Mann Gottes! Ich lade euch ein, seine Leidenschaft und seinen Mut zu pflegen: zusammen, Laien, Ordensmänner und Ordensfrauen, auf gemeinsamen Wegen des Gebets, der Entscheidungsfindung und der Arbeit, um Erbauer von Gerechtigkeit und Gemeinschaft zu sein.
In diesem Zusammenhang möchte ich einen letzten wichtigen Wert eures Charismas erwähnen: die väterliche Sanftmut der Liebe. Mögt ihr in der Lage sein, sie unter euch zu leben, im Geiste der Geschwisterlichkeit, und sie gegenüber allen zu üben. Sein wie Maria, unsere Mutter: zugleich stark im Zeugnis und sanft in der Liebe. Der heilige Leonardo sagte: »Liebe bedeutet, das Schöne eines jeden Menschen zu betrachten und darüber zu sprechen, von Herzen zu vergeben, im Gesicht Ruhe auszustrahlen, Liebenswürdigkeit, Sanftmut zu besitzen.« Und um das zu tun, muss man das Kreuz tragen können. Man braucht Gebet, man braucht Opfer. Und außerdem: »So wie man ohne Glauben Gott nicht gefällt, so gefällt man ohne Sanftmut dem Nächsten nicht.« Es sind seine Worte: ein einfaches und machtvolles Programm des Lebens und des Apostolats.
Ich möchte auch Zeugnis geben von euren Studenten. Als ich Professor in San Miguel war, studierten sie dort und hatten einen sehr praktisch veranlagten und sehr tüchtigen Oberen. Wir sagten, dass jener Josefiner, der Obere, der »Nobelpreisträger« in Schlauheit sei! Denn er war ein Mann Gottes, aber er hattes es faustdick hinter den Ohren! Er war taktisch klug! Ich erinnere mich gut, eine schöne Gruppe von Studenten.
Abschließend möchte ich die Einladung von Leonardo Murialdo zur Heiligkeit in Erinnerung rufen: »Werdet Heilige« – sagte er – »und werdet es bald… Denn der Heilige hat Weitblick, er macht das Leben menschlicher, vermittelt Hoffnung und Vertrauen und versteht es, seine Erfahrung, dass Gott Liebe ist, mit anderen zu teilen.«
Liebe Brüder, liebe Schwestern, ich danke euch für das, was ihr seid, und für das, was ihr in der Kirche tut, auf den Spuren des heiligen Leonardo und inspiriert vom heiligen Josef. Ich segne euch alle von Herzen. Und bitte vergesst nicht, für mich zu beten. Danke!
Fußnoten
1 Vgl. Schreiben an den Generaloberen der Kongregation vom heiligen Josef zum 150. Gründungstag, 2. März 2022.
2 Hl. Leonardo Murialdo, Discorso ad una conferenza di San Vincenzo, Paris 1865.
(Orig. ital. in O.R. 17.3.2023)